Das Tintenfass des Bankierssohn

Der Fußweg vom Hause Tempel­ho­fer Ufer 23/24, in dem mein Büro liegt und wo ich diesen Text jetzt schreibe, bis zum Abge­ord­ne­ten­haus von Berlin an der Nieder­kirch­ner­straße dauert zwölf Minu­ten. Neben dem Parla­ment steht ein Gebäude, das nach seinem Archi­tek­ten der Gropius-Bau genannt wird.
(Dieser Archi­tekt war der Groß­on­kel vom Bauhaus-Gropius; wenn man das Haus betrach­tet und an die gewöhn­li­che Entfer­nung vom Onkel zum Neffen denkt, kann man sich Gedan­ken machen über das Tempo der Stil­ge­schichte.)
In diesem Gropius-Bau fand 1991 eine Ausstel­lung statt, die man nicht versäu­men durfte. Sie hieß “Jüdi­sche Lebens­wel­ten”. In ihrem Raum 9 beher­bergte sie einen klei­nen Gegen­stand, zu dem der Spazier­gän­ger aus dem Tempel­ho­fer Ufer auch heute nur wenige Minu­ten braucht; er muss ihn heute frei­lich in west­li­cher Rich­tung, in der Staats­bi­blio­thek in der Pots­da­mer Straße, suchen: 6,8 mal 7 mal 7 cm groß, ein Tinten­fass. Als es seiner­zeit im Gropius-Bau stand, war es das anrüh­rendste Tinten­fass Deutsch­lands. Es ist das Tinten­fass, aus dem Felix Mendels­sohn Bartholdy, 17 Jahre alt, am 26. August 1826 das Musik­stück kompo­nierte, das bis heute der Inbe­griff klas­sisch-roman­ti­scher Musik ist, so schön, wie Walzer von Mozart wären: die Ouver­türe zu Shake­speares Sommer­nachts­traum.
Das anrüh­rende Gefühl, das der Gegen­stand damals 1991 auslöste, beruhte aber nicht nur auf der Verge­gen­ständ­li­chung allein, durch einen trivia­len Gegen­stand verbun­den zu sein mit einem bedeu­ten­den Augen­blick und die Zeit zu über­win­den, sondern auf einer weite­ren aufre­gen­den Tatsa­che: In der Vitrine jenes Raumes 9 jener Ausstel­lung in jenem Gropius-Bau stand dieses Tinten­fass nämlich nur wenige Meter von dem Platz entfernt, an dem es gestan­den hatte, als Felix Mendels­sohn seine Feder darin einge­taucht hatte für seine unsterb­li­chen Noten. Da, wo heute das Abge­ord­ne­ten­haus von Berlin steht, das manche nach einer ihnen näher liegen­den Vergan­gen­heit auch den “Preu­ßi­schen Land­tag” nennen, hatte das Garten­haus des Palais von der Recke gestan­den. Der Bankier Abra­ham Mendels­sohn, Fannys und Felix’ Vater, hatte es mit dem park­ar­ti­gen Garten gekauft; das Palais hatte die Adresse Leip­zi­ger Straße 3; am 19. Novem­ber 1826 spielte Felix Mendels­sohn dort mit seinem Freund Ignaz Mosche­les, dem späte­ren großen Virtuo­sen, die Sommer­nachts­mu­sik auf zwei Klavie­ren seinen Eltern vor. Fanny Mendels­sohn wohnte später in dem Garten­haus mit Hensel, ihrem Mann, der “tout Berlin” schö­ner gezeich­net hat als es war. Als Clara Schu­mann Fanny dort besuchte, sagte sie: “Es gibt keinen schö­ne­ren und bedeu­ten­de­ren Platz in Berlin.” Ein Höhe­punkt der deut­schen bürger­li­chen Kultur war in diesem Anwe­sen der Kinder und Enkel Moses Mendels­sohns erreicht, ehe sie vernich­tet und zerstört wurde und ein paar Häuser von hier aus nach West, in der alten Phil­har­mo­nie, selbst Furtwäng­ler, der es gewiss besser wusste, keine Note von Mendels­sohn mehr spielte.
Auf seinem Mittags­spa­zier­gang besucht der Spazier­gän­ger vom Tempel­ho­fer Ufer Mendels­sohns Grab an der verkehrs­rei­chen Straße und denkt an die Deut­schen und warum sie zerstö­ren, was sie zu ihrem Glücke besä­ßen. Aber die Musik ist noch da; und — wie gesagt — nicht weit vom Tempel­ho­fer Ufer 23/24 auch das Tinten­fass aus Porzel­lan der König­li­chen Porzel­lan­ma­nu­fak­tur.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Manfred Brückels (CC BY-SA 3.0)

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