Straße aus dem Nichts

Ich hole die Neue Friedrich­straße aus der Geschichte hervor. Ich verglei­che diese Straße, die nur noch in Sätzen vorhan­den ist, mit der Gegen­wart der Orte, die sich nach ihr benann­ten, als sie noch durch die bewohn­bare Wirk­lich­keit verlief.
Nach­dem sie an der Rosen­straße vorbei ist, führt sie über einen lebhaft bespiel­ten Kinder­spiel­platz. Ich umrunde ihn auf einem Gale­rie­weg, der im Rücken der Hoch­häu­ser der Karl-Lieb­knecht-Straße entlang führt. “Verband Bilden­der Künst­ler der DDR” steht an einer offen­ste­hen­den Blech­tür, die also den Eingang in eine Vergan­gen­heit verspricht, die hier tatsäch­lich längst in eine ziem­lich künst­ler­lose Gegen­wart verwan­delt ist.
Mitten durch das gelun­gene städ­te­bau­li­che Ensem­ble führt die Neue Fried­rich­straße direkt auf Kaisers Verbrau­cher­markt und auf das “Berlin Carre” zu. Dort bleibt sie stecken. Es gibt Billig-Ware.

Links die 8. Grund­schule, eine junge Frau kommt die Stufen herun­ter und versucht, gelang­weilt auszu­se­hen; es muss eine Lehre­rin sein, sie will uns Außer-Schu­li­schen zeigen, wie eilig sie es hat, ins wirk­li­che Leben einzu­tau­chen. Sollen wir sagen: Dass es mitten in der Stadt Platz für solche Plätze gibt, das zeigt, dass es noch keine Welt­stadt ist?
Die Bewoh­ner kommen in Berlin noch in ihrer Eigent­lich­keit vor, sie sind noch keine Funk­tio­nen der Metro­po­li­tät. Indem ich den Billig-Waren den Rücken drehe und der Lehre­rin nach­bli­cke, bin ich zufrie­den mit Berlin, wie es jetzt ist.
Unter McDo­nalds komme ich, die Neue Fried­rich­straße etwas links lassend, hervor auf die Lieb­knecht­straße wie auf einen Fast-Food-Rummel­platz. Unter der blauen Bank, auf der ich diesen Text zu schrei­ben beginne: eine grüne Flasche mit einem Rest Vermouth, eine halb aufge­ges­sene dicke Wurst, die in der Sonne fest und rund gewor­den ist, viele Ziga­ret­ten­kip­pen; das Lokal gegen­über heißt: “Zur Depo­nie am Alex­an­der­platz”.
Indem ich die Lieb­knecht­straße über­quere, gehe ich um eine Altstadt herum, die es nicht mehr gibt. Die Mari­en­kir­che ist noch da, aber sie passt nicht hier­her. Bei Käse-König kostet die heiße Bock­wurst 1,- DM. Die beiden ABM-Frauen mit dem Brust-Schild­chen “tourist-service” blicken sich auf die Frage nach der Neuen Fried­rich­straße unschlüs­sig an. Als sie sagen: “Neue Fried­rich­straße? Gibt’s hier nicht” stehen sie vor einem Haus, an dem die Flucht­li­nie der versun­ke­nen Straße noch ables­bar ist.
Aus dem Café, in dem die Kell­ne­rin­nen sorg­fäl­tig darauf achten, dass nur Gäste die Toilette benut­zen (“sonst eine Mark!”), betrachte ich den dicken Fuß des Fern­seh­turms, der der Neuen Fried­rich­straße hier im Wege steht.
Um das Erd-Ende des Fern­seh­turms liegt eine Atmo­sphäre der Vorläu­fig­keit und Nicht­be­stän­dig­keit. Es ist eine Gegen­wart über die Vergan­gen­heit gelegt, zu der man nicht viel Vertrauen hat. Hier stand früher das Sedan-Panorama, mit dem die Preu­ßen­kö­nige dem Volk, das es doch besser hätte wissen müssen (aber nicht besser wusste), die Schön­heit einer euro­päi­schen Bruder­schlacht schil­der­ten: Deko­ra­tio­nen, aus denen später das Blut auch wieder heraus­floss, über das man hier Ästhe­tik gelegt hatte.

Die Obdach- und Heim­lo­sen, die mich jetzt gesprächs­be­reit anse­hen inmit­ten der Palet­ten von Becks-Bier, sitzen gerade an der Front der Neuen Fried­rich­straße, nahe dem Fußgän­ger­weg, der von Peter Behrens’ schö­nen Torhäu­sern (Bero­lina- und Alex­an­der­haus) zum Roten Rathaus führt.
Ich über­quere ihn auf der Neuen Fried­rich­straße, die die Bier­trin­ker nicht sehen und die nun unter einem brei­ten Hoch­haus hindurch­führt. China­lo­kal Jasmin und Post­amt liegen an der unsicht­ba­ren Straße.
Mitten in der Neuen Fried­rich­straße stünde das merk­wür­dige Denk­mal, das sich hier nicht erklärt.
Auf seiner Rück­seite stellt es einen Hutlo­sen dar, der mit spit­zem Finger auf einen behelm­ten Arbei­ter zeigt, als wolle er mit selbst-entschul­di­gen­dem Vorwurf sagen: Der ist es gewe­sen, der ist schuld, ich bin es nicht gewe­sen.
Neue Fried­rich­straße, versun­kene Straße der Verdrän­gun­gen und Einbil­dun­gen.

Unge­fähr hier stand das Geheime Staats­ar­chiv, das eine Erin­ne­rung zu büro­kra­ti­sie­ren suchte, aus der Vorwürfe und Ansprü­che hätten hervor­ge­hen können.
Jetzt wohnen hier Leute und schi­cken Briefe ab. Es werden auch Liebes­briefe darun­ter sein, aber selbst Liebe — und gerade die nicht — garan­tiert nicht für Wahr­heit. Aus Papier sind die Gespens­ter.
Von hier konnte man schon die große Kadet­ten­an­stalt sehen, in der in preu­ßi­scher Dürf­tig­keit Helden­tode vorbe­rei­tet wurden. Eichen­dorff wohnte dort in der engen Dienst­woh­nung bei seinem Schwie­ger­sohn. Darüber türmt sich jetzt der Justiz­pa­last: “0 Täler weit, o Höhen”.
Von der Fried­richs­brü­cke lief die Neue Fried­rich­straße, immer paral­lel zur Stadt­mauer, in einem weiten Bogen auf das Wasser zu.
Ich habe noch ein Stück zu gehen. Die preu­ßi­sche Roman­tik macht mir das Herz schwer. Die rühren­den Lieder sind schwer zu singen.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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