Wedding: Der verwandelte Kiez

So lange ich denken kann, heißt es: Der Wedding kommt. Fast jeder Berli­ner hat es schon einmal gehört. Neulich radelte ich nach vielen, vielen Jahren wieder einmal durch die Neben­stra­ßen meines alten Kiezes. Die vielen posi­ti­ven Verän­de­run­gen der letz­ten Jahre dort waren mir verbor­gen geblie­ben. So ist es wohl immer, wenn man nur auf gewohn­ten Wegen unter­wegs ist.

Schnur­ge­rade war ich jahre­lang auf den Haupt­stra­ßen unter­wegs. Zum Plöt­zen­see oder hin und wieder zur Müllerstraße. War ich selbst zu dem Abbild einer erstarr­ten Gesell­schaft mit uralten Über­zeu­gun­gen gewor­den? Einer Gesell­schaft, die keine neuen Ideen hat? Das Strand­bad an der Auto­bahn besu­che ich ohne­hin schon lange nicht mehr.

Die anfäng­li­che Freude über den neuen Päch­ter Michel, die das Ende des kata­stro­pha­len Zustands der Anlage durch den vorhe­ri­gen Päch­ter markierte, war schnell verschwun­den. Michel machte aus dem ehema­li­gen Fami­li­en­bad mit Sand­strand und einem genia­len Sonnen­steg im See schnell eine moderne Event­lo­ca­tion mit verdop­pel­ten Eintritts­prei­sen und uner­träg­li­cher Bass­dau­er­wum­me­rung bis auf den Steg.

Den Dress­code bestimm­ten nun die neuen Besu­cher. Die konn­ten sich die neuen Preise leis­ten und kamen in Massen, um unser klei­nes Para­dies kaputt­zu­ma­chen. Face­book sei Dank. Mindes­tens die komplet­ten Arme müssen nun Tattoos aufwei­sen, damit man noch dazu­ge­hört zu der mondä­nen Spaß­ge­sell­schaft. Aber zurück zum eigent­li­chen Kiez.

Etwas abge­le­gen vom hekti­schen Wedding, von der windi­gen Stadt, wurde dieser Kiez als der bessere Wedding bezeich­net. Dieser Kiez endete aber schon immer an der Müllerstraße. Dort herrscht bis heute das echte und welt­be­rühmte Weddin­ger Leben.

Gegen­über dem Pekin­ger Platz prak­ti­zierte in einem klei­nen Flach­bau der Durch­gangs­arzt des Dorfes, Dr. Kunith. Zwischen alten Gara­gen­hö­fen und ande­rem Gewerbe leis­tete er Erste Hilfe bei Arbeits­un­fäl­len, versorgte aber auch die Nach­bar­schaft. Das Haus steht heute noch. Dr. Kunith ist unter­des­sen gestor­ben.

Erst 2011 wurde dann das Nord­ufer genau am Pekin­ger Platz für Autos gesperrt. Zur Freude der Anwoh­ner entstand ein Grün­zug von der Spren­gelstraße (Spren­gel­park) über den erneut neu gestal­te­ten Pekin­ger Platz, das gesperrte Nord­ufer bis hin zum grünen (Nord-)Uferstreifen des Span­dauer Schiff­fahrts­ka­nals.

Die Abkür­zungs­stre­cke für unge­dul­dige Auto­fah­rer von der Putlitz­brü­cke zum Wedding­platz war unbrauch­bar gewor­den. Nun wurde es noch ruhi­ger, hübscher und vor allem viel siche­rer für die Kinder auf dem Spiel­platz.

Mit dem Bau einer neuen S‑Bahn-Trasse der Linie S152 (vormals S21 benannt) wurde schließ­lich auch die Tege­ler Straße zwischen Lynar- und Fenn­straße endgül­tig gesperrt. Damit war fast der gesamte Kiez für den Durch­gangs­ver­kehr blockiert worden. Irgend­wann kann man dann die S‑Bahn auf Augen­höhe in den Tunnel zum S‑Bahnhof Wedding einfah­ren sehen. Ein Hingu­cker. Irgend­wann einmal – so viel hatte ich noch mitbe­kom­men.

Unter­des­sen ist nun fast die gesamte Tege­ler Straße zur Fahr­rad­straße umge­wan­delt worden. Anstatt der früher sehr zahl­rei­chen Knei­pen im Kiez sind jetzt Cafés, kleine Restos und Geschäfte entstan­den und haben das Trei­ben vom Tresen auf die Straße gebracht, denn die Bürger­steige sind – im Gegen­satz zu Kreuz­kölln – breit genug, um sich dort gemüt­lich unter Bäumen aufhal­ten zu können.

Der Kiez ist jetzt wie verwan­delt. Jetzt hört man nur noch das Säuseln der Gesprä­che an den Tischen der Cafés oder ab und zu eine Fahr­rad­klin­gel. Nur der „Deich­graf“, „Bolle“ (Anwoh­ner nennen den schlech­tes­ten Super­markt Berlins bis heute so), der Angel­la­den mit dem einzi­gen Auto­ma­ten für frische Maden und gleich dane­ben die Thais haben sich gehal­ten.

Der Preis für eine Stunde Thai-Massage ist von 28 Euro auf noch immer unschlag­bare 38 Euro gestie­gen. Die Maden sind ausver­kauft. Dieser Angel­shop hat sicher­heits­hal­ber gerade seine Verkaufs­flä­che halbiert. Das Neben­haus – die andere Hälfte des Ladens – bekommt ein aufwen­di­ges, neues Funda­ment geimpft.

Eine Mords­ma­schine drückt jede Menge Beton unter das Haus, um es zu stabi­li­sie­ren. Darun­ter ist nämlich eine Torf­linse entstan­den. Das Haus droht abzu­sa­cken und even­tu­ell sogar einzu­stür­zen. Alle Häuser hier wurden auf einem Torf­ge­biet (Torf­straße) gebaut. Auch die Nach­barn beten schon mal, unge­scho­ren davon­zu­kom­men.

Nicht zu verges­sen sind aber die geschlos­se­nen Post­fi­lia­len in der Spren­gel- und Gericht­straße, der Fisch­la­den an der Ecke, der Flei­scher gegen­über, die Versi­che­rungs­fi­liale der HUK, das Reise­büro, das Elek­tro­ge­rä­te­ge­schäft „Billert“, Peters Zeitungs­la­den, die erste SB-Tank­stelle Nordufer/Ecke Lynar­straße, das längst umge­zo­gene „Himmel­bett“ Ecke Ruhe­platz­straße und vor allem die vielen, vielen Knei­pen mit ihrem Weddin­ger Nacht­le­ben.

Ich erin­nere mich auch noch gut, dass eines Nachts, als wir nach Feier­abend im Vorgar­ten des Deich­gra­fen saßen, ein Auto beob­ach­ten konn­ten dass sich mit lauten Gejohle der Insas­sen über den Torf­stra­ßen­steg von Pfei­ler zu Pfei­ler quetschte. Die mutmaß­li­che Wette wurde zwar gewon­nen, das Auto war jedoch voll­kom­men verbeult. Genau so der Wedding.

Diesen Kiez gibt es nicht mehr. In den Räumen vom Platz­hir­schen des Alko­hol­kon­sums – dem „Skor­pion“ in der Torf­straße – war anschlie­ßend für viele Jahre ein Fahr­rad­ge­schäft mit einem stets mürri­schem Betrei­ber. Heute gibt es dort „sanfte Helm­the­ra­pie für zarte Baby­köpfe“. Also für Babys die an geburts- oder lage­be­ding­ter Defor­ma­tion des Kopfes leiden oder eine post­ope­ra­tive Korrek­tur der Kopf­form benö­ti­gen. Das Para­de­bei­spiel der Verän­de­rung.

Außer­dem gibt es nun im Kiez jede Menge inter­na­tio­na­les Essen aus aller Welt, Biolä­den, Biobä­cker, eine Kerzen­ma­nu­fak­tur, Biowand­far­ben, vega­nes Eis oder thera­peu­ti­sche Malkurse. Und in der Fehmar­ner Straße 24 natür­lich nach wie vor den legen­dä­ren Keller. Ein altes Sprich­wort vom Keller lautet: „Im Wedding kannst du gut saufen oder gut trocken werden. Es kommt immer nur darauf an, welche Tür du heute aufmachst“.

Auch die Genter Straße ist an der Luxem­bur­ger Straße jetzt für Autos gesperrt worden. Dort sitzen die Student:innen auf witzi­gen Sitz­mö­beln lustig auf der Straße herum. Die Berli­ner Hoch­schule für Tech­nik (BHT) brauchte wohl drin­gend ein größe­res Auslauf­ge­biet – auch für den baldi­gen Betrieb im Neubau der Fakul­tät.

Sogar die immer wieder seit Deka­den totge­sag­ten Einrich­tun­gen des Aben­teu­er­spiel­plat­zes Telux, des Kinder­bau­ern­ho­fes und eine winzige Klein­gar­ten­an­lage sind in der Luxem­bur­ger Straße erhal­ten geblie­ben.

Und so ist mein alter Kiez heim­lich, still und leise zu einer der zukunfts­wei­sen­den und (noch) güns­tigs­ten Wohn- und Lern­ge­biete der Stadt gewor­den. Hier haben jetzt die Fahr­rä­der der Gentri­fi­zie­rung Vorrang, dürfen nicht über­holt oder behin­dert werden, und die meis­ten halten sich ohne großes Murren daran. RIP Janne.

Ein Wohn­pa­ra­dies mit der U9 (der schnells­ten Linie in Berlin, 8 Minu­ten zum Kudamm) vor der Türe und bald auch S‑Bahn-Anschluss zum Haupt­bahn­hof. Viel­leicht, irgend­wann einmal – der Wedding scheint wirk­lich ange­kom­men zu sein. Nur eben völlig unauf­ge­regt. Abseits des lauten Getö­ses der Poli­ti­ker und Medien über soge­nannte Kiez­blocks.

Gegen­über am Fried­rich-Krause-Ufer (Moabit), links neben dem sehr schmei­chel­haft umbe­nann­ten „Amt für Einwan­de­rung“, wird nun auch fesch gebaut. Auf der Fläche eines ehema­li­gen Aldi-Gelän­des kommt das „Port One Berlin“ mit seinen 14 Stock­wer­ken, 350 Auto­stell­plät­zen und 500 Fahr­rad­stell­plät­zen nebst „Umkleide und Duschen“ hin.

Rechts dane­ben auf dem Grund­stück von Thys­sen-Krupp die „Berlin Decks“. Mit diesen zukunfts­wei­sen­den Projek­ten dürfte dann bald der Schluss­punkt des größ­ten Busi­ness-Strangs in Berlin, Pots­da­mer Platz – Regie­rungs­vier­tel – Haupt­bahn­hof – Euro­pa­city, voll­endet werden. Und so wird der alte Kiez tatsäch­lich endgül­tig zur Innen­stadt gehö­ren. Miet­preise olé!

Es gibt nur noch ein einzi­ges großes Kino im Kiez, das Alham­bra. Dieser Neubau wurde voll­kom­men über­di­men­sio­niert geplant und mit jahre­lan­ger Verspä­tung 2002 neu eröff­net. Aber es ist kein Ersatz für das legen­däre Kino an dieser Stelle.

Wir erin­nern uns gerne an die Wieder­auf­füh­run­gen der Filme „Die Halb­star­ken“ mit Horst Buch­holz in der Haupt­rolle und „Scala – total verrückt“, die dem in den 1980er-Jahren bereits herun­ter­ge­kom­me­nen Bezirks­kino noch ein letz­tes Mal über eine längere Zeit ein volles Haus und gute Einnah­men bescher­ten.

Es war die Zeit der Renais­sance von alten deut­schen Nach­kriegs­ko­mö­dien. Die Szene liebte es. Unter­des­sen gehört das Haus zur Cine­plex-Gruppe mit dem Kiez entspre­chen­dem Popcorn-Programm. Auf der „Mü“ findet man heute noch schnell sämt­li­che Typen für die nächste deut­sche Film­ko­mö­die oder das nächste Drama.

Fährt man aber weiter nach Norden, Rich­tung Gesund­brun­nen, wird es immer bunter und leider auch härter. Hier ist die alte „Weddin­ger Mischung“ noch immer ein biss­chen erhal­ten geblie­ben.

Und so mag auch der neue abge­pol­lerte Fahr­rad­weg auf der Müllerstraße eher zur Klien­tel des Spren­gel­kiezes als zur Durch­schnitts­be­völ­ke­rung im Wedding passen. Diese meckert darüber und verbin­det den Umsatz im Geschäft noch immer mit dem Ange­bot von Park­plät­zen für Autos. Wie altmo­disch.

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

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