Erinnerungen an Istanbul

Als ich in den 90ern nachts mit dem Taxi unter­wegs war, landete ich immer wieder mal auch am Nollen­dorf­platz. In der Nähe gab es einen klei­nen türki­schen Imbiss, der zu jeder Nacht­zeit geöff­net und gut besucht war. Es gab dort leckere Sachen, frisch und beliebt. Manch­mal sah man gleich­zei­tig drei Leute hinter’m Tresen arbei­ten, so brauchte man auch nie lange warten. Außer­dem hatte der kleine Imbiss eine Toilette, was ja gerade für Taxi­fah­rer wich­tig ist. Und sie war sauber.

Was für ein komplett ande­res Bild jetzt: Schon beim Eintre­ten konnte ich nicht glau­ben, im selben Lokal zu sein. Zwei Alko­ho­li­ker schlie­fen an den Tischen, über­all Schmutz, leere Flaschen und auf dem Tresen ein Tape­zier­pin­sel — wozu auch immer. Hätte ich nicht drin­gend auf die Toilette gemusst, wäre ich gleich wieder raus, aber so ließ ich mich darauf ein. Erwar­tungs­ge­mäß sah das Klo nicht besser aus als der Gast­raum, alles schmud­de­lig, auch keine Seife, nichts zum Hände abtrock­nen.

Das alles aber wurde getoppt vom Verkäu­fer. Sein Kittel stand fast bis zum Bauch offen, mäch­tig behaart schau­ten die nackte Brust und der Bauch heraus. Kein Hemd oder Unter­hemd hinder­ten sie daran, dieses Bild passte perfekt in das rest­li­che Ambi­ente. Geges­sen habe ich dort lieber nichts, nur einen Saft gekauft.

Während ich den vor der Tür trank, über­legte ich, wieso mir das alles so bekannt vorkam. Und plötz­lich war die Erin­ne­rung wieder da: Etwa 1980, Kreuz­berg, Adal­bert­straße. Damals gab es noch nicht so viele Döne­r­im­bisse, aber einen bei mir im Haus. Er war viel größer als der am Nolli, doch genauso schmud­de­lig. Damals aber war ich nicht so ange­wi­dert davon, es war mein junger Alltag, die klinisch reinen Imbisse kamen erst später. In jedem Laden lief noch anato­li­sche Musik, man sprach auch schon von Klein-Istan­bul, obwohl damals viel weni­ger Türken in Kreuz­berg lebten als heute.

Ich habe gute Erin­ne­run­gen an diese Zeit und diesen Imbiss, mitten in meinem Kiez. Das Atatürk-Plakat an der Wand, dane­ben die Fotos vom Bospo­rus, die große Moschee, die Mutter des Wirts, die kein Wort Deutsch sprach — alles das war ja mein zwei­tes Zuhause und gleich­zei­tig mein Fens­ter in die Welt. Die Türkei war für mich so weit weg wie der Mond und doch war mir das so vertraut, dieser Imbiss war mein Bild von Istan­bul. Darin fühlte ich mich wohl, ich duzte den Wirt, er gab mir manch­mal auch was umsonst und immer Kredit. Dass das Bild mit dem grauen Wolf ein faschis­ti­sches Symbol war, wusste ich damals nicht und hätte es in meiner Naivi­tät wohl auch nicht geglaubt.

Erin­ne­run­gen an Orte sieht man natür­lich auch immer im Zusam­men­hang mit der jewei­li­gen Zeit. Für mich war das Aufbruch, Aufbau eines eige­nen Lebens, riesige Neugier auf die Welt, tausend inter­es­sante Dinge, wie bei einem Kind. Der Imbiss war ein Teil davon, auch kein schlech­ter.
Und weil mich der am Nollen­dorf­platz gestern daran erin­nert hat und der Wirt auch sehr nett war, bin ich ihm auch nicht böse. Aber essen werde ich dort trotz­dem nichts.

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