Immer wieder Amok

Es sind jedes Mal die glei­chen Reak­tio­nen, wenn es wieder einen Amok­lauf gab, so wie kürz­lich in Winnen­den. Natür­lich sind alle “entsetzt” und “betrof­fen”, vor allem, wenn sie vor einer Kamera stehen. Im Fern­se­hen wird das Foto mit dem Schild “Warum?” gezeigt, das darf niemals fehlen.

Dann kommen die Forde­run­gen, Verbot von Waffen und bestimm­ten Compu­ter­spie­len. Und schließ­lich landet das Bild des Täters auf den Titel­sei­ten und es wird nach den Schul­di­gen gefragt: Wer hat versagt? Die Eltern? Lehrer? Allein der Jugend­li­che? Es ist die Zeit der Psycho­lo­gen, der Erklä­rer. Fast immer dreht sich alles um den Täter. Wie konnte er zum Mörder werden, wie war sein Eltern­haus, welche unbe­merkte Anzei­chen gab es im Vorhin­ein, wieso konnte er an Waffen kommen, usw. Der Amok­läu­fer steht im Mittel­punkt des Inter­es­ses, er wird als Ursa­che des Gesche­hens betrach­tet. Auf den ersten Blick ist er das natür­lich auch, aber niemand wird ja ohne Grund mal eben zum Mörder. Dabei sollte es aber nicht um den einzel­nen Menschen. Die Amok­läu­fer von Erfurt, Emstet­ten oder Winnen­den haben persön­lich viel­leicht ganz unter­schied­li­che Gründe für ihre Taten gehabt, was jeweils ausschlag­ge­bend war, wird man kaum noch erfah­ren. Es wäre zur künf­ti­gen Vermei­dung solcher Taten aber auch egal, denn man würde höchs­tens beim Einsatz von einem persön­li­chen Psycho­lo­gen pro Schü­ler eingrei­fen können. Doch selbst dies wäre nur ein Herum­dok­torn am poten­zi­el­len Täter. Die Gründe für solche Gescheh­nisse würde man dadurch nicht besei­ti­gen.

In all der Ratlo­sig­keit ist es inter­es­sant, einfach mal von etwas weiter weg auf diese Taten zu schauen. Seit wann gibt es denn solche Amok­läufe und wo kommen sie noch vor? Es geht nämlich nicht nur um Schu­len oder Univer­si­tä­ten, sondern auch um ähnli­che Aktio­nen in Betrie­ben und in Fami­lien, auch wenn diese im Einzel­fall weni­ger Tote produ­zie­ren und deshalb weni­ger spek­ta­ku­lär sind. Allen gemein ist, dass die Opfer fast immer aus dem Umfeld des Täters stam­men, und er sich meis­tens auch selber tötete. In seinem Buch “Going Postal” beleuch­tet der Autor Mark Ames die Histo­rie von Amok­läu­fen in den USA, die während der Reagen-Regie­rung began­nen. Die dama­lige Zeit, Anfang der 1980er Jahre, verän­derte die Gesell­schaft und die Lebens­be­din­gun­gen der Menschen grund­le­gend, die Kälte, die Konkur­renz und der Druck auf den Einzel­nen stie­gen enorm an. Diese Entwick­lung gab es aber nicht nur dort, sondern auch hier in Europa. Die neue Wirt­schafts­krise verschärft die Zustände, die Angst vor dem Absturz lässt viele verzwei­feln und manche irra­tio­nal ausras­ten.

Die Schuss­waf­fen­mas­sa­ker in Amerika began­nen ab 1983 kurz hinter­ein­an­der in vier zuvor priva­ti­sier­ten Post­äm­tern, dann in Fabri­ken, Büros, Univer­si­tä­ten, schließ­lich auch in Schu­len. Es waren und sind bis heute immer genau die Orte Schau­platz von Massa­kern, in denen Menschen unter hohem Leis­tungs­druck stehen. Und in denen sie dem Druck nicht stand­hal­ten, weil sie isoliert sind, oft auch gemobbt werden. In fast allen Fällen gehö­ren die Täter keiner Gruppe von Kolle­gen oder Mitschü­lern an, aller­dings sind die meis­ten auch keine ausge­spro­che­nen Sonder­linge.

Es sind nicht die Täter, nach denen man fragen muss, sondern die Bedin­gun­gen. Oder weiter­ge­hend: Die Gesell­schaft, die eine Situa­tion tole­riert, in der normale Menschen zu Mördern werden. Es ist eine Gesell­schaft, in der Einzelne verzwei­feln, weil sie unge­recht behan­delt werden, ihre Leis­tung nicht bemerkt oder aner­kannt wird, Mobbing ist darin ein Normal­zu­stand. Also sind die Amok­läu­fer auch keine “Irren”, die durch Compu­ter­spiele für solche Taten abge­stumpft oder gar animiert wären. Im Gegen­teil: Bei den meis­ten Tätern handelt es sich um Menschen, die mein Mitleid erre­gen, weil sie irgend­wann den Druck nicht mehr ertra­gen und einfach explo­die­ren. Das entschul­digt natür­lich nicht ihre Taten, aber es macht klar, dass es viele poten­zi­elle Amok­läu­fer gibt. Nämlich die ganz norma­len Schü­ler, Ange­stell­ten oder Fami­li­en­vä­ter.

Sarkas­tisch gese­hen könnte man diese Morde mit anschlie­ßen­der Selbst­tö­tung auch als Rebel­lion sehen. Mark Ames tut das in seinem Buch, er bezeich­net die Täter gar als poli­tisch, wenn auch nicht bewusst. Als Vergleich nennt er die Skla­ven­auf­stände, die bis vor 200 Jahren in den USA immer wieder vorka­men. Jahr­hun­derte lang war die Skla­ve­rei normal. Wenn die Schwar­zen sich aber wehr­ten, die Plan­ta­gen nieder­brann­ten oder ein Fami­li­en­mit­glied des Farmers töte­ten, verur­teilte man dies als nieder­träch­tig. Man wäre damals nie auf die Idee gekom­men, eine solche Aktion als poli­ti­schen Anschlag zu sehen, heute dage­gen ist dies der erste Gedanke.

Die Rebel­lion eines Unter­drück­ten muss nicht mal von ihm selbst bewusst als poli­ti­sche Aktion begrif­fen werden. Wer heute an seiner Schule Lehrer und Mitschü­ler erschießt, begehrt damit gegen dieje­ni­gen auf, die für ihn Teil der Demü­ti­gung sind. Immer wieder taucht das in den Botschaf­ten von Amok­läu­fern auf, der Hass auf die Mitschü­ler, die Schule, das System.
Dieses “System” ist es, das der Täter tref­fen will, gleich­zei­tig ist es aber nicht greif­bar. Deshalb werden die Menschen umge­bracht, die aus seiner Sicht dazu­ge­hö­ren. Dabei ist das nur die Spitze, denn die meis­ten laufen ja nicht Amok. Aber unbe­kannt ist den meis­ten diese Hilf­lo­sig­keit nicht, sie kommt in vielen Situa­tio­nen des Lebens vor. Ob es der Arbeits­lose ist, der im Jobcen­ter um ein paar Euro mehr betteln muss, die Oma, die im Alten­heim von den Pfle­gern ange­brüllt wird, oder der kleine Ange­stellte, der für die Fehler des Chefs verant­wort­lich gemacht wird. Sie sehen sich als Opfer eines Systems, das gegen sie ist und das sie nur in Form der Perso­nen grei­fen können. Der Kino­film “Falling down” hat eindrucks­voll gezeigt, wie ein durch­schnitt­li­cher Bürger zum Amok­läu­fer werden kann, wenn ihm die Schläge des Alltags zuviel werden. Die Wut der Menschen äußert sich immer öfter in Droh­brie­fen oder E‑Mails an Behör­den und Firmen, vor allem wenn diese mit Miss­stän­den in Verbin­dung gebracht werden. Seit Beginn der Finanz­krise in den USA werden zuneh­mend auch einfa­che Ange­stellte bestimm­ter Banken und Versi­che­rungs­kon­zerne bedroht und ange­grif­fen. Der Frust macht sich Luft in Anru­fen bei Live-Sendun­gen im Radio oder Fern­se­hen. Aber vielen reicht das nicht mehr, sie schla­gen auch zu.

Dass Massa­ker öfters in Schu­len passie­ren, hat natür­lich auch damit zu tun, dass Jugend­li­che beson­ders unsi­cher sind, was ihr Leben betrifft. Die Gedan­ken, die Gefühle und die Hormone spie­len verrückt, man denkt, sein Leben sei eh schon gelau­fen. Trotz­dem ist ein Massa­ker natür­lich ein riesi­ger Schritt, die Verzweif­lung muss unge­heuer groß sein, bis aus dem Gedan­ken Reali­tät wird. Aber es ist immer wieder möglich, denn die Täter sind nicht “verrückt”. Das haben ganze Heer­scha­ren von Psycho­lo­gen, Sozio­lo­gen und poli­zei­li­chen Ermitt­lern heraus­ge­kriegt: Es gibt kein Täter­pro­fil, jeder kann es sein, der ausge­grenzt wird, der sich als Verlie­rer fühlt. Solange die Gesell­schaft nicht in der Lage ist, jeden mitzu­neh­men und zu akzep­tie­ren, werden wir noch viele Amok­läufe erle­ben. Dage­gen helfen weder schär­fe­ren Gesetze, noch das Verbot von soge­nann­ten Killer­spie­len.

(Dieser Text erschien hier erst­mals 2009)

Foto: Duhon

Wiki­me­dia Commons, CC BY 3.0

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