Martin in Wittenau

Wer in West-Berlin geboren ist oder schon lange dort lebt, kennt den Begriff „Bonnies Ranch“. Gemeint ist die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Wittenau, eine von einst drei „Irrenanstalten“ auf dem Gebiet des heutigen Berlin1. Die KBN wurde 2006, nach 125 Jahren, geschlossen.
Bonnies Ranch war kein Ort, den man einfach mal so besuchte, und wer dort hin ging, wollte wohl zu einem Menschen, der ihm nahesteht. Es war ein trauriger Ort, der nicht nur viel Verzweiflung gesehen hat, sondern auch viel Tod. Am Schlimmsten war die Nazi-Zeit, als tausende Patienten von hier aus als „lebensunwert“ in die Gaskammern gebracht wurden.
Wohl kaum jemand hatte mal ein gutes Gefühl, wenn er von einem Verwandtenbesuch aus Wittenau zurück kam, die Klinik kam mir immer wie eine Einbahnstraße vor. Und so sind auch meine eigenen Erfahrungen mit ihr.

Es ist schon Jahre her. Martin, 23 Jahre, als Junge von Zuhause nach Berlin geflüchtet, weil er die Prügel des Vaters nicht ertragen konnte. Hier kam er in Wohngemeinschaften unter, wechselte oft die Freunde, die doch eher nur Bekannte waren. So traf auch ich ihn irgendwann. Es war, als leuchtete er von innen. Wir verbrachten eine tolle Nacht miteinander, erst im Konzert, später im Bett und dann morgens im Café beim Frühstück. Martin konnte das Landleben, sein voriges Leben, so spannend schildern, dass ich am Liebsten gleich mit dem Trecker hin gefahren wäre. Doch als wir uns am nächsten Abend wiedertrafen, war er betrunken. Ich nahm mir Zeit für ihn, aber eher widerwillig. Ich konnte  noch nie gut mit Menschen umgehen, die besoffen sind.
Einige Wochen später liefen wir uns wieder über den Weg, diesmal war er wieder gut drauf, aber etwas war anders. Erst in der Nacht erfuhr ich, dass er Pillen genommen hatten, keine illegalen Drogen, sondern irgendwelche Medikamente, die seine Psyche verändern, und anscheinend alles durcheinander brachten. Martin war ein sehr trauriger Mensch, der wortwörtlich mit allen Mitteln versuchte, sich das Leben schöner zu machen. Leider mit den falschen Methoden.

Lange hörte ich nichts mehr von ihm, bis mir jemand sagte, Martin hätte einen Selbstmordversuch unternommen. Man hatte ihn aber gefunden und nun ist er in Wittenau. Natürlich machte ich mir Vorwürfe, hätte ich mich um ihn kümmern sollen? Und können? Und hätte er das gewollt? Einen Tag und mehrere Telefonate später durfte ich ihn dort besuchen. Es war das erste Mal, dass ich durch dieses Tor ging. Der Weg zum Haupthaus führt über einen großen Platz, den man nur am Rand entlang gehen darf. Er schüchtert ein. Martin war aber nicht in diesem Gebäude, sondern irgendwo viel weiter hinten. Jetzt erst begriff ich, was diese „Nervenheilanstalt“ für ein riesiger Komplex ist. Von außen sieht man davon gar nichts. Manche Häuser sind durch Tunnel in zehn Meter Höhe verbunden, es gibt sehr viele Mauern und abgeschlossene Türen.
Irgendwann war ich dann auf seiner Station. Sie sah aus wie ein normales Krankenhaus, allerdings mit feinmaschigen Gittern vor den Fenstern. Die Patienten saßen entweder teilnahmslos in der Gegend herum oder aber sie liefen umher, ohne offensichtliches Ziel. Und mittendrin Martin. Ich sah ihm an, dass er sich freute, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Er umarmte mich, aber dann setzte er sich wieder hin und schwieg. Nach einer Weile sagte er, dass er ständig Tabletten nehmen muss, die er aber nicht will. Die Pfleger kontrollieren, ob er sie auch herunter schluckt und dann muss er eine halbe Stunde sitzen bleiben, damit er sie nicht mehr hochwürgen und ausspucken kann. Anfangs haben sie ihn sogar gefesselt, weil er sich gegen alles gewehrt hat.
Martin erzählte, dass er sich dort total unglücklich fühlt. Er spürte, wie sie ihn mit den Medikamenten manipulierten und dass er sich ganz anders verhält, als er es eigentlich will. Ich sollte ihm helfen, dort irgendwie raus zu kommen. Aber bei all den Kontrollen und verschlossenen Türen wäre das wie ein Ausbruch aus dem Knast, wohl kaum zu schaffen.
Ich habe ihn noch zweimal besucht und jedesmal ging es ihm schlechter. Er war verzweifelt, aber gleichzeitig war ihm anscheinend alles egal.

Als ich nach dem dritten Besuch wieder in der U-Bahn nach Hause saß, wusste ich noch nicht, dass ich Martin nicht mehr wiedersehen würde. Ein paar Tage nach meinem Besuch hatten sie ihn wieder gehen lassen und noch am selben Tag starb er.
Ein paarmal bin ich noch dort gewesen, aber niemand war bereit, mir Auskunft zu geben. Weder darüber, was in der Klinik mit ihm passiert ist, noch warum er einfach weggeschickt wurde. Kurz darauf haben sich seine Eltern bei mir gemeldet und gesagt, sie wünschen keine weiteren Nachforschungen durch mich. Die Klinik hatte sie offenbar informiert. Sie sagten, dass sie Martin zu sich geholt und dort beerdigt hätten. Indirekt gaben sie mir die Schuld oder eine Mitschuld für seinen Tod. In seinem Heimatdorf wäre er nicht auf „abartige Ideen“ gekommen. Sie haben nicht begriffen, dass genau diese Einstellung der Grund für seine Flucht gewesen war. Und sie wollten es auch nicht hören.
Obwohl das nun schon viele Jahre her ist, denke ich doch jedesmal dran, wenn ich an diesem Ort vorbei komme. Von ihm geht für mich eine Bedrohung aus, er ist mir unheimlich. Er ist irgendwie wie ein Friedhof.

Foto: Friedrich Albert Schwartz

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  1. Die anderen standen in Lichtenberg und Schöneberg []

2 Kommentare

  1. Depression ist so individuell wie die Menschen und das macht das Helfen so schwer. Erlebe es gerade bei einem Bekannten.

    Es scheint sich was zu tun am Gelände (falls der Artikel einigermassen aktuell ist):
    http://www.abendblatt-berlin.de/2017/09/27/bonhoeffer-klinik-steht-zum-verkauf/

    Auch wenn ich kein grosser Freund von Umbenennungen bin, die U+S-Bahn-Station hätte einen weniger sperrigen Namen verdient. Wie wäre es mit Bonhoefferpark, dann verkaufen sich die Immobilien bestimmt sofort…

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