Das andere Berlin

Heute gehen wieder viele Berlinerinnen und Berliner zur Wahl, diesmal für die zum Europaparlament. Als ich zum ersten Mal an einer Wahl teilnahm, kam ich mir sehr revolutionär vor, denn ich wählte eine Partei, die das totale Gegenteil der bürgerlichen war. Es gibt sie schon längst nicht mehr, und ich fand sie eigentlich auch nicht gut. Wichtig war nur, dass sie anders war als alle anderen. So wie heute vielleicht Menschen die AFD wählen, nur um gegen die andere zu protestieren. Bei mir war es allerdings keine rechtsradikale Partei.

In all den Jahren seitdem habe ich mich nie so richtig dieser Gesellschaft zugehörig gefühlt, lange Zeit beruhte das auf Gegenseitigkeit. Mittlerweile habe ich mich im Alltagsleben mit ihr arrangiert, oft mehr, als mir lieb ist. Tief im Herzen bin ich immer noch abseits stehend, irgendwie „anders“, politisch, sexuell und mit meiner Sicht auf manche Dinge.

Für Leute wie mich gibt es jetzt ein Internetportal: „Das andere Berlin„. Darin werden Initiativen, Organisationen, Parteien und Betriebe aufgelistet, die meisten davon sehen sich aber vermutlich nicht als außerhalb der Gesellschaft stehend.

„Das andere Berlin“ führt neben Massenorganisationen wie die Gewerkschaften Hunderte von politischen Gruppen auf, von sozialdemokratisch bis anarchistisch. Allein der Bereich „Wohnen + Stadtteil“ umfasst aktuell 234 Einträge, viele dieser Gruppen haben sich erst in den vergangenen Monaten gegründet. Und so geht es weiter quer durch die gesellschaftlichen Themen: Es gibt Bereiche zu Flüchtlingen, Genderfragen, Behinderte, Ökologie, Antifaschismus und vieles mehr. Die Selbstorganisation von Ärzt*innen, Journalist*innen, Migrant*innen wird genauso berücksicht wie internationalistische Gruppen zu Bangladesh oder El Salvador. Dazu kommen Gewerbebetriebe, die sich als Teil einer Alternativbewegung sehen, sowohl Lokale, Werkstätten, Buchhandlungen und -verlage, aber auch Konzerträume, Theater, und, und, und…

Wer schon älter ist und in den 1980er Jahren in West-Berlin lebte, dem kommt das vielleicht bekannt vor. Damals gab es das „Stattbuch“, das genau ein solches Nachschlagewerk für das „andere“ Berlin war. „Das andere Berlin“ ist die moderne Variante dieses Buches.

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