Die traditionellen Mai-Krawalle

Gewalt am 1. Mai ist in Berlin die Normalität. Doch anders als der sogenannte Blut-Mai von 1929, als insgesamt 31 Menschen bei Auseinandersetzungen zwischen linken Arbeitern und der Polizei ums Leben kamen, sind die Mai-Krawalle der letzten Jahre nur vordergründig politisch. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene liefern sich Scharmützel mit der Polizei, werfen Flaschen und Steine, bauen Barrikaden und gehen dann irgendwann nach Hause. Doch der Beginn dieser traditionellen „Mai-Festspiele“ war durchaus ernster Natur.

Schon seit den 70er Jahren gab es am ersten Tag im Mai öffentliche Feste. In Ost-Berlin ließ die Staats- und Parteiführung das Volk an sich vorüberziehen, im Westen versuchten die Gewerkschaften ihre Mitglieder zu mobilisieren. Die neue entstehenden Stadtteil-Initiativen aber machten den 1. Mai zum Festtag in den Kiezen. Bei fast zwangsläufig gutem Wetter wurden in den Wohnvierteln in Charlottenburg, Schöneberg, Moabit und auf dem Chamissoplatz in Kreuzberg die Tische rausgestellt, Bühnen aufgebaut, Getränke und selbst gebackener Kuchen ausgeschenkt. Das Wort Feiertag bekam seinen Sinn. Kinder, alte Leute, die „Alternativen“, die Trinkerjugend, alle sammelten sich auf den Straßenfesten und ließen es sich gutgehen. Ärger gab es regelmäßig nur im Viktoriapark auf dem Kreuzberg, wo die Polizei das Massen-Kiffen zu beenden versuchte.
Am 1. Mai 1987 fand wie jedes Jahr auch das Straßenfest am Lausitzer Platz statt. Rund um die Kirche war die Stimmung auf dem Höhepunkt, als einige hundert Meter weiter am U-Bhf. Görlitzer Bahnhof ein paar Punks Flaschen auf Polizei-Mannschaftswagen warfen. Eine Situation, die nicht wirklich bedrohlich war, aber schwere Folgen hatte. Denn nach ihrer Aktion rannte die Gruppe auseinander, 10 bis 15 von ihnen liefen zum „Lauseplatz“, die Polizei setzte hinterher. Die Punks verschwanden in der Menge. Anstatt sich nun zurückzuziehen, reagierte die Polizei mit äußerster Härte: Die Besatzungen mehrerer Mannschaftswagen rannten in voller Kampfmontur in das Fest, mit Knüppeln schlugen sie sich den Weg frei. Es war, als wären alle Festbesucher zu Kriminellen erklärt worden, viele dachten auch an einen Angriff von Neonazis. Die Polizei warf die Informations- und Ess-Stände um, riss etliche Feiernden zu Boden und droschen auf alle ein, die sich ihnen in den Weg stellten. Es herrschte Panik auf dem Platz, schreiende Kinder rannten umher, auf der Suche nach ihren Eltern. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich ca. 2000 Menschen auf dem Platz auf, zwischen den engen Marktständen und Büschen verloren nach einem Ausweg suchend.
Innerhalb einiger Minuten sammelte sich eine Gruppe von Leuten, die die Polizisten daran hinderte, sich weiter durch das Fest zu knüppeln. Sie hielten sie an den Schilden und Knüppeln fest, nahmen sie in die Zange und drängten sie hinaus. Da noch keine Verstärkung kam, sprangen die Beamten in ihre Wannen und fuhren Richtung Kottbusser Tor ab.

Die Festbesucher versuchten sich klarzumachen, was eigentlich passiert war. Diejenigen, die mit einem eigenen Stand auf dem Fest waren, sammelten die Überreste auf, fast alle Stände waren betroffen. In der Zwischenzeit mobilisierten die Autonomen aus den umliegenden besetzten Häusern zum Lausitzer Platz. Und auch die Polizei schickte nun eine Hundertschaft zum „Aufräumen“. Noch während die Optimisten versuchten, das Fest nochmal zum Laufen zu bringen, prallten Polizei und Autonome auf der Skalitzer Straße zusammen. Die Polizei schoss Tränengas auf den Platz und räumte mit Wasserwerfern die Straße. Damit war nicht nur das Fest endgültig zerstört, auch die Eskalation war nun vorgezeichnet. Doch diesmal hatte es die Polizei nicht mehr nur mit den Krawall-erfahrenen Hausbesetzern zu tun, mit denen sie in den Vorjahren schon oft zusammengestoßen war. Aufgrund ihres rücksichtslosen Einsatzes sahen sie sich stattdessen hunderten von Bürgern gegenüber, Jugendliche, einfache Arbeiter und auch viele alte Leute. Selbst viele erwachsene Türken beteiligten sich erstmals an einer solchen Aktion. Bald war die Gruppe auf ca. 1000 Menschen angewachsen und von allen Seiten kamen immer mehr dazu. Die Polizisten sahen sich plötzlich einer Übermacht von Menschen gegenüber, die schrien und ihnen alle verfügbaren Gegenstände entgegenschleuderten. Die Wut auf die Polizei war in diesem Moment riesengroß, viele Beteiligte waren später selber über ihr eigenes Handeln erschrocken.

Seit es Anfang der 80er Jahre zu vielen Hausbesetzungen und Straßenschlachten kam, war die Polizei immer mehr aufgerüstet worden. Sie trat oft martialisch auf, um potenzielle „Störer“ einzuschüchtern. Diesmal mussten die Beamten aber ihren Rückzug antreten. Sie versuchten sich am Mariannenplatz zu sammeln, am Kottbusser Tor und am Oranienplatz. Doch die Menge kam ihnen überall hinterher, sie trieb die Polizei aus dem gesamten Kiez heraus.
Das war nun die Stunde der organisierten Autonomen. Mit Hilfe zahlreicher Jugendlicher wurden sämtliche Zufahrtsstraßen gesperrt, zahlreiche Autos, Bauwagen, Baugerüste, Müll- und Baucontainer versperrten die Straßen. Während die Menge die Barrikaden immer mehr befestigte, wurden in den umliegenden besetzten Häusern Molotow-Cocktails gebaut. Die Polizei versuchte immer wieder mal, mit Hilfe von Wasserwerfern die Barrikaden zu durchbrechen. Polizisten zu Fuß wurden nicht mehr eingesetzt, weil nun massiv die Mollies geworfen wurden, Militante versuchten gezielt, Polizeiwagen in Brand zu stecken. Überall wurden parkende Autos quergestellt und angezündet. Das Zentrum der Krawalle war jetzt rund um die Oranienstraße.

Am Abend zog sich die Polizei dann komplett zurück. Zwischen Wassertorplatz und Moritzplatz im Westen und dem Schlesischen Tor im Osten war kein Polizeiwagen mehr zu sehen. Diese Situation war merkwürdig; einerseits die massiv aufgeladene Stimmung, überall brennende Fahrzeuge und Bauzäune, vermummte Autonome und mit Steinen übersäte Straßen – auf der anderen Seite aber kein „Feind“ mehr in Sicht.
Anstatt nun aber friedlich diesen Sieg zu feiern, schlug der Mob weiter zu. Überall wurden jetzt Scheiben eingeworfen, zuerst nur bei den Supermärkten, dann auch bei den kleinen Einzelhandelsgeschäften. In der Oranienstraße und in den umliegenden Blocks wurden fast alle Läden geplündert. In manchen Fällen stellten sich die Inhaber gegen die Angreifer, was ihnen aber nichts nützte. Die Plünderer versuchten, alle Vorurteile zu bestätigen: So war es vor allem der Alkohol, der aus dem Lebensmittelgeschäften geholt wurde.
Im Laufe der Zeit beteiligten sich aber auch viele „normale“ Menschen an den Plünderungen. In den Supermärkten fand sich die Türkenmutter mit der Oma aus dem Hinterhaus wieder, beide waren eher auf den Käse scharf oder auf andere teurere Lebensmittel. Junge Kerle liefen mit Zigarren im Mund durch die Straßen, Kinder besorgten sich Spielzeug, Familienväter suchten sich ein neues Jacket. Es war wie ein Volksfest, mit einer ausgelassenen Stimmung, denn man hatte es „denen“ mal gezeigt. Aber allen war auch klar, dass es noch nicht vorbei war.

Etwa gegen 2 Uhr morgens rückte die Polizei dann massiv an. Hunderte von Beamten überrannten am Görlitzer Bahnhof und am Oranienplatz die Barrikaden, schlugen auf alle ein, die sich noch auf der Straße befanden. Da die meisten mittlerweile betrunken herumliefen, hatten die Polizisten leichtes Spiel. Sie rächten sich auf ihre Weise für die erlittene Schmach, die Erste-Hilfe-Station im Urban-Krankenhaus war bald so überfüllt, dass die Verletzten in andere Krankenhäuser weitergeschickt werden mussten.
Noch in der Nacht begann die Polizei mit der Erstürmung von Wohnungen und Häusern, es gab zig Razzien und Festnahmen. Vier bis fünf Tage lang war der Kiez dann förmlich besetzt, am 16. Mai erhielt die Polizei die ersten Räumpanzer. Eine solche Niederlage wollte sie nicht noch einmal erleben.

Im Nachhinein wurde der 1. Mai 1987 von linksradikaler Seite sehr verklärt: Die massenhafte Beteiligung aus der Bevölkerung und der erzwungene Rückzug der Polizei prägte viele der damals Aktiven. Bald war vom „Revolutionären 1. Mai“ die Rede und fast jedes Mal kommt es seitdem zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.
Heute ist es eher ein Ritual, viele lassen an diesem Tag ihren Frust auf die Staatsmacht heraus – oder einfach ihre Lust auf Randale. Den meisten ist wahrscheinlich nicht klar, dass dieser 1. Mai deshalb gewalttätig wurde, weil sich die Bevölkerung mal erfolgreich gegen einen brutalen Polizeieinsatz gewehrt hat.
Als letztes noch sichtbares Relikt dieses Tages war noch viele Jahre die Ruine der ausgebrannten Bolle-Filiale am Görlitzer Bahnhof zu sehen.

Foto: Roehrensee – CC BY-SA 3.0

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