Vor hundert Jahren war Charlottenburg neben Mitte das Zentrum des jüdischen Lebens in Berlin. Wieviel Juden einst in der Kantstraße gelebt haben, ist nicht bekannt. Der Anteil an der Bevölkerung lag im Charlottenburger Kiez auf jeden Fall höher, als in den meisten anderen Berliner Stadtteilen. Anders als z.B. in Mitte gehörten viele Juden rund um die Kantstraße dem Mittelstand an. Sie waren oft schon seit Generationen in Berlin ansässig, waren fester Bestandteil der Bevölkerung. Man ging in eine der Synagogen in der Fasanen-, Pestalozzi- oder Kantstraße, ins Quellbad in der Bleibtreustraße, in eines der koscheren Lebensmittelgeschäfte. Jüdische Bürger gehörten ganz normal dazu, bürgerliche in großen Wohnungen sowie ärmere, oft aus Osteuropa eingewandert. Rund um die Kantstraße gab es mehr als hundert Geschäfte, die von Juden geführt wurden.
In der Bleibtreustraße 50 befand sich das „Kartell jüdischer Verbindungen“, einem zionistischen Verein, der die Schaffung des Staates Israel anstrebte. Der Verein „Ort“ zur Förderung jüdischen Handwerks, Industrie und Landwirtschaft saß in der Nummer 34. Die Kinderabteilung des jüdischen Sportvereins Bar Kochba-Hakoah trainierte in der Turnhalle Bleibtreustraße 43. Im Gymnasium Knesebeckstraße 24 probte die Jüdische Orchester-Vereinigung, dort saß auch die Freie Jüdische Volkshochschule.
Das alles änderte sich 1933. Das Leben der jüdischen Bevölkerung wurde immer schwieriger. Berufsverbote, Ausgrenzung aus Vereinen und Veranstaltungen, später Zwangsmitgliedschaft in der Reichsvereinigung der Juden, Entrechtung in fast allen gesellschaftlichen Bereichen.
Im Gymnasium in der Knesebeckstraße war rund ein Viertel aller Schülerinnen und Schüler jüdischen Glaubens. Nachdem sie die Schule verlassen mussten, hatte das Gymnasium Probleme, die Klassen voll zu kriegen, so dass es 1940 wegen Schülermangels schließen musste.
Von Anfang an flüchteten Juden vor den Nazis, nach Palästina, Holland, England, Amerika. Drei Fluchtwellen 1933, nach der Einführung der Nürnberger Gesetze sowie nach der Pogromnacht im November 1938. So haben auch die meisten Juden aus der Kantstraße den Faschismus überlebt. Die anderen mussten sich ab 1941 im Hof der nahen Pestaozzistr. 7/8 einfinden von wo aus sie ihren Gang zu den Deportationsbahnhöfen Moabit oder Grunewald und dann in die Konzentrationslager antraten.
Am 30. Januar 1933, dem Tag der Machtübergabe an die Nazis existierten in der Kantstraße etwa 55 Firmen mit jüdischen Inhabern, die meisten waren Einzelhandelsgeschäfte und Großhandelsfirmen. Am Ende des Faschismus‘ war es keine einzige mehr. Heute kennen wir 220 Namen von jüdischen Bewohnern der Kantstraße, die im Holocaust ermordet wurden. Einem Teil von ihnen wird mit Stolpersteinen gedacht, viele aber sind längst vergessen. Hier finden Sie eine Auflistung der Namen aller bekannten jüdischen Opfer, die in der Kantstraße gewohnt haben. Dort ist auch gekennzeichnet, für wen bereits ein Stolperstein verlegt wurde.
Heute ist vom jüdischen Leben in der Kantstraße praktisch nichts mehr übrig. Nur die Redaktion einer jüdischen Zeitung, aber keine speziellen Geschäfte mehr. In der Nähe gibt es allerdings noch die beiden Synagogen in der Fasanen- und der Pestalozzistraße. Neben diesen beiden Gotteshäusern gab es auch die kleine Synagoge Thorat Chessed auf dem Hinterhof der Kantstraße 125, das 1897 errichtete Gebäude existiert noch heute. 1908 gründeten osteuropäischen Juden dort den Verein „Thorat-Chessed“, ihr Sitz war in der Leibnizstraße. Unter der Leitung von Alfred Schrobsdorff bauten sie in der Kantstraße eine ehemalige Glasereiwerkstatt um, entfernten im Erdgeschoss einen Teil der Decke, so dass eine Empore entstand. Noch im gleichen Jahr wurde die Synagoge Beth Jitzchok eröffnet. Unten bot sie Platz für 160 Männer, bis zu 120 Frauen beteten auf der Empore. Der Verein Thorat-Chessed bestand vor allem aus Juden der Mittelschicht, sie richteten den Betraum ein wie ein polnisches Stibl. Das ist der Gegenentwurf der besonders frommen chassidischen Juden zu den prunkvollen Synagogen anderer Gemeinden. Die „Stube“ symbolisiert die Einfachheit vor Gott, die keinen Reichtum benötigt.
1919 erhielt die Synagoge einen kleinen Anbau, einen nischenartigen Altarvorbau, der als Platz für das Rednerpult diente. Unter der Naziherrschaft wurde der Anbau wieder abgerissen.
Die Gläubigen betraten die Synagoge normalerweise nicht über den Haupteingang an der Nordseite. Dieser wurde nur zu besonderen Feierlichkeiten genutzt. Im Alltag ging man durch den heute zugemauerten Eingang im Erdgeschoss des Treppenhauses.
Im Jahre 1983 erinnerte sich Charlotte Klein an die Synagoge. Sie war als junge Frau 1938 nach Palästina emigriert und 45 Jahre später zu einem Besuch zurückgekehrt:
„Links in den ersten zwei Reihen saßen die frommen, die besseren Leute. Mein Vater saß dort. Wenn Sie sich die Decke ansehen, dann sieht man, dass das eine neue Decke ist. Früher war hier alles offen und oben war die Tribüne … für die Frauen. Die Galerie bestand zur Hälfte aus Holz. Die Synagoge in der Kantstraße war eigentlich DIE Synagoge. Für uns gab es keine andere. Alle waren damals wie eine große Familie.“
In der Kantstraße ging sie den Weg von ihrem einstigen Wohnhaus „wie in einem Traum den altvertrauten Weg zu unserer Synagoge. Das Gebäude steht, aber alles andere ist eben nicht mehr da.“
Dass die Synagoge in der Nacht des 9. November 1938 nicht zerstört wurde, lag ausgerechnet an einem hochrangigen Mitglied der NSDAP. Er wohnte unmittelbar daneben und bei einem Brand des Gotteshauses wäre auch seine Wohnung zerstört worden. Es gab einige wenige Synagogen in Berlin, die an diesem schicksalhaften Tag nicht abgefackelt wurden, weil sie unmittelbar an Wohnhäusern lagen.
Der Gemeinde Thorah-Chessed jedoch nutzte das nicht viel. Nur zwei Monate später musste sie ihre Synagoge aufgeben, das Gebäude wurde zum Lagerhaus umfunktioniert. Den Krieg überstand es unbeschadet, bis die Rote Armee in Charlottenburg ankam. Ein Trupp der SS verbarrikadierte sich darin und beschoss die über die Bahngleise anrückenden sowjetischen Soldaten. Diese schossen zurück und hinterließen noch Jahrzehnte lang die Spuren des Beschusses mit MGs und Granaten.
Am 16. Mai 1945, nur wenige Tage nach der Kapitulation des NS-Regimes, tagten im alten Betsaal der Synagoge überlebende Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Sie gründeten dort das Charlottenburger „Organisationskomitee der II. Internationale“ aus SPD, freien Gewerkschaften und des Allgemeinen Freien Angestellten-Bundes. Die Mitglieder des Komitees beschlossen, dass es in Zukunft nur noch sozialistische Gewerkschaften geben sollte.
In den vergangenen Jahrzehnten diente die ehemalige Synagoge als Bürohaus sowie als Lager. Zwischendurch nutzte der Charlottenburger Kulturverein die Räume als Spielstätte unter dem Namen „Marias Gartenhaus“, bis 2005. Heute befindet sich darin ein Künstleratelier.
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