Gut und Schloss Kossenblatt

65 km. Ein Schloss im Osten geht mit der Zeit

Uwe hatte bei einer Ruder-Wanderfahrt Kossenblatt entdeckt und wollte mit mir da hin. So einen abgelegenen, vergessenen Ort entdeckt man nur von der Spree aus. Über die Straße kommt hier niemand zufällig vorbei.

Im neunzehnten Jahrhundert wollte Theodor Fontane dort auch hin, und schon seine Beschreibung der Anreise strahlt die Trostlosigkeit aus, die Rainald Grebe in seinem bösen Brandenburg-Lied besingt. Immerhin stand damals ein misstrauischer Bauernjunge an Fontanes Weg. Wir aber sahen kilometerweit nicht einen einzigen Menschen. „In Brandenburg soll es wieder Wölfe geben.“

Wir hatten uns eingelesen und waren neugierig. Fontane soll hier ausführlich selbst zu Wort kommen, denn ich könnte es nicht besser formulieren. Seinen Text findet man in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg, II. Das Oderland, Auf dem Hohen-Barnim.

Im Jahre 1699 kaufte Hans Albrecht von Barfus, wie bereits in dem Kapitel Prädikow erzählt, die Herrschaft Kossenblatt und zahlte dafür die für die damalige Zeit ziemlich beträchtliche Summe von 32000 Talern und hundert Dukaten Schlüsselgeld. Das Oppensche Herrenhaus, das er vorfand, genügte ihm nicht und er ging das Jahr darauf (1700) an die Aufführung eines Schlosses. Er starb aber drüber hin und hat die Räume desselben nie bewohnt.

Erst seine Witwe, Eleonore geborene Gräfin von Dönhoff, führte den Schloßbau glücklich hinaus. Sie war eine stolze Frau und es geht die Sage, daß sie bemüht gewesen sei, ihrem einzigen überlebenden Sohne sein Erbe nach Möglichkeit zu schädigen und zu schmälern. Sie ließ zu diesem Behuf einen holländischen Baumeister kommen, befahl ihm, unterhalb der Keller des Schlosses einen zweiten Keller zu graben und zu wölben, und tat dann alles hinein, was sie an Gold und Kostbarkeiten besaß. Dann gab sie Befehl, die Gruft in ihrer Gegenwart zu schließen, und nahm dem Baumeister einen Eid ab, die Stelle niemandem zu verraten. Voll Zweifel aber, ob er den Eid auch halten werde, zog sie das Sichere vor und ließ ihn auf der Rückreise nach Holland aus dem Wege räumen. Der »Schatz«, so heißt es weiter, war nun glücklich beiseite gebracht, indessen die Bilder und Möbel waren noch da, die ganze Einrichtung eines reichen Schlosses. Auch das mußte fort. Als sie fühlte, daß es mit ihr zum letzten gehe, befahl sie den gesamten Hausrat auf den Schloßhof zu tragen, und vergoldete Stühle und Tische, Spiegel und Konsolen, Divans und Kommoden wurden nun zu einer Pyramide aufgetürmt. In einem Rollstuhle ließ sie sich dann an die Tür des Gartensaales fahren, gab Order, zwei Fackeln anzulegen, und starrte lang und befriedigt in die hoch aufsteigende Flamme. Sie fühlte das Feuer mehr, als daß sie es sah, denn die helle Mittagssonne stand über dem Schauspiel. Als alles niedergebrannt war, saß sie tot in ihrem Rollstuhl.

Das war 1728 und ihr einziger Sohn übernahm Kossenblatt. Aber nur acht Jahre blieb es in seinen Händen. 1737 erstand es König Friedrich Wilhelm I. und schlug es zu seiner Herrschaft Königs-Wusterhausen. Über die Umstände, die diese Veräußerung begleiteten, spreche ich weiterhin.

In Kossenblatt laufen also wie in Moyland die verschiedensten Fäden zusammen. Ohne den Fimmel des Sohnes des Großen Kurfürsten, sich unbedingt in Königsberg, nun in Russland gelegen, zum König Friedrich I. krönen zu wollen, und ohne die Türken vor Wien gäbe es das Schloss nämlich nicht. Dieser Friedrich I. in spe musste ja den Kaiser in Wien für seinen Plan gewinnen, und weil dessen Feldherr Prinz Eugen die Türken nicht alleine vertreiben konnte, schickte ihm Friedrich viel Geld und ein Brandenburgisches Regiment unter Leitung von General Barfus zu Hilfe. Barfus führte unter Prinz Eugen die entscheidende Schlacht. So kamen die Türken erst Jahrhunderte später massenhaft nach Europa, nun mit ordentlichen Papieren und nicht, um alles auszuplündern.

Als Friedrich dann endlich König in Preußen und ein Jahr später auch noch Prinz von Oranien war, fühlte sich General Barfus nicht mehr wohl am Berliner Hof mit seinem Zeremoniell und seinen Intrigen und kaufte sich von seinem im Türkenkrieg verdienten Geld dieses Gut in Kossenblatt und vergoldete Möbel aus Frankreich. Den holländischen Baumeister für sein geplantes Schloss hatte er wohl am Berliner Hof kennengelernt. Seine Frau aber kam aus derselben Familie wie später Marion Gräfin Dönhoff, die in Ostpreußen nach dem Zweiten Weltkrieg alles verloren hatte und in sechs Wochen auf ihrem Pferd nach Hamburg ritt, um dort Die Zeit zu gründen.

Das neue Schloss lag direkt an der Grenze zu Sachsen, wovon noch heute der Straßenname An der Zollbrücke zeugt.

Von all diesen internationalen Verbindungen sieht man jedoch heute nichts, wenn man den menschenleeren Ort besucht. Das liegt am Geschmack König Friedrich Wilhelms I., des Sohnes König Friedrichs I., wie wir bei Fontane weiter gelesen hatten. Aber Fontane gibt vorher einen eindringlicheren Einblick in die deutsche Romantik mit ihren efeuüberwucherten Ruinen, als es die Gemälde von Caspar David Friedrich je könnten:

Drei Generationen waren seit jenem Tage vergangen, da, während der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts, trat wieder ein Barfus in das alte Barfusschloß ein. Aber freilich nur als Gast. War es romantischer Herzenszug oder Pietät gegen die Stätte, wo sein Ahnherr gelebt und einen Denkstein seines Ruhms und seines Reichtums hinterlassen hatte, gleichviel ein Enkel des Feldmarschalls hatte das Ansuchen an König Friedrich Wilhelm IV. gestellt, einen Sommer lang in Schloß Kossenblatt residieren zu dürfen, und diesem Ansuchen war nachgegeben worden.

Ein Wagen hielt vor der Steintreppe, die rostigen Angeln gaben halb widerwillig nach und der nachgeborene Barfus, selber ein General, stand als Fremdling in dem wüsten und weitschichtigen Schloß seiner Ahnen. Niemand war mit ihm als seine Frau und deren Dienerin. Er bezog ein paar Eckzimmer und das Nötigste an Hausrat wurde herbeigeschafft. Aber es war nicht möglich, den öden Ort in einen wohnlichen zu verwandeln. Der Regen fuhr durch die morsch gewordenen Fenster und selbst das heitere Sonnenlicht war eine Pein, denn ungemildert fiel es durch die großen Fenster und sprang heiß und blendend von den kahlen weißen Wänden zurück. Zu dem Bedrückenden der Öde gesellte sich der Mangel an allem, was das Leben an Unterhalt erfordert. Die Stadt war weit und das Dorf war arm. Die Frauen litten schwer. Nur das romantische Herz des Generals trug alles, was ihm Schloß Kossenblatt an Entbehrungen auferlegte, mit Freudigkeit. Ja, es hob ihn mehr, als daß es ihn niederdrückte. Er war nicht nach Schloß Kossenblatt gekommen, um zu bankettieren; es lag ihm nicht an lustiger Gesellschaft und an lautem Gespräch über den Tisch hin; es lag ihm an stiller Zwiesprach mit denen, die nicht mehr waren. Ihm waren diese weiten Räume nicht öde, und wenn er nachts oder am hellen Mittage sie durchschritt, vernahm er ein Flüstern und stand still, ob er’s erlauschen könne. Vergeblich hingen die Blicke seiner Frau an ihm und baten um Rückkehr zu den Menschen.

Endlich kam Hilfe.

Es war Hochsommer und die Hitze des Tages hatte den General in die Wald- und Wiesengründe geführt, die den Kossenblatter See nach Süden hin umziehen. Es wurde drückend schwül und um die vierte Stunde brach das Unwetter los. Als die Donner heraufzogen, war es als rollten schwere Wagen durch alle Säle und Korridore. Einzelne Windstöße fuhren gegen das Schloß und die entsetzten Frauen hörten jetzt, wie nah und fern und oben und unten ein gespenstisches Klappern von Fenstern und Türen begann. An hundert Stellen zugleich wollte der Böse herein. Das Blitzen wurde immer heftiger und Herrin und Dienerin flohen aus ihren Zimmern in den langen schmalen Korridor hinaus, der auf den Schloßhof niederblickt. Der Flügel gegenüber stand wie in Nacht. Aber plötzlich war es, als fiel ein Feuer vom Himmel, und der Schloßhof stand wie in Flammen und die Dienerin schrie laut auf: »Dort sitzt sie!«… Es war ihr, als habe sie die alte Reichsgräfin gesehen, im Rollstuhl, unter der Balkontür und in die Flammen des Hofes starrend.

Dieser Nachmittag entschied.

Die Gäste verließen Schloß Kossenblatt und alles war wieder wie zuvor. Spinnen und Ameisen begannen ihre stille Wirtschaft, und niemand anders sprach ein als der Wind im Kamin.

Aber aus der Geschichte unserer Tage haben wir noch einmal um anderthalb Jahrhunderte zurückzugehen in die Tage des letzten Grafen Barfus und in aller Kürze jener dritten Epoche Schloß Kossenblatts zu gedenken: der Zeit Friedrich Wilhelms I.

Heute wirkt der Ort sauber und ordentlich, es gibt eine gute Straße, Wegweiser und Informationstafeln, die auf die Geschichte hinweisen, sowie einen großen, völlig leeren Parkplatz vor dem Gasthof mit seiner einladend offenstehenden Tür.

Als wir ankamen, war es ein Uhr mittags, und wir hatten nach der langen Anfahrt Hunger. Aber beim Blick auf die Speisekarte und den leeren Parkplatz kamen Zweifel. „Matjesheringe in Sahnesauce.“ – „Frischer Salat in Sahnesauce“ und noch viel mehr leichtverderbliche Speisen mit Saucen auf Sahne- oder Mayonnaisebasis. Es war an dem Tag heiß, 32 Grad im Schatten, und trotz der offenen Tür hatte hier wohl seit Tagen kein Mensch mehr gegessen. Ich stellte mir die großen Eimer mit Sahnesoße und Mayonnaise vor, wie der Gastronom sie im Großhandel bekommt, und mir verging der Appetit.

Da kam ein Ehepaar auf Fahrrädern an, wohl Studienräte auf den Spuren der Geschichte. Der Mann setzte sich auf eine Bank. Seine Frau sagte: „Ich schau mal“ und ging mutig in den Gasthof. Sie kam bald wieder und schüttelte entschieden den Kopf. „Auch kein Eis?“, fragte der Mann. „Nein!“

Im Ort gab es keinen Bäcker und keinen Supermarkt, also besuchten wir hungrig die Spreeinsel mit dem Schloss darauf. Dazu muss man die Gutsanlage durchqueren, die noch genauso dasteht wie zu Barfus‘ Zeiten. Wir wurden aus einem Fenster unwirsch angeschaut, als ob wir hier unerwünscht wären.

Im Internet hatten wir gelesen, dass das Schloss seit Ende der DDR Sitz einer Firma wäre, die bibliophile Bücher auf Mikrofilm setzt. Auf Mikrofilm! Im 21. Jahrhundert. Zum Glück wusste ich aus meiner Zeit als studentische Hilfskraft am Rechenzentrum, was ein Mikrofilm ist. Jedenfalls sollte man laut Internet die Insel betreten und das Schloss von außen besichtigen können. Auch würde es die Firma vielleicht gestatten, einen Blick ins Treppenhaus zu werfen.

Leider war aber die Brücke zur Schlossinsel mit einem unüberwindlichen Zaun und Tor aus DDR-Zeiten versperrt. Daneben gab es ein Törchen mit Klingelknopf und einem Schloss mit Tastatur. Die Tasten waren korrodiert, und das Drücken des Klingelknopfes bewirkte gar nichts.

Ein ungeliebter Ort mit einem verwilderten Park und undeutlichen Eigentümern. Irgendwie war das zu Fontanes Zeiten auch schon so:

Im Jahre 1735 kam König Friedrich Wilhelm I. auf einer Jagd von Königs-Wusterhausen aus in die Kossenblatter Gegend, sah das schöne Schloß und forderte den Besitzer auf, ihm seine Besitzung zu verkaufen. Als dieser Antrag abgelehnt wurde, wurden nichtsdestoweniger alle Mittel in Bewegung gesetzt, sich des ganzen Güterkomplexes zu versichern. Es fand sich auch bald ein Weg, da er sich durchaus finden sollte. Der Verlauf war folgender. Graf Barfus hatte dem Unterhändler des Königs gegenüber von 180000 Talern gesprochen, nur um loszukommen, in der festen Voraussicht, daß diese hohe Summe nie bewilligt werden würde, worin er auch recht behielt. Vielmehr begnügte sich der König damit, dem Grafen wissen zu lassen, daß der Preis seiner Güter, nachdem er überhaupt einmal auf den Verkauf derselben eingegangen sei, nicht länger einseitig durch ihn selbst bestimmt werden könne. Es geböte sich jetzt eine Taxierung. Hiernach kam denn auch im Januar 1736 ein Kauf zustande, ohne daß die belehnten Agnaten befragt worden wären. Der König bewilligte 125000 Taler, schlug Kossenblatt zur Herrschaft Königs-Wusterhausen und überwies es, gleich nach der Übergabe, seinem zweiten Sohne, dem Prinzen August Wilhelm. Ob dieser je dort residiert hat, ist zweifelhaft. Der Prinz bevorzugte das in Nähe seiner Garnison Spandau gelegene Schloß Oranienburg und begnügte sich damit, seinen Namenszug A. W. an dem großen Frontbalkon des ehemaligen Barfusen-Schlosses anbringen zu lassen.

Prinz August Wilhelm verschmähte Kossenblatt, aber der König selbst scheint während seiner letzten Lebensjahre viele Wochen und Monate daselbst zugebracht zu haben. Wenn der Ausdruck gestattet ist: er saß hier seine Gicht ab und Kossenblatt wurde der Hauptschauplatz jener Kunstübungen, deren Resultate die bekannte Inschrift tragen: in tormentis pinxit.

Nach diesen historischen Vorbemerkungen schicken wir uns zu einem Besuche des Schlosses selber an.

Es wirkt im Näherkommen nicht ungünstig und erst die Rückseite des Baues zeigt uns seine Schwächen: zu lange Flügel und einen zu schmalen Schloßhof. Eben diese Rückseite hat auch den Blick auf die Spree und eine kümmerliche dahintergelegene Bauanlage, die den Namen »Lustgarten« führt. In diesem wurde der König in seinem Rollstuhl auf und ab gefahren und die zugeschrägte Doppelrampe, die sich bis diesen Tag in Hufeisenform an den Schloßflügel legt, zeigt am deutlichsten, mit welcher Sorglichkeit all und jedes eingerichtet war, um die schlechte Laune des von Gicht und Wassersucht geplagten Königs nicht noch schlechter zu machen.

Das alles konnten wir hinter dem Zaun nur erahnen. Schließlich fanden wir eine gemeindliche Informationswand hinter Glas. Dort stand ganz offenherzig, dass die im Schloss untergebrachte Firma insolvent sei und man durch das Törchen um das Ziffernschloss herum greifen solle. Hinten sei eine Klinke, und man könne auf die Insel, um das Schloss zu umschreiten. Wenn man aber eine Führung durch das Innere wünsche, solle man eine bestimmte Telefonnummer anrufen. Für „Trauungen und alle anderen Angelegenheiten“ dagegen solle man das Bürgermeisteramt im Nachbarort Tauche anrufen.

Das mit der Klinke funktionierte nicht, denn das Törchen war mit einer Kette und einem Vorhängeschloss gesichert. Die Telefonnummer für Führungen durchs Innere war laut Ansage „keinem Teilnehmer zugewiesen“.

Wir einigten uns darauf, dass dies typischerweise unter „alle anderen Angelegenheiten“ falle und einen Anruf beim Bürgermeister rechtfertige. Dessen Sekretärin hörte sich an, dass die Nummer des Mannes für Schlossbesichtigungen wohl nicht stimme, und sagte: „Der ist tot.“

Brandenburg! Ort und Gasthof menschenleer, Firma pleite, Schlossführer verstorben.

Aber die Sekretärin gab uns den Tipp, dass der Mann, der auf Wunsch Führungen durch die Kirche durchführt, inzwischen auch den Schlüssel vom Schloss habe.

Der aber war fast taub, sodass seine Frau das Telefon aufnahm. Ja, er würde auf Wunsch auch das Schloss aufschließen, habe aber heute nur eine knappe Stunde Zeit. Wenn wir ihn mit dem Auto An der Zollbrücke, also im damaligen Sachsen, abholen könnten, würde er uns schnell mal aufschließen.

Der freundliche Herr hat uns dann viel wirklich Interessantes erklärt, auch wenn man schreien musste, um ihm eine Frage zu stellen. Er kannte die ganze Geschichte, war als junger Mann Statist in einem Film über die Möbelverbrennung im Schlosshof, war in DDR-Zeiten aktiv in der Kirchengemeinde und nach der Wende sogar einmal Bürgermeister oder so etwas.

Leider habe ich seine Visitenkarte verloren. Ich hätte ihn gerne für dieses Buch noch einmal gesprochen. Vor einem Jahr schrieb ich sowohl an die Kirchengemeinde als an den Bürgermeister mit der Bitte um seinen Namen und seine Hausnummer An der Zollbrücke. Eine Antwort habe ich nie erhalten. Vielleicht sind die dort jetzt alle tot!

Sein ganzer Stolz war der Trausaal, den die Gemeinde nach der Wende im ersten Stockwerk eingerichtet hatte: Boden aus Kunstmarmor; rote Samtvorhänge, gehalten von glänzendem Messing; rot bezogene Aluminiumstühle, Messing-eloxiert; daneben moderne Toiletten und ein Umkleideraum für die Braut. Das alles passte nicht recht zum Schloss, aber man kann sich vorstellen, dass so ein Trausaal in dieser trostlosen Gegend wirklich beliebt war. Ich wagte nicht zu fragen, wie viel Prozent der hier geschlossenen Ehen heute noch hielten.

Wir erfuhren noch, wie damals dieser Film gemacht wurde: Auf dem Sportplatz wurde brennender Sperrmüll gefilmt, im Schlosshof die Gräfin Dönhoff im Rollstuhl mit Lakaien, und die beiden Filme wurden übereinanderkopiert.

Und wir erfuhren, dass eine Frau aus dem Ort, die alle für eine linientreue Kommunistin hielten und deshalb verachteten, die ganze Zeit das Schild A.W. in ihrem Kohlenkeller versteckt hatte in Erwartung besserer Zeiten. So kann man sich in Menschen täuschen. Das Schild war nun beim Restaurator. Vielleicht hängt es inzwischen wieder.

Bei all dem hatte ich Fontane im Kopf:

Wir haben jetzt das Schloß umschritten und treten ein. Der Eindruck, den es in seinem Innern macht, ist der des Stattlichen, aber zugleich der höchsten Trübseligkeit. Es ist ein imposantes Nichts, eine würdevolle Leere, – die Dimensionen eines Schlosses und die Nüchternheit einer Kaserne. Aber erst in den Zimmern der Beletage erreicht die Trübseligkeit ihren höchsten Grad. Hechtgrau gestrichene Türen tragen allerhand Inschriften in gelber Ölfarbe, und den Korridor des linken Flügels hinunterschreitend, lesen wir nach der Analogie von Kasernenstube Nr. 3 oder 4: »Ihro Hoheit Kronprinzessin«, »Ihre Hoheiten Prinzessin Ulrike und Amalie«, »Ihre Königlichen Hoheiten Prinz Heinrich und Ferdinand«, »Oberhofmeisterin«, »Fräuleins-Kammer« usw. Dazwischen immer »Garderobezimmer«, aber, sooft wir öffnen, alles in dieselbe weiße Tünche getaucht.

Die Türen wollte ich sehen. Aber ich sah nur schwere Stahltüren, überall in den Seitenflügeln. Wer dieses Schloss jemals restaurieren würde, müsste zuerst drei Dutzend DDR-Stahltüren entsorgen. Auf meine geschriene Frage erfuhr ich: „Ach, wussten Sie das nicht? Hier war das Mikrofilm-Archiv der Stasi.“

So wurde alles schlagartig klar: Die Staatssicherheit fand dieses verlassene Schloss auf einer Insel in einem abgelegenen Ort ideal für ihr geheimes Archiv. Die Spree entsorgte zuverlässig Entwickler und Fixierbad. Nach der Wende hat wahrscheinlich einer der ehemaligen Mitarbeiter das Ganze für eine Mark von der Treuhand erstanden, inklusive Kameras, Fotolabor und allem, was dazu gehört. Leider hatte er sich klar gemacht, dass heutzutage wirklich niemand mehr an Mikrofilmtechnik interessiert ist, und der ganze Schwindel ging pleite.

Darum war von dem, was Fontane sonst noch beschreibt, nichts mehr zu sehen bis auf einige Fotografien der Gemälde des Königs:

Wir kehren nun aus dem ersten Stock in das Erdgeschoß zurück. Hier wohnte der König und mancherlei erinnert noch an seine Neigungen und seine Tätigkeit. In dem großen Eckzimmer des linken Flügels sind die Wände bis zu beträchtlicher Höhe mit kleinen holländischen Kacheln bekleidet: glasierte Täfelchen mit blauen Figuren darauf. Dies war ersichtlich das Staats- und Empfangszimmer, denn über dem Kamin hängt ein Porträt Ludwigs XIV. in weit nachschleppendem Hermelin. Die Farben des Bildes sind halb abgefallen, aber auch der haftengebliebene Rest ist immer noch das einzige, was in dem ganzen weiten Schloß an Kunst erinnert und an Genius mahnt.

In demselben Staats- und Empfangszimmer befindet sich noch ein Dutzend anderer Porträts: die in tormentis gemalten Bilder des Königs selbst. Das Mildeste, was man von ihnen sagen kann, ist: sie verleugnen die Stunde ihres Ursprungs nicht. Freilich haben auch sie ihre Verehrer gefunden. Einige unbedingte Friedrich-Wilhelm-Bewunderer haben die ganze Frage auf das Gebiet der Energie gespielt und von diesem Standpunkt aus mit einem gewissen Rechte gesagt: »So malte ein Mann, der nicht malen konnte. Und so malte er unter Schmerzen und – jeden Tag ein Bild.«

Vor diesem Räsonnement verneigt sich die Kritik.

Alle diese Bilder des Königs rühren aus den Jahren 1736, 1737 und 1738 her. Es sind sämtlich Porträts (Bruststücke) und zwar einundvierzig an der Zahl, von denen sich zweiunddreißig in den Zimmern, neun aber im Korridor befanden. Alle in Rahmen von gebeiztem Eichenholz. So häßlich die Bilder sind und so unfähig, ein künstlerisches Wohlgefallen zu wecken, so wecken sie doch immerhin ein gewisses künstlerisches Interesse. Der Hang zum Charakteristischen ist unverkennbar. In dem einen Zimmer hängen z.B. zwei seiner Judenköpfe nebeneinander. Man sieht deutlich, daß ihm der erste Kopf nicht jüdisch genug erschienen war und daß er sich zum zweiten Male an die Arbeit machte, um den nationalen Typus entschiedener herauszuarbeiten. Einmal ist ihm sogar ein hübscher Kopf geglückt: die Frau seines ersten Kammerdieners. Hübsch cum grano salis.

Außer den Bildern des Königs, die neuerdings, wenn ich nicht irre, nach Königs-Wusterhausen hinübergeschafft worden sind, bewahrt Schloß Kossenblatt auch die Staffelei, worauf die Bilder gemalt wurden. Daneben einen Eichentisch und um den Tisch herum eine Anzahl schwerer Holzstühle nach Art unserer jetzigen Gartensessel. Alles solid und primitiv.

Wir durchschritten endlich auch den Rest des Erdgeschosses und fanden seine Räume, wie wir die des ersten Stockes gefunden hatten: groß, öde, weiß. Dazu hohe Fenster und hohe Kamine. Sie hatten bloß ein charakteristisches Zeichen und dieses Zeichen mehrte nur unser Grauen. In jedem Zimmer lag ein toter Vogel, in manchem zwei, auch drei. In Sturmnächten hatten sie Schutz gesucht in den Rauchfängen, und immer tiefer nach unten steigend, waren sie zuletzt wie in eine Vogelfalle hinein geraten.

Und hier vergebens einen Ausweg suchend, hin und her flatternd in dem weiten Gefängnis, waren sie verhungert.

Die Gemälde selbst hängen heute tatsächlich in Königs Wusterhausen.

Wie es denn nun hier weitergehen würde, schrie ich. Wir erfuhren, dass weder die Gemeinde Kossenblatt noch die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Geld hat, um wieder etwas aus dem Schloss zu machen, aber dass gerade mit einem Kaufinteressenten verhandelt werde. Man hoffe, dass der neue Eigentümer wenigstens den Zugang zur Insel gestatten werde und an Samstagen die Benutzung des doch wirklich sehr geliebten Trausaales.

Der neue Eigentümer – das werde wohl ein Unternehmen, das Ärzte aus Rumänien und Bulgarien, die sich in Deutschland niederlassen wollten, auf das deutsche Medizinrecht vorbereitet. Kossenblatt als Ausbildungsstätte für die Erweiterung der Europäischen Union. Rumänien und Bulgarien – da ist man schon fast wieder hinten weit in der Türkei.

Auch heute noch würden hier also Fäden aus ganz Europa zusammenlaufen! Doch in der Zeitung konnte man lesen, dass der neue Eigentümer den Kauf bereut und Wege sucht, den Vertrag wieder zu lösen. Das Wegerecht über die alte Gutsanlage zur Schlossbrücke ist ungeklärt. Hier misslingt schon wieder etwas.

Auf dem Rückweg fanden wir nach langem Suchen, halb verhungert, auf einem Lastwagenstellplatz eine Imbissbude, in der uns mit viel Liebe Buletten mit Zwiebeln gebraten wurden. Und wieder dachten wir an Fontane:

Spät am Abend mahlte sich unser Fuhrwerk wieder durch den Sand zurück. Es war kühl geworden und der Sternenhimmel gab auch dieser Öde einen poetischen Schimmer. Ich sah hinauf und freute mich des Glanzes. Aber in die heitern Bilder, die ich wachzurufen trachtete, drängte sich immer wieder das Bild von Schloß Kossenblatt hinein. Die weißen Wände starrten mich an, ich hörte das gespenstische Türenklappen und in dem letzten Zimmer des linken Flügels flog ein Vögelchen hin und her und stieß mit dem Kopfe an die Scheiben. Sein Zirpen klang wie Hilferuf.

Und inmitten dieses Hilferufs wechselte das Bild und das Schloß stand in Flammen, und unsichtbare Hände trugen es ab und warfen es in das Feuer.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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