Silberpappeln der Persephone

Johannisthal um 1920

Ich komme mit der S46 von Halensee. Wo sind die S-Bahnfahrten in Berlin denn nicht Fahrten durch die Stadtgeschichte, die hier ja manchmal die Weltgeschichte war?
Johannisthal ist ein Luftfahrtgeschichtsort. Luftbrücke denke ich, als ich am Tempelhofer Flughafen vorbeifahre, ich hätte auch denken können: Totschlag aus der Luft, Bomben auf Engeland, dann Bomben überall hin. Was ging aus von solchen Plätzen wie Johannisthal? Mein Vater hatte noch das erste Auto in Jena/Thüringen gesehen. In Berlin hatte er sich in S-Bahnschächten verborgen vor dem Tod, den die Luftschiffer, die noch vor kurzem so lustig gewesen waren, herunterwarfen aus den Himmeln, die die Menschen vielleicht doch lieber den Vögeln gelassen hätten.
Mit solchen Gedanken bin ich in Schöneweide. Es regnet. Nach links könnte ich im „Südpol“ Unterstand finden, flaches Café südlich vom Bahnhof, nördlich gibt es ein ähnliches. Aber ich überquere den Sterndamm, den es seit 1892 gibt, aber so eng befahren wie heute ist er wohl noch in keiner seiner Epochen gewesen.
Am Ecksteinweg interessiert mich vor allem der Name. In den 20er Jahren, als Treptow gerade ein Bezirk, der 15., von Berlin geworden war, haben sie hier verschiedene Straßen nach deutschen Kleinschriftstellern genannt, Eckstein, Waiblinger, Allmers, Greif, Hagedorn, Redwitz-Schmölz. Herwegh kam später (und vielleicht sollte ich ihn auch nicht einen Kleinschriftsteller nennen). Also dieser Eckstein zum Beispiel: ein fruchtbar schreibender Mann, Buch auf Buch, mit dem Jahrhundert ist er gestorben; Humor und Geschichte, aber der Humor war nicht witzig und die Geschichte nicht historisch. Dann kamen die Flieger. Nein, es war umgekehrt: Die Flieger waren zuerst in Johannisthal, auch als Straßennamensgeber waren sie früher da, schon im ersten Weltkrieg (natürlich, da wusste man schon, was man an ihnen hatte!) erhielten Engelhard-, Pietschkerstraße ihre Fliegernamen. Pietschker und Engelhard waren 1911 Opfer ihrer Flugleidenschaft geworden, sie gehörten also zu den ersten Opfern dieser Luftleidenschaft, die unterdessen so viele Menschen statt nach oben nach unten gewiesen hat, statt ins Reich der Wolken ins Reich der Schatten. „Silberpappeln der Persephone / Ach, wie rauscht ihr bang in meinen Träumen“: das war der Ton, in dem Eckstein dichtete, so was haben die Luftschiffer vielleicht gelesen.

Mit solchen Gedanken komme ich am Grünen Anger vorbei, einer ganz properen Gegend, AWO-Seniorenzentrum, in AWO-Nähe fühle ich mich immer ein bisschen heimatlich, erst recht bei der SPD, ich habe so viele Jahre meines Lebens dieser Partei gewidmet. Manchmal hätte ich gern ein bisschen von dieser Zeit zurück, ich könnte sie jetzt für was anderes gut gebrauchen, da mir überhaupt die Zeit knapp zu werden droht; SPD Bürgerbüro, der SPD-Bundestags-Direkt-Abgeordnete hat hier sein Büro, ist aber nur mittwochs nachmittags zu sprechen.
Da bin ich nun bei der ersten der drei besuchenswürdigen Johannisthaler Baugeschichtlichkeiten. Hagedorf-/Nieberstraße. In der großen Zeit der sozialdemokratischen Wohnungsbaupolitik für die Hauptstadt, das wohnungselendigliche Berlin, baute hier Jacobus Goettel Ende der 20er Jahre, derselbe, der auch den Ulmenhof in Friedrichsfelde gebaut hat: einen Hofpark. „Stadt und Land“ gibt sich jetzt erfreuliche Mühe, die DDR-verfallenen Blocks wieder farblich und inhaltlich zu beleben. Die Farben sind freundlich. Manche Häuser haben mit ihrer Backsteinstreifigkeit direkt etwas Südländisches.
Die andere architektonische Sehenswürdigkeit Johannisthals liegt zwischen Südostallee und Königsheideweg. 1919 bis 1927, nach einem Bebauungsplan von Bruno Arendt, Häuser von Engelmann, Fangmeyer, Bruno Taut, den auch von anderwärts in Berlin vielbekannten. Zu der dritten Sehenswürdigkeit gelange ich nun, nachdem ich an der freundlichen, mit einem Café versehenen, aber jetzt am Vormittag leider geschlossenen Tanzschule Nass vorbei und durch den herbstlichen Johannisthaler Park hindurch bin, am Sterndamm; der Plattenversuchsbau von Richard Paulick, 1953/54, Großwandplatten in Geschosshöhe, eingebaute Fenster- und Türöffnungen, Dämmschicht aus Lignolithplatten, Trümmersplittbeton, Schornsteinformsteine aus Kiesbeton: „Bauarbeiter, Architekten und Ingenieure! Baut schneller, besser und billiger!“ IV. Parteitag der SED. Dagegen ist – mit Verlaub! – auch heute nichts Meckriges zu sagen. Und „Mehr Wohnungen für die Werktätigen!“, das war schließlich keine Parole, über die man ästhetisch die Nase rümpfen dürfte. Jetzt kommt eine rosarote Farbe dran.

Der Regen nimmt zu, der Wind pfeift mir in den Kragen. Ich suche die Bushaltestelle und stehe, wo Fielitzstraße (über deren Namensgeschichte ich mir meine Gedanken mache), Heubergerweg und Sterndamm zusammentreffen, an einem anderen Eingang nach unten (um ecksteingemäß mit Homer zu sprechen), wo die Geschichte wohnt. Die Kirche der Evangelischen Gemeinde Johannisthal. Der aktuelle Pfarrer heißt Huhn. Wenn man Huhn heißt, freut man sich ja immer, wenn auch ein anderer so heißt. Sachverständigerer ist aber der alte Pfarrer und die freundliche Gemeindesekretärin. Die Kirche ist schmucklos. Ein goldener Engel aber, das 12-jährige Jesuskind, gestiftet aus Oberammergau: „Die Kinder müssen ja was zum Anfassen haben“, sagt die Gemeindesekretärin. Die große Glocke am freien Glockenturm ist aus Bochum, sie war Teilnehmerin der ersten richtigen Weltausstellung, 1873 in Wien. Damals war das Kirchenhaus ein Ausflugslokal, dann ein Ballsaal, kurze Zeit nach dem ersten Weltkrieg ein Kino, seit 1920 eben Kirche: eine gute Geschichte für eine Ortskirche: Ein großer Teil der Geschichte Johannisthals ist in ihr aufgehoben und festgelegt. Bella Vista heißt die Villa gegenüber. Ein schöner Einblick.
Silberpappeln drunten. Donnernder Großstadtverkehr.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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