Die ehemalige Mauer

Ein Weg voller Über­ra­schun­gen und Geheim­nisse

Das Häus­chen, das ein Schloss ist, steht unweit vom Berli­ner Mauer­weg. Der führt immer wieder an merk­wür­di­gen Orten und selt­sa­men Exkla­ven, sogar an einem Enten­schna­bel entlang, manch­mal hört er auf im Nichts, und vor allem im Norden Berlins liegt der Osten manch­mal im Westen.
Alle Beschrei­bun­gen gehen davon aus, dass man ihn im Uhrzei­ger­sinn umfährt, weil dann der Osten, wie früher üblich, links ist. Aber Radfah­rer soll­ten lieber anders­herum fahren, denn dann gibt es weni­ger Stei­gun­gen. Die totale Stei­gung im Uhrzei­ger­sinn beträgt nämlich 566 Höhen­me­ter, während man total nur 562 Höhen­me­ter hinab­fährt. So steht es ganz genau, mit Höhen­dia­gramm, auf der offi­zi­el­len Webseite. Vier Meter klet­tert man, ohne dass man dafür mit einer Abfahrt belohnt wird. Anders­herum, den Westen zur Linken, spart man also Ener­gie, denn man bekommt vier Höhen­me­ter gratis Abfahrt. Auf eine Länge von 160 km ist das nicht viel, aber Klein­vieh macht auch Mist.
Wegen der Corio­lis­kraft – jede Bewe­gung auf der Nord­halb­ku­gel der Erde erfährt eine Rechts­ab­len­kung – würde man viel­leicht lieber im Uhrzei­ger­sinn fahren, aber dieser Effekt ist nun wirk­lich vernach­läs­sig­bar. Ja, und wenn man, wie in der StVO vorge­schrie­ben, immer schön rechts fährt, bilden die Wege im Uhrzei­ger­sinn und gegen ihn konzen­tri­sche Kreise. Gegen den Uhrzei­ger­sinn ist es dann auf 160 km sechs Meter weiter, aber das erle­digt man spie­lend im Frei­lauf. Vier Meter Stei­gen ist dage­gen spür­bar anstren­gend.
Nun lernt man im Mathe­ma­tik- und Physik­stu­dium, dass bei einer geschlos­se­nen Kurve der totale Höhen­un­ter­schied Null sein muss. Man steigt theo­re­tisch genau so viel wie man abfährt. Nur auf dem Mauer­weg eben nicht. Warum?
Weil der Mauer­weg nur schein­bar eine geschlos­sene Kurve ist. In Wirk­lich­keit radelt man von Kladow nur zum S‑Bahnhof Wann­see bezie­hungs­weise umge­kehrt. Das Schluss­stück des Krei­ses legt man mit der Wann­see­fähre zurück. Und die über­win­det, wie das Höhen­dia­gramm deut­lich zeigt, die fehlen­den vier Höhen­me­ter. Der Wann­see hat eine vier Meter hohe Stufe! Wegen des Wellen­gan­ges merkt man das auf der Fähre meis­tens nicht.
„Aber,” hören wir den mitden­ken­den Leser fragen, der das Diagramm im Inter­net aufge­sucht hat, „muss diese Stufe dann nicht genau anders­herum sein, damit die Zahlen stim­men?” Nein, denn der Seespie­gel vertauscht wie jeder waag­recht liegende Spie­gel oben und unten.
Es gibt also viel zu sehen, Altes und Neues, Beru­hi­gen­des und Selt­sa­mes, und man lernt Berlin und Bran­den­burg besser kennen. So habe ich es in drei Jahren mehr als zehn­mal gemacht: Mit dem Rad in der Bahn dahin, wo ich das letzte Mal aufge­hört hatte, und dann je nach Wetter und Kondi­tion zwan­zig bis vier­zig Kilo­me­ter den Mauer­weg entlang und dann irgendwo in einer dieser radia­len Bahn­li­nien wieder in die Bahn.
Neulich im Herbst bekam ich Zwei­fel, ob ich wohl gescheit bin. Zehn­mal dieselbe Stre­cke im Kreis fahren und auf die jahres­zeit­li­chen Unter­schiede in der Vege­ta­tion achten. Zehn­mal diesel­ben merk­wür­di­gen Orte anschauen, die man schon gut kennt. Rettung aus dem Selbst­zwei­fel brachte eine U‑Bahn-Fahrt: Der Rekla­me­bild­schirm zeigte zehn gut bezahlte junge Mana­ger, die in einem Fitness­stu­dio auf Fließ­bän­dern auf der Stelle liefen. Herr Gott, ich danke Dir, dass ich nicht bin wie jene da.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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