Die Geschichte von Schering

160 Jahre nach seiner Grün­dung verschwin­det nun der Name Sche­ring aus Berlin. Dabei ist Sche­ring einer der wich­tigs­ten Indus­trie­kon­zerne der Stadt, welt­weit bekannt wie die ande­ren Berli­ner, Siemens, Borsig oder die AEG. Nach­dem der Chemie­kon­zern Bayer die Berli­ner Konkur­renz im Jahr 2006 über­nom­men hatte, wurde der Komplex im Wedding noch fünf Jahre unter als “Bayer Sche­ring Pharma” weiter geführt, dann verschwand der Name Sche­ring. Zurück blieb Bayer aus Lever­ku­sen mit seinem Phar­ma­werk am Wedding­platz.

Wie konnte aus einem klei­nen Betrieb ein Konzern werden, der im Jahre 2010 allein mit zehn Arti­keln mehr als 6,5 Milli­ar­den Umsatz machte?
Der Chemi­ker Ernst Sche­ring suchte Mitte des 19. Jahr­hun­derts einen Laden, um darin eine Apotheke zu eröff­nen. 1851 fand er in der Chaus­see­straße 17, außer­halb der Stadt­mauer hinter dem Orani­en­bur­ger Tor, ein drei­stö­cki­ges Gebäude, die Schmei­ßer­sche Apotheke. Er kaufte das Haus und grün­dete dort die “Grüne Apotheke”. Die Arznei­mit­tel stellte er selbst her, ebenso wie Parfü­me­rie­be­darf, Textil­pfle­ge­mit­tel — und Feuer­werks­kör­per, was damals offen­bar öfter gebraucht wurde.
Nach­dem er für die Herstel­lung seiner phar­ma­zeu­ti­schen Mittel 1855 bei der Pari­ser Welt­aus­stel­lung eine Ehren­me­daille erhielt, entschloss er sich, eine Fabrik für chemisch-phar­ma­zeu­ti­sche Produkte zu bauen. Zwei Kilo­me­ter weiter nörd­lich kaufte Sche­ring in der Müllerstraße ein Grund­stück, genau dort, wo seit­dem Tablet­ten und Salben produ­ziert werden.
Im deutsch-fran­zö­si­schen Krieg 1870 wurde er als einer der Liefe­ran­ten für Medi­ka­mente ausge­wählt, was die Produk­ti­ons­zah­len in die Höhe schie­ßen ließ — Kriege sind eben für bestimmte Indus­trie­zweige schon immer ein Segen gewe­sen. Bereits im folgen­den Jahr verdiente Sche­ring so viel, dass er Reprä­sen­tan­zen in Moskau und St. Peters­burg, Amster­dam, Wien und Glas­gow eröff­nen konnte. Mit einem Grün­dungs­ka­pi­tal von 500.000 Talern wandelt er die Firma 1871 in eine Akti­en­ge­sell­schaft um. In den Grün­der­jah­ren steigt auch Sche­rings Umsatz, 1872 baut er das erste Verwal­tung- und Lager­ge­bäude, das später zum Haupt­haus wurde. Das Gebäude steht teil­weise noch heute, von außen unsicht­bar versteckt es sich hinter hohen Neubau­rie­geln an der Fenn­straße. Direkt an der Müllerstraße befand sich das “Rote Schloss”, es war bis zu seiner Zerstö­rung im Zwei­ten Welt­krieg das Haupt­ge­bäude.

Schon früh setzt der Unter­neh­mer auf eine soziale Versor­gung seiner Arbei­ter und Ange­stell­ten. 1876 grün­det er die “Hilfs-Kran­ken­kasse”, zwei Jahre später einen Alters­ver­sor­gungs­fonds, eine Stif­tung für Arbeits­ju­bi­lare sowie eine Witwen­kasse folgen.

Als Ernst Sche­ring 1889 stirbt, hinter­lässt er nach 48 Jahren eine welt­weit verkau­fende und produ­zie­rende Firma. Die Produkte werden wort­wört­lich in die ganze Welt verschifft, von China und Japan über Indien, Russ­land, Ägyp­ten, Nord- und Südame­rika bis nach Austra­lien. Und natür­lich sind sie in vielen euro­päi­schen Ländern vertre­ten.
Sche­rings Sohn Richard dage­gen mag es klei­ner: Er über­nimmt die alte Grüne Apotheke in der Chaus­see­straße.
Auch in Berlin expan­diert Sche­ring, mehrere Jahr­zehnte lang wird das Zweit­werk am Tege­ler Weg in Char­lot­ten­burg immer größer; bis es schließ­lich Mitte der Zwan­zi­ger Jahre in weiten Teilen geschlos­sen wird. Statt­des­sen eröff­net ein größe­res Werk in Spind­lers­feld, mit Bahn- und Spree­an­schluss.
Selbst während der Welt­wirt­schafts­krise kann Sche­ring expan­die­ren. Nur an eini­gen Sams­ta­gen wird den Arbei­tern frei­ge­ge­ben, ansons­ten geht der Aufstieg weiter. Mitt­ler­weile arbei­ten weit mehr als 20.000 Menschen nur in den deut­schen Fabri­ken, dazu noch­mal soviel in den zahl­rei­chen Betrie­ben auf der ganzen Welt.

Ab 1933 ändert sich auch bei Sche­ring eini­ges. Das Vorstands­mit­glied Paul Neumann flieht aus Deutsch­land, sein Kollege Gregor Stra­ßer dage­gen wird 1934 von den Nazis ermor­det — im Zuge des angeb­li­chen “Röhm-Putsches” gegen die SA. Für die Arbei­ter gilt nun das Führer­prin­zip, der Betriebs­rat ist abge­schafft. Mit Beginn des Zwei­ten Welt­kriegs werden auch zahl­rei­che Sche­ring-Mitar­bei­ter einge­zo­gen, die Firma schickt ihnen Päck­chen an die Front und zahlt den Fami­lien eine Beihilfe. Mit der Einstu­fung als “kriegs­wich­ti­ges Unter­neh­men” kann es manche Härten gegen Mitar­bei­ter verhin­dern.
Gleich­zei­tig nutzt Sche­ring aber ab 1942 auch die Möglich­keit, auslän­di­sche Zwangs­ar­bei­ter einzu­set­zen. Etwa 500 Fran­zo­sen, Belgier und Hollän­der arbei­ten in der Produk­tion. Als die Gestapo 1944 einen soge­nann­ten “Abwehr­be­auf­trag­ten” instal­lie­ren will, wehrt sich der Vorstand dage­gen.
Sofort nach dem Krieg besetzt die Rote Armee die Fabri­ken und beginnt mit der Demon­tage der Ferti­gungs­an­la­gen. Während die Werke in Adlers­hof, Spind­lers­feld und in Ebers­walde verlo­ren sind, kann die Zentrale im Wedding nach dem Einzug der West-Alli­ier­ten lang­sam wieder aufge­baut werden. Selbst während der Blockade 1948/49 gelingt es, die Produk­tion aufrecht zu erhal­ten und sogar Exporte durch­zu­füh­ren. Aller­dings geht der Groß­teil dieser Verkäufe sowieso in die Sowje­tisch besetzte Zone, bis zur Grün­dung der DDR im Herbst 1949.

Da Sche­ring nach dem Krieg auch sämt­li­che Produk­ti­ons­stät­ten in ande­ren Ländern verlo­ren hat, musste die Firma tatsäch­lich wieder sehr weit unten neu anfan­gen. Auch zahl­rei­che Absatz­märkte waren nun verschlos­sen, deshalb gab es bis 1950 zahl­rei­che Entlas­sun­gen und die Einfüh­rung von Kurz­ar­beit. Doch schon 1951, im hunderts­ten Jahr seines Bestehens, ging es wieder berg­auf. Neue auslän­di­sche Absatz­märkte wurden erschlos­sen, Mitte der Fünf­zi­ger beträgt der Export­an­teil schon 50 Prozent. Mehrere nach dem Krieg enteig­nete Fabri­ken in Japan und Südame­rika werden zurück­ge­kauft, das Wirt­schafts­wun­der spült auch bei Sche­ring die Kassen voll. 1960 ist Sche­ring in 102 Ländern vertre­ten. Als ein Jahr später die Mauer gebaut wird, verliert vor allem das Weddin­ger Haupt­werk zahl­rei­che Mitar­bei­ter aus den östli­chen Bezir­ken.

Sche­ring — dieser Name stand 150 Jahre lang für eine Viel­zahl an Produk­ten, und zwar nicht nur aus Medi­ka­men­ten. 1885 war Sche­ring sehr erfolg­reich mit der Produk­tion von Kokain (“Zur Linde­rung von Schmer­zen”), aber der Konzern war auch im schle­si­schen und rhei­ni­schen Berg­bau aktiv, und jahr­zehn­te­lang wich­ti­ger Herstel­ler von Foto­pa­pie­ren und Kame­ras.
Ein guter Phar­ma­kon­zern betreibt zu gleich Forschung und da schon Ernst Sche­ring eigene Entwick­lun­gen durch­führte, wurden Chemi­ker bald genauso wich­tig wie die eigent­li­chen Arbei­ter. Die Forschun­gen führ­ten zu Dutzen­den Paten­ten. Einer der Höhe­punkte war z.B. die Entwick­lung der Anti-Baby-Pille in den 60er Jahren.

Als im Früh­jahr 2006 bekannt wurde, dass die Firma Merck eine Über­nahme der Sche­ring-Aktien plant, gab es ein Rennen zwischen ihr und Bayer aus Lever­ku­sen. Letzt­end­lich setzte sich Bayer durch, zwar gegen den Willen der meis­ten Sche­ring-Beschäf­tig­ten, die jedoch noch weni­ger für eine Über­nahme durch Merck plädier­ten. Im Novem­ber 2010 gab Bayer bekannt, dass auch der Name Sche­ring gestri­chen wird.

Foto: Frido­lin freu­den­fett (Peter Kuley) / CC BY-SA 3.0

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