Der Rosenthaler Platz unterhält sich…

So heißt es in dem ersten moder­nen Groß­stadt­ro­man der deut­schen Lite­ra­tur, “Berlin Alex­an­der­platz” von Alfred Döblin.
Mal hören, was er alles zu erzäh­len hat.

Den heuti­gen Namen Rosen­tha­ler Platz gibt es erst seit 1910. Der Platz selbst ist älter und hieß zunächst “Platz am Rosen­tha­ler Tor”. Er entstand im Zusam­men­hang mit einer Toran­lage. Also war hier einmal die Stadt Berlin zu Ende.
Und Rosen­thal? Etwa ein jüdi­scher Besit­zer oder eine bedeu­tende Persön­lich­keit? Nein. In Berlin war es üblich, die Stadt­tore nach den Ziel­or­ten oder ‑gegen­den zu benen­nen.
So verfuh­ren unsere Urgroß­vä­ter auch mit der Bezeich­nung der Bahn­höfe. In der Nähe gab es z. B. den Stet­ti­ner Bahn­hof. Der wurde 1952 für den Perso­nen­ver­kehr still­ge­legt und, weil im Krieg zerstört, Mitte der fünf­zi­ger Jahre abge­ris­sen. Stet­tin gehörte nach dem 2. Welt­krieg nunmehr zu Polen und hieß Szczec­zin. Das Bahn­hofs­ge­lände erhielt deshalb 1950 den Namen Nord­bahn­hof; der polni­schen Bezeich­nung woll­ten die Behör­den in Ostber­lin nicht folgen.

Das Tor

Über den Platz fährt eine Stra­ßen­bahn und biegt in den Wein­bergs­weg ab. An der Anzeige steht “Rosen­thal-Nord” und die Lini­en­num­mer 53. Sie kommt vom Hacke­schen Markt und braucht gut 40 Minu­ten zu ihrem nörd­li­chen Endpunkt.
Rosen­thal ist heute ein Orts­teil von Pankow. Als dieser 1920 als 19. Verwal­tungs­be­zirk geschaf­fen wurde, kam dieser kleine Flecken zusam­men mit Pankow nach Berlin. Erwähnt wurde der Ort erst­mals 1356. Dorf und Ritter­gut hatten Ende des 17. Jahr­hun­derts dem Kurfürs­ten Fried­rich III. ein “Lust­schloss” zu verdan­ken. Seinem Sohn, dem soge­nann­ten Solda­ten­kö­nig, verging wohl die “Lust”, denn er ließ es abrei­ßen. Im 18. Jahr­hun­dert werden noch Fasa­ne­rie und Wind­mühle verzeich­net, im späten 19. Jh. wurde die Gegend Fäka­li­en­ver­tei­ler von Berlin: es entstan­den Riesel­fel­der.
Also gab das Stadt­tor den Hinweis auf den Weg nach Rosen­thal. Heut­zu­tage erwächst die Verwun­de­rung vor allem daraus, das sich mit dem Ort nichts Großes und Bedeu­ten­des mehr verbin­den lässt. In west­li­cher Nach­bar­schaft stand wenigs­tens ein Orani­en­bur­ger und ein Hambur­ger Tor, in östli­cher hinge­gen “nur” das Schön­hau­ser Tor. Der Ort Nieder­schön­hau­sen, heute eben­falls zum Pankower Bezirk gehö­rig, war auch nicht viel größer, besitzt das Schloss aber noch.

In der baro­cken Forti­fi­ka­tion der Stadt Berlin, wie auch in der mittel­al­ter­li­chen Mauer, gab es ein “Span­dauer Tor”. Zu diesem Stadt­tor führ­ten Stra­ßen, die nicht das Resul­tat einer Stadt­pla­nung waren, sondern alte Verkehrs­wege. Deshalb verwun­dert die Benen­nung nach den verschie­de­nen Orten nicht, denn es galt, die Rich­tung und damit eine Orien­tie­rung zu erhal­ten.
Vor diesem “Span­dauer Tor” entwi­ckelte sich seit dem späten 17. Jh. eine “Vorstadt vor dem Span­dauer Tore”, später Span­dauer Vorstadt genannt, die durch eine neue Stadt­grenze einge­faßt wurde. Nun lag der Anfang des Weges nach Rosen­thal in Berlin, zwischen dem alten, aufge­ge­be­nen und dem neuen Stadt­tor verlief die Rosen­tha­ler Straße. Und was lag näher, als auch das Stadt­tor nach dem klei­nen Ort zu benen­nen?
Schon in der mittel­al­ter­li­chen Stadt Berlin verfuhr man so: die Span­dauer, die Oder­ber­ger (später König‑, heutige Rathaus­straße) und die Stra­lauer Straße führ­ten auf gleich­na­mige Toran­la­gen zu. Nach der Stadt­er­wei­te­rung im 18. Jh. ging man genauso zu Werke: am Ende der Orani­en­bur­ger, der Hambur­ger, Rosen­tha­ler, Schön­hau­ser, Prenz­lauer, Lands­ber­ger und Frank­fur­ter Straße lagen die entspre­chend bezeich­ne­ten Stadt­tore.
Der neue Stadt­rand, die “Linie”, wird uns noch heute durch den Verlauf und die Bezeich­nung der Lini­en­straße verra­ten. Doch war das keine große Vertei­di­gungs­an­lage mehr, sondern eine hölzerne Pali­sa­den­wehr, die in erster Linie Zoll­grenze zu sein hatte. Deshalb ergab es sich fast wie von selbst, an den verschie­dene Schnitt­punk­ten mit Handels- und Verbin­dungs­stra­ßen Stadt­tore einzu­bre­chen, um dort die soge­nannte Akzise, eine seit dem Großen Kurfürs­ten erho­bene Verbrauchs­steuer auf einge­führte Waren, einzu­trei­ben.
Dieses hölzerne Werk hatte nur ein paar Jahr­zehnte Bestand. Es wurde seit 1788 durch eine Stein­mauer mit zum Teil reprä­sen­ta­ti­ven Stadt­to­ren ersetzt. Diese neue Stadt­mauer verlief nicht mehr auf der alten “Linie”, sondern ein paar Meter nach außen verscho­ben, in der heuti­gen Torstraße.
Damit verschwan­den auch die beiden ursprüng­li­chen Pfos­ten des alten Rosen­tha­ler Tores. Noch vor der Voll­endung des Bran­den­bur­ger Tores wurde das Rosen­tha­ler 1787/88 durch den in Bayreuth gebo­re­nen Chris­tian George Unger (1743–1799), der ab 1781 in Berlin tätig war und schließ­lich 1787 den Rang eines Ober­hof­bau­rats erhielt, errich­tet.
Seinen Torbau entwarf er in Anleh­nung an römi­sche Triumph­bö­gen: ein erhöh­tes Mittel­tor, flan­kiert von zwei nied­ri­ge­ren Seiten­durch­gän­gen, über denen große Reli­efs ange­bracht waren. Alle drei Durch­gänge wiesen eine aus Säulen bestehende Rahmung auf, die beiden äuße­ren spran­gen risa­lit­ar­tig hervor und wurden von Drei­eck­gie­beln mit jeweils zwei dahin­ter­ge­setz­ten voll­plas­ti­schen Figu­ren — hand­feste, anti­ki­sie­rende Krie­ger — betont. Den oberen Abschluß bildete ein sich verjün­gen­der Aufsatz mit Girlan­den­mo­tiv und einem bekrö­nen­den Helm­busch. Die nied­ri­ge­ren seit­li­chen Toran­bau­ten in Gestalt von Arka­den setzte Unger in Bogen­form. Sie hatten die Funk­tion, auf der linken Seite in dem “Einneh­mer­haus” die Steu­er­be­hörde und auf der rech­ten die Wach­mann­schaft aufzu­neh­men. Wie heute noch am Bran­den­bur­ger Tor zu sehen.

Die Berli­ner Stadt­tore durfte jeder passie­ren, soweit er sich, wenn er von Ferne kam, entspre­chend auswei­sen konnte und die Akzise entrich­tete. Oft ein hinder­li­ches Proce­dere, aber hier begann auch spür­bar der Rechts­sta­tus einer Stadt.
Dieser war beson­ders für Juden depri­mie­rend. Die jüdi­sche Gemeinde haftete für jedes ihrer Mitglie­der und hatte deshalb schon an der Stadt­grenze ihre Obser­vie­rer, die zunächst als Vermitt­ler und Dolmet­scher zwischen den preu­ßi­schen Beam­ten und den hebrä­isch und jiddisch spre­chen­den Herge­reis­ten tätig waren. Ihre Kompe­tenz ging sogar so weit, mittel­lose und suspekte Perso­nen abzu­wei­sen. Fremde Juden hatten diverse Auskünfte zu liefern, und das bestand nicht nur in der Frage nach dem Woher und Wohin und der Angabe desje­ni­gen, zu dem der Einlass­be­geh­rende — unter Angabe der Gründe — in der Resi­denz­stadt wollte, sondern auch in der Offen­le­gung der Vermö­gens-Verhält­nisse. Solche “Rapporte” sind zum Beispiel im Bran­den­bur­gi­schen Landes-Haupt­ar­chiv erhal­ten geblie­ben.
Die aus der Soli­dar­haf­tung resul­tie­rende Herz­lo­sig­keit der eige­nen Glau­bens­brü­der hielt sich inso­fern in Gren­zen, da es am Rosen­tha­ler Tor eine Juden­her­berge gab. Im ersten Berli­ner Adress-Kalen­der aus dem Jahre 1799 ist ein Gelände spezi­ell für diese Zwecke zwischen “Lini­en­straße” und der an der Stadt­mauer gele­ge­nen “Straße an der Commu­ni­ka­tion” als Baustelle zur Juden­her­berge und diese selbst ange­ge­ben.
Schon ein paar Jahre früher hat Johann Georg Rosen­berg (1739–1808) eine Ansicht Berlins mit dem “Voigt­land” am Rosen­tha­ler Tor durch eine Radie­rung fest­ge­hal­ten, die um 1785 datiert wird. Der Weg im Vorder­grund fällt zur Brun­nen­straße ab. Erst am ande­ren Ende der Straße gibt es auf der linken Seite — stadt­ein­wärts gese­hen — Bebau­ung. Vor einem größe­ren mehr­ge­schos­si­gen Haus ist ein nied­ri­ge­rer Bau mit fünf Schorn­stei­nen zu erken­nen, die Juden­her­berge. Auf einer Zeich­nung von L. L. Müller aus dem Jahre 1807 ist das Bettel­ju­den­haus am Rosen­tha­ler Tor eben­falls vor dem größe­ren Bau, der dem Kauf­mann Streit­horst gehörte, abge­bil­det.
In dem Buch “Salo­mon Maimons Lebens­ge­schichte. Von ihm selbst geschrie­ben und heraus­ge­ge­ben von Karl Phil­ipp Moritz (1792)” wird eine anschau­li­che Beschrei­bung der Situa­tion gege­ben, die sich aus der Kollek­tiv­haf­tung zum einen und der in Berlin gering zu halten­den Zahl an Juden zum ande­ren ergab: Im Spät­som­mer 1777 kommt Maimon als Bettel­jude aus Polen daher und möchte hier Medi­zin studie­ren, wird aber von einem Rabbi bei den Ältes­ten, die über jeden Verbleib entschei­den, wegen seiner “ketze­ri­schen Denkungs­art” ange­schwärzt. Er muss nach ermög­lich­ter Über­nach­tung und dem Erhalt eines Zehr­pfen­nigs als “uner­wünschte Person” weiter­zie­hen. Erst beim zwei­ten Versuch klappt es, auch weil er beim schon berühm­ten Moses Mendels­sohn vorstel­lig werden konnte. Maimon darf für’s erste unan­ge­foch­ten in Berlin blei­ben.
Mendels­sohn war es im Okto­ber 1743 ähnlich schlecht ergan­gen, denn er wurde am Halle­schen Tor ab- und zum Rosen­tha­ler Tor verwie­sen, musste notge­drun­gen um die halbe Stadt laufen. Dass er sich hier Einlass verschuf, war aufgrund seiner Mittel­lo­sig­keit durch­aus erstaun­lich. Doch konnte er, der als 13-Jähri­ger aus Dessau kommend seinem Lehrer Frän­kel gefolgt war, auf eben jenen Rabbi­ner verwei­sen und auf die Frage, was er hier wolle, mit der Antwort verblüf­fen: Lernen. (Thora­stu­dium und das ande­rer Heili­ger Schrif­ten war schließ­lich eine heilige Pflicht.) Er bekommt letzt­lich bei Heimann Bamber­ger in der Probst­gasse eine Dach­kam­mer und zwei­mal in der Woche Essen. Und wird in den nächs­ten Jahren zu einem der bedeu­tends­ten Eman­zi­pa­to­ren des Juden­tums.
So war das Bettel­ju­den­haus eine Berli­ner Beson­der­heit für von außen einrei­sende Juden, sowohl mit der Funk­tion eines kurz­zei­ti­gen Aufent­halts­or­tes für arme Juden, die der Gemeinde in Berlin nur zur Last gefal­len wären, als auch des Heqdesh, was über­setzt wohl­tä­tige Stif­tung heißt und bedeu­tet, dass die oft Kran­ken und Ausge­mer­gel­ten nicht fähig waren, die Rück- oder Weiter­reise anzu­tre­ten und deshalb hier verpflegt und medi­zi­nisch versorgt werden konn­ten.
Genauso ernied­ri­gend war die Zahlung eines Leib­zolls. Ephraim Moses Kuh (1731–1790) lässt in einem Dialog einen Zöll­ner anschau­lich sagen: Das fragst du noch! Weil du ein Jude bist. Wärst du ein Türk’, ein Heid’, ein Athe­ist, so würden wir nicht einen Deut begeh­ren. Als einen Juden müssen wir dich sche­ren. 1 Gar vielen wird das Rosen­tha­ler Tor auch deshalb in schlech­ter Erin­ne­rung geblie­ben sein.

Dieser reprä­sen­ta­tive Torbau stand nicht einmal hundert Jahre. Kurz vor dem Abriss hat ihn der bekannte Berli­ner Photo­graph Albert Schwartz noch aufge­nom­men.
Am 1. Januar 1861 trat nämlich nach einem minis­te­ri­el­len Beschluss das Einge­mein­dungs­ge­setz in Kraft. Nun kamen Wedding und Moabit, sowie die nörd­li­chen Teile Schö­ne­bergs und Tempel­hofs zu Berlin. Das neue Berli­ner Stadt­ge­biet umfasste 5.923 Hektar. Durch die Volks­zäh­lung vom 3. Dezem­ber 1861 kennen wir auch die neue Bevöl­ke­rungs­zahl mit insge­samt 523.678 Perso­nen. War eine Stadt­mauer für steu­er­li­che Belange über­haupt noch nötig? Dass hier das Mili­tär in Form des preu­ßi­schen Kriegs-Minis­te­ri­ums sehr laut­stark gegen einen Abriss protes­tierte, resul­tierte aus der Funk­tion dieser Stadt­grenze nach Innen: bei Aufstän­den und Revol­ten oder beim Ausbruch sozia­ler Konflikte konnte die Innen­stadt der Resi­denz abge­sperrt werden. Der preu­ßi­sche Kriegs­mi­nis­ter von Roon — in Bronze verewigt steht er heute am Großen Stern im Tier­gar­ten — wollte nach dem Abriss der Stein­mauer wenigs­tens einige Stadt­tore für die Mili­tär-Verwal­tung erhal­ten. Schließ­lich entschied der preu­ßi­sche König Wilhelm I. durch eine Kabi­netts­ordre vom 29. Juni 1865, “dass der Abbruch der Stadt­mauer von Berlin, nach­dem die Verle­gung der Steuer-Erhe­bung an die Grenze des enge­ren Steu­er­be­zirks zum 1. Juli d.J. voll­stän­dig bewirkt sein wird, vorge­nom­men und nach und nach zur Ausfüh­rung gebracht werde.” 2 Ein termi­nus post quem. Ein Zeit­punkt also, von dem aus wir den Abbruch dieser Stadt­mauer des 18. Jh. anset­zen können. Und es ist gründ­li­che Arbeit geleis­tet worden: ein klei­nes Stück steht noch in der Hanno­ver­schen Straße am Robert-Koch-Platz, ein ande­res in der Stre­se­mann­straße, jedoch aufgrund von im Boden gefun­de­nen Resten neu aufge­mau­ert.
Den Stadt­to­ren ging es nicht viel besser, obwohl mancher Verlust kaum zu bedau­ern wäre. Das übrige geht auf das Konto des II. Welt­krie­ges. So steht nur noch ein einzi­ges an Ort und Stelle: das Bran­den­bur­ger Tor. Ansons­ten verwei­sen U‑Bahn­hofs-Bezeich­nun­gen auf die ehema­li­gen Stand­orte: Orani­en­bur­ger Tor, Schle­si­sches, Kott­bus­ser und Halle­sches Tor. Und — nicht zu verges­sen — die am Ober­lauf der Spree gele­gene Ober­baum­brü­cke als Erin­ne­rung an eines der beiden Wasser­tore, die zunächst durch massive Baum­stämme geschlos­sen wurden, wodurch sich der Name erklärt. Zu dieser Stadt­grenze gehörte einst auch das nicht mehr exis­tente Rosen­tha­ler Tor.

Durch die Wege, die auf das Rosen­tha­ler Tor zuführ­ten, entstand der Platz vor dem Rosen­tha­ler Tor, nach der Besei­ti­gung des Torbaus eine Stra­ßen­kreu­zung. Derselbe Fakt, das sich vor einem Stadt­tor eine wich­tige Stra­ßen­kreu­zung entwi­ckelte, liegt auch der Heraus­bil­dung des Alex­an­der­plat­zes oder des Pots­da­mer Plat­zes zugrunde. Nur ist der hiesige nie so berühmt und bekannt gewor­den, wie die beiden ande­ren Berli­ner Plätze. Er wird blei­ben, was er war: eine Verkehrs­kreu­zung, bestehend aus mehre­ren aufein­an­der stoßen­den Stra­ßen.
Alfred Döblin nennt sie uns in seinem Roman “Berlin Alex­an­der­platz”. Vom Platz gehen ab die große Brun­nen­straße, die führt nörd­lich, die AEG, liegt an ihr auf der linken Seite vor dem Humboldt­hain. Lag an ihr, denn sie wurde 1996 endgül­tig aufge­löst. Der Name der Straße erin­nert an die Heil­quelle im Wedding, den Gesund­brun­nen, und den Weg zu ihm. Vom Süden kommt die Rosen­tha­ler Straße auf den Platz. Von ihr haben wir schon gehört. In der Elsas­ser Straße haben sie den ganzen Fahr­weg einge­zäunt bis auf eine kleine Rinne. (…) An der Halte­stelle Loth­rin­ger Straße sind eben einge­stie­gen in die 4 vier Leute, zwei ältli­che Frauen, ein beküm­mer­ter einfa­cher Mann und ein Junge mit Mütze und Ohren­klappe. Erstere Straße führte west­li­che zum Orani­en­bur­ger Tor, letz­tere östli­che zum Prenz­lauer Tor. Dort bezog nach dem II. Welt­krieg das Zentral­ko­mi­tee der 1946 gegrün­de­ten SED das ehema­lige Kredit­wa­ren­haus Jonass. Wilhelm Pieck, Mitbe­grün­der der KPD (und ihr Sekre­tär nach der Inhaf­tie­rung Thäl­manns) sowie jener Einheits­par­tei, hatte hier seine Arbeits­stätte. Nach der Grün­dung der DDR im Jahre 1949 wurde er der erste und zugleich letzte DDR-Präsi­dent, dessen Sitz das Schloss Schön­hau­sen war. 1951 tilgte Ostber­lin die Erin­ne­rung an den Gebiets­zu­wachs nach dem Deutsch-Fran­zö­si­schen Krieg von 1870/71 und nannte die Elsäs­ser und Loth­rin­ger Straße kurzer­hand nach dem leben­den Vorbild der Arbei­ter­be­we­gung um. Sein Arbeits­zim­mer blieb nach seinem Tod als Gedenk­zim­mer im “Insti­tut für Marxis­mus-Leni­nis­mus” erhal­ten. Die anläss­lich seines hunderts­ten Geburts­ta­ges im Jahre 1976 am Haus ange­brachte Gedenk­ta­fel ist seit der “Wende” verschwun­den. Mitt­ler­weile auch der Stra­ßen­name. Schließ­lich ist Berlin Bundes­haupt­stadt, Sitz des Bundes­prä­si­den­ten und der Regie­rung. Schließ­lich ist Wilhelm Pieck nicht Bismarck. Und schließ­lich empfahl eine “Unab­hän­gige Kommis­sion zur Umbe­nen­nung von Stra­ßen” 1994 die Rück­be­nen­nung in Torstraße. Proteste blie­ben nicht aus, jedoch der Erfolg. Wer eine Dikta­tur, wie die der Natio­nal­so­zia­lis­ten, bekämpft, um eine neue zu errich­ten, hat in einer Demo­kra­tie keinen Frei­brief. Vielen war dies egal. Den Geschäfts­leu­ten nicht, denn sie muss­ten Adres­sen und Brief­köpfe ändern.
Stadt­füh­rer sind in diesem Punkt aber dank­bare Befür­wor­ter. Denn nun lässt sich ein wich­ti­ger Wachs­tums­ring von Berlin besser darstel­len. Und: der neutrale unpo­li­ti­sche Name ist außer­dem krisen­fest.

Mauer­bau

So wären wir wieder bei jener Stadt­grenze ange­langt, vor der die Straße 1735 als “Commu­ni­ca­tion” ange­legt wurde. Anfang des 19. Jh. hieß dann der Verbin­der an der Stadt­mauer “Thor Straße”. Der östli­che Abschnitt nach dem Rosen­tha­ler Tor wurde 1832 in Wollank­straße umbe­nannt, einer Fami­lie zu Ehren, der unweit des Stadt­to­res nach Rosen­thal auch einmal die Wein­berge gehör­ten. Der Gast­wirt Louis Gräbert hatte dort sogar eine Restau­ra­tion glei­chen Namens: Wollanks Wein­berg. Und rich­tig, da gibt es ja noch den “Wein­bergs­weg”, den hat uns Döblin zunächst glatt­weg unter­schla­gen.
Wein­berge in der Nähe der Zoll­mauer. Durs­tig wird bei dem Gedan­ken keiner. Zunächst waren sie im Besitz eines Feld­mar­schalls, Otto Chris­toph Graf von Sparr (1599–1668). Der Bezirk Prenz­lauer Berg hat in sein neues Stadt­be­zirks­wap­pen immer­hin eine Wein­traube aufge­nom­men. Und von der Rosen­tha­ler Straße geht schließ­lich auch noch eine Wein­meis­ter­straße ab, die durch den Garten des Wein­meis­ters Strohse gelegt wurde. Hieß nicht der süffige Rotwein, der zu DDR-Zeiten durch viele Kehlen floss, Rosen­tha­ler Kadarka? Aber das führt nun wirk­lich auf den Holz­weg, denn damit ist nicht unser Rosen­thal gemeint. Eigent­lich ja auf den Sand­weg, denn wir sind in der Mark Bran­den­burg.

Apro­pos Sand. Dieser berei­tete dem nörd­li­chen Bereich von Berlin große Sorgen. Dabei war der Mensch, wie so oft, selbst der Verur­sa­cher der Plage. Noch in der Zeit des 30-jähri­gen Krie­ges gab es hier ausge­dehnte Wald­flä­chen. Darauf verweist Pfar­rer Kuntze von der nahen Elisa­beth­kir­che in einer Chro­nik von 1855. Doch nicht nur für die neue Umwal­lung Berlins in der 1. Hälfte des 18. Jh. — im Zusam­men­hang mit der Erwei­te­rung der Stadt über die baro­cke Forti­fi­ka­tion hinaus — wurden Hölzer für die Pali­sade gebraucht, sondern auch für die rege Bautä­tig­keit der expan­die­ren­den Stadt. Holz war zudem ein wich­ti­ges Brenn­ma­te­rial, sowohl zum Kochen als auch zum Heizen. Und so schlu­gen die Forst­män­ner die Bäume in den die Stadt umge­ben­den Wäldern, bis diese zuneh­mend verschwan­den, denn der Bedarf war immens. Gehölz-Nach­pflan­zun­gen erfolg­ten jedoch nicht. Dies rächte sich bitter, denn nun galt der Kampf dem lästi­gen Flug- und Treib­sand. Die “Sand­scholle” wurde allmäh­lich wieder bepflanzt, mit wech­seln­dem Erfolg. Das Problem verschwand erst endgül­tig durch die Bebau­ung nörd­lich der Zoll­mauer. Durch sie wird aber auch ein wich­ti­ges Kapi­tel der Besied­lung und Stadt­ent­wick­lung aufge­schla­gen.

Es war die Regie­rungs­zeit Fried­richs II. In Berlin wurde gebaut und daran sind wie heute nicht nur die einhei­mi­schen Bauar­bei­ter betei­ligt, sondern Fremd­ar­bei­ter, Auslän­der. Und Ausland war gleich hinter Bran­den­burg-Preu­ßen.
Fried­rich war nicht nur auf Land­ge­winn aus, sondern auch auf Bevöl­ke­rungs­zu­wachs. Schuld waren die Kriege. Leute ins Land zu werben und sie möglichst zu halten, beseelte deshalb auch schon seine Vorfah­ren.
Der König ließ einen Oberst von Retzow exami­nie­ren, wie es um Saison-Hand­wer­ker stand. Eine Kabi­netts­or­der vom 22. Novem­ber 1751 gab dem Stadt­kom­man­dan­ten von Berlin die Marsch­rich­tung vor. Jener “Gene­ral-Lieu­ten­ant” Graf von Hacke, nach dem der Hacke­sche Markt noch heute benannt ist, sollte zunächst erkun­den, ob die Gesel­len, die in der Sommer­zeit hier arbei­ten, den Winter über aber in ihrer Heimat verwei­len und dort das Geld durch­brin­gen, aus dem Voigt­lande stam­men. Dieses außer Landes gehende Geld möchte der Monarch gern hier zirku­lie­ren sehen. Er forderte daher vor den Toren Berlins die Etablie­rung dieser Perso­nen mit Häusern und Gärten und verweist auf sein gutes Beispiel in Pots­dam, wo er den Sommer über resi­dierte und diese Ordre verfasste. Auch über die Gegend herrschte schon könig­li­che Klar­heit: der Platz vor dem Hambur­ger Tor, “welcher zuvor ordent­lich aufge­nom­men und in Quar­tiere und Stra­ßen einget­hei­let werden müßte, aber alsdann jeder dersel­ben mit einem klei­nen Hause ange­set­zet und ihm ein ziem­lich räum­li­cher Garten­fleck … gege­ben werden könnte, da sie, wenn ihre Maurer- und Zimmer Arbeit vorbey, im Winter leben und sich über­dem durch Spin­nen und derglei­chen Arbeit gantz reich­lich erneh­ren könn­ten, und zwar dieses um so mehr, als Meine inten­tion ist, daß solches Quar­tier alsdann nicht mit unter die accise gezo­gen werden, sondern sie davon gäntzlich befreyet blei­ben soll­ten. 3
So begann 1752 der Bau der Kolo­nis­ten­häu­ser vor dem Rosen­tha­ler Tor. Bis 1755 wurden insge­samt 60 solcher einfa­chen Unter­künfte (an drei Stra­ßen vier Reihen mit je 15 einzeln stehen­den Häusern) errich­tet und die entspre­chen­den Grund­briefe ausge­hän­digt. Ein Stück Garten gehörte jeweils dazu.
Durch die Herkunfts­ge­gend der auslän­di­schen Hand­wer­ker-Fami­lien ergab sich die Bezeich­nung Neu-Voigt­land. Das von dieser Kolo­nie kein einzi­ges Gebäude aus der Erbau­ungs­zeit über­lebt hat, lag weder an der Zerstö­rung im II. Welt­krieg noch am Abriss­ge­bah­ren der DDR. Sie sind einer­seits nicht für die Ewig­keit gebaut, zumal das bauhand­werk­li­che Vermö­gen der Häuser­bauer sehr unter­schied­lich war, ande­rer­seits schon durch die Expan­sion Berlins jenseits der Stadt­mauer im 19. Jh. über­baut worden.
Wer sich ein drei­di­men­sio­na­les Bild von solch einer Kolo­nie machen möchte, der fahre von Berlin aus mit der S‑Bahn Rich­tung Pots­dam und steige in Babels­berg aus, um die Weber­ko­lo­nie Nowa­wes aufzu­su­chen, die zeit­gleich entstand. Hier siedelte Fried­rich II. aus Böhmen stam­mende Zuwan­de­rer in einem Spin­ner­dorf an. In beiden Fällen spielte die Urba­ni­sie­rung brach­lie­gen­der Flächen eine Rolle. Beim Kolo­nis­ten­dorf Nowa­wes kommt durch die Ansied­lung von Arbeits­kräf­ten hinzu, verstärkt vom Ausland unab­hän­gige Wirt­schafts­zweige aufzu­bauen.

Die Bauhand­wer­ker­ko­lo­nie Neu-Voigt­land infi­zierte sich sehr schnell mit einem schlech­ten Ruf. In einer Publi­ka­tion von 1788 heißt es denn auch: “Voigt­land: Eine Vorstadt vor dem Rosen­tha­ler Tor, die den größe­ren Diebes­ban­den von jeher zum Schlupf­win­kel gedient hat. Da sie außer­halb der Ring­mauer auf freiem Feld liegt, so hat das lose Gesin­del hier immer den Rücken frei und kann zur Nacht­zeit seinen Frevel in den umlie­gen­den Dörfern und auf der Heer­straße ausüben.” [3]
Aber dies war nicht der allei­nige Grund. Das Gelände gehörte nicht zum Stadt­ge­biet Berlins, entzog sich poli­zei­li­cher und kirch­li­cher Kontrolle und wurde schnell zum Sammel­be­cken der ärme­ren Bevöl­ke­rung, ange­lockt auch durch die billi­gen Mieten und die Möglich­keit, Gele­gen­heits­ar­bei­ten anzu­neh­men. Der Boden war der denk­bar schlech­teste und so versuch­ten die Bauher­ren durch Verdich­tung der Bebau­ung mehr zu vermie­ten oder auf den Grund­stü­cken Vergnü­gungs­lo­kale und Schank­wirt­schaf­ten zu etablie­ren, da hier nicht die Last der Akzise drückte, keine zusätz­li­chen Steu­er­zah­lun­gen mitbe­dacht werden muss­ten. Die Bausub­stanz war nicht die beste, ebenso der Zustand der Stra­ßen, die bei Einbruch der Dunkel­heit fins­ter blie­ben, genauso wie die Möglich­kei­ten der Entwäs­se­rung.
Diesen Miss­stän­den und unlieb­sa­men Begleit­erschei­nun­gen ein Ende zu berei­ten, forder­ten viele beun­ru­higte Bürger. So auch im Jahre 1800 der Land­rat Pann­witz in einem Schrei­ben an das Berli­ner Poli­zei­prä­si­dium. In dieser Eingabe drang er vor allem auf die Einrich­tung einer Poli­zei­sta­tion und möglichst den Einschluss Neu-Voigt­lands durch die Zoll­mauer, die ja erst seit gut einem Jahr­zehnt an der Torstraße stand. Berlin verwei­gerte sich letz­te­rem, erste­rem aber kam die Stadt nach: Im Sommer 1800 wurde das Poli­zei­re­vier Nr. 19 mit einem einzi­gen Beam­ten geschaf­fen. Dieser Kommis­sar Ebell war völlig über­for­dert, wurde aber von enga­gier­ten Leuten aus der Gegend unter­stützt, die eine Art Bürger­wehr bilde­ten. Er versuchte zunächst den üblen Leumund des Vier­tels zu bessern, indem er vorschlug, den Namen zu tilgen. Gaben sich nämlich die Bewoh­ner als “Voigt­län­der” zu erken­nen, rümpf­ten andere die Nase. Und deshalb wurde der Vorschlag für die Umbe­nen­nung in “Berli­ner Vorstadt” einge­reicht. Dazu soll­ten die Stra­ßen­züge nament­lich kennt­lich gemacht werden und nach Berli­ner Vorbild auch Haus­num­mern bekom­men. Die erste Reihe mit Haus­be­bau­ung sollte Brun­nen­straße, die zweite und dritte Reihe Acker­straße, die vierte Reihe Berg­straße heißen, deswei­te­ren noch Vorschläge für eine Chaussee‑, Garten- und Inva­li­den­straße unter­brei­tet. Tatsäch­lich wurden alle Stra­ßen­na­men so verlie­hen und bestehen nach dem Vorschlag des Kommis­sa­rius Ebell heute noch. Seine Anzeige unter­schrieb er selbst­si­cher mit dem Ort des Absen­ders: Berli­ner Vorstadt, 28. Dezem­ber 1800. Ob es Verdruss darob war, dass sich ausdeh­nende Wohn­quar­tier offi­zi­ell “Rosen­tha­ler Vorstadt” zu benen­nen?
Auch wenn Gerhard Haupt­mann in “Das Aben­teuer meiner Jugend” nicht mehr vom Voigt­land schrieb, heißt es sympto­ma­tisch: Wir kamen im Rosen­tha­ler Vier­tel unter. Es ist eine Gegend, die man kennen muss, um zu wissen, dass sie mit dem Westen Berlins nicht in einem Atem zu nennen ist. Der junge Student bezog im Herbst 1884 Quar­tier in der Klei­nen Rosen­tha­ler Straße 11, aber nur für kurze Zeit. Dann gab es eine neue Adresse: Erkner.
Die Zustands­be­schrei­bung aber blieb, galt in noch schär­fe­ren Maße für den Beginn des 20. Jahr­hun­derts.

Döblin und die 20er

Im Herbst 1927 stieg am Rosen­tha­ler Platz ein Mann aus der Stra­ßen­bahn. Eine fiktive lite­ra­ri­sche Figur namens Franz Biber­kopf, Haupt­per­son aus dem eingangs zitier­ten Roman von Alfred Döblin. Und wie gelangte er hier­her: Mit der 41 in die Stadt. So erteilt uns die Über­schrift des ersten Kapi­tels Auskunft.
Franz Biber­kopf kam aus dem Gefäng­nis in Tegel, wo er vier Jahre wegen Totschlags an seiner Freun­din einsaß, deren Zuhäl­ter er zugleich war. Abge­holt hatte ihn keiner, und so fuhr er allein in seinen “Kiez” zurück. Mit der Stra­ßen­bahn.
Heut­zu­tage fahren — wie früher — nicht wenige Linien über den Platz, aber keine 41 mehr. Die Stadt wurde nach dem 2. Welt­krieg in Sekto­ren geteilt, seit 1961 auch sicht­bar durch die Mauer. Das setzte nicht nur den Menschen, sondern auch dem öffent­li­chen Nahver­kehr zu. 1967 verschwand die Stra­ßen­bahn im West­teil Berlins.
Er stieg unbe­ach­tet wieder aus dem Wagen, war unter Menschen. (…) Man riß das Pflas­ter am Rosen­tha­ler Platz auf, er ging zwischen den ande­ren auf Holz­boh­len. Döblin montiert hier einen Hinweis hinein, den er aber nicht sofort erklärt. Der neugie­rige Leser kann sich darauf noch keinen Reim machen. Handelt es sich denn um die Verle­gung neuer Abwas­ser­rohre oder zieht die BEWAG Strom­lei­tun­gen oder gar die Post Tele­phon­strip­pen? Weder noch.
Seiten später die Auflö­sung: Sieh mal an, die bauen Unter­grund­bahn, muß doch Arbeit geben in Berlin. Klar, die vier Abgänge zur U‑Bahn lassen das sofort erken­nen. An dieser unter­ir­di­schen Bahn­li­nie wurde schon vor dem 1. Welt­krieg geplant und gebaut, doch blieb die Voll­endung im wahrs­ten Sinne des Wortes auf der Stre­cke.

Die erste U‑Bahn fuhr seit 1902 vor allem als Hoch­bahn von der Station “Warschauer Brücke” zur West-City in Char­lot­ten­burg. Im Vorfeld gab es hefti­ges Tauzie­hen um die Gunst der Stadt­vä­ter. Siemens & Halske auf der einen Seite, die AEG auf der ande­ren. Werner von Siemens hatte die besse­ren Karten. Dennoch ließen die Anstren­gun­gen der AEG keines­wegs nach, auch ihre ehrgei­zi­gen Projekte durch­zu­brin­gen.
Die dama­lige Zeit ließ sich vor allem für Schwe­be­bah­nen nach dem Vorbild der bis 1903 in Wupper­tal erbau­ten begeis­tern. So kam es im Septem­ber 1907 nach einer im Mai 1906 im Roten Rathaus gezeig­ten Ausstel­lung zum Aufbau von Probe­stre­cken in Origi­nal­größe in der Brun­nen­straße, kurz vor dem Rosen­tha­ler Platz. Drei Entwürfe von Alfred Gren­an­der, Sepp Kaiser und Bruno Möhring zeig­ten im Vergleich durch­weg Einzel­stüt­zen in Form von T‑Trägern, da diese den gerings­ten Platz­be­darf erfor­der­ten. 1913 muss­ten auf Weisung des Poli­zei­prä­si­den­ten diese ca. 100 m langen Trag­kon­struk­tio­nen wieder abge­ris­sen werden. Das Schwe­be­bahn-Projekt war damit endgül­tig gestor­ben, denn es hatte nicht nur Feinde in Form der Haus­ei­gen­tü­mer, die solch ein Unge­tüm in den Stra­ßen Berlins nicht woll­ten, sondern auch ästhe­ti­sche.
Mit der Absicht, unter der Altstadt die gewach­se­nen Indus­trie­vor­städte Wedding und Neukölln erschlie­ßen zu können, plante die AEG seit 1907 eine kombi­nierte Hoch- und Unter­grund­bahn, deren Ausfüh­rung am 18. März 1912 in einem Vertrag mit der Stadt Berlin besie­gelt wurde und für die Peter Behrens — seit 1907 künst­le­ri­scher Bera­ter der AEG — die Entwürfe lieferte. Für das große Berli­ner Indus­trie-Unter­neh­men spielte diese Verkehrs­an­bin­dung eine entschei­dende Rolle, da sie das Werks­ge­lände unmit­tel­bar tangierte.
Die Urkunde verpflich­tete die AEG bis 30. Septem­ber 1918 mit der Fertig­stel­lung, die wiederum eine 1914 gegrün­dete “AEG-Schnell­bahn AG” über­nahm. Die Betriebs­ge­neh­mi­gung für die GN-Bahn, d.h. Gesund­brun­nen-Neukölln-Bahn, galt für 90 Jahre, also bis 2008. Bei Nicht­er­fül­lung drohte eine saftige jähr­li­che Strafe von 200.000 Mark. Daran war der AEG nicht gele­gen. Der patrio­ti­sche Taumel zu Beginn des 1. Welt­krie­ges ließ noch keine Rück­schlüsse auf das mili­tä­ri­sche Fiasko zu. Doch war für die Schnell­bahn AG ein baumä­ßi­ges bald zu erah­nen, denn aller­orts machte sich ein erheb­li­cher Arbeits­kräfte-Mangel bemerk­bar. Die Stre­cke schnell auszu­füh­ren, berührte außer­dem keine mili­tä­ri­schen Inter­es­sen.
Im Okto­ber 1919 erfolgte die endgül­tige Einstel­lung der Arbei­ten. Die AEG begrün­dete dies gegen­über der Stadt mit den Welt­kriegs-Ereig­nis­sen und der allge­mei­nen wirt­schaft­li­chen Lage und musste dabei nicht einmal etwas an den Haaren herbei­zie­hen. Plötz­lich wurde juris­tisch in die Hände gespuckt: Vertrags­bruch! Das neue Groß-Berlin klagte. Und? Gewann natür­lich, in einem Reichs­ge­richts­ur­teil vom 9. Januar 1923 bestä­tigt. Nach der Liqui­da­tion der “AEG-Schnell­bahn AG” im Jahre 1923 bekam Berlin dieses U‑Bahn-Frag­ment, dessen Weiter­bau die Stadt an die “Nord­süd­bahn AG” über­trug, die bereits die Verbin­dung von Wedding nach Neukölln, sprich Teile der heuti­gen U 6 in der Fried­rich­straße und der U 7, gebaut hatte und deren Aktien sich bereits voll­stän­dig im Besitz der Stadt befan­den. Und dadurch kam es auch zum Bau eines gemein­sa­men Umstei­ge­punk­tes mit der GN-Bahn/U8 am Hermann­platz. Doch zurück zum aufge­ris­se­nen Rosen­tha­ler.

Die Elektri­che Nr. 68 fährt über den Rosen­tha­ler Platz. (…) Die drei Berli­ner Verkehrs­un­ter­neh­men, Stra­ßen­bahn, Hoch- und Unter­grund­bahn, Omni­bus, bilden eine Tarif­ge­mein­schaft. Am 1. Januar 1929 kam es dann schließ­lich zur Bildung der Berli­ner Verkehrs-Aktien-Gesell­schaft, abge­kürzt BVG, vor allem auf Betrei­ben des Sozi­al­de­mo­kra­ten Ernst Reuter, seines Zeichens Stadt­rat. Der Fahr­schein für Erwach­sene kostet 20 Pfen­nig, der Schü­ler-Fahr­schein 10 Pfen­nig. Dies galt nach dem 2. Welt­krieg auch weiter­hin, im Ostteil sogar bis 1990.
Nach­dem im südli­chen Abschnitt schon Teil­stre­cken eröff­net waren, erfolgte die Inbe­trieb­nahme des nörd­li­chen Unter­grund­bahn-Berei­ches von der “Nean­der­straße”, der heuti­gen “Hein­rich-Heine-Straße”, bis “Gesund­brun­nen” am 16. April 1930. Da lag das Werk von Döblin längst auf dem Buch­markt vor und entwi­ckelte sich zum großen Verkaufs­schla­ger. Doch in Berlin und Deutsch­land nur bis 1933, denn nach dem Macht­an­tritt der Natio­nal­so­zia­lis­ten schlug für den jüdi­schen Sozia­lis­ten Döblin eine ganz andere Stunde. Dass Franz Biber­kopf einmal ihre Zeitun­gen unter die Leute brachte, ist zu den Akten gelegt. Immer­hin war der “Völki­sche Beob­ach­ter” noch kein Staats­blatt und brachte dem Verkäu­fer auch Sche­re­reien, denn er wurde eben deshalb von Kommu­nis­ten aus einer Kneipe in der Elsäs­ser Straße hinaus­ge­prü­gelt: Die Strafe beginnt. Derweil fuhr die U‑Bahn unbe­küm­mert weiter. Gegen Ende des Welt­krie­ges brach der U‑Bahnverkehr zusam­men, die Bahn­steige zum Schutz­raum umfunk­tio­niert. Am 16. Juni 1945 war die gesamte Stre­cke jedoch wieder zwei­glei­sig befahr­bar. Das blieb selbst nach der “Siche­rung der Staats­grenze” am 13. August 1961 so. Nur das zwischen dem Kreuz­ber­ger “Moritz­platz” und der Weddin­ger “Volta­straße” kein einzi­ger Zug mehr auf den Ost-Berli­ner Bahn­stei­gen hielt. Auf den neuen, ausschließ­lich den Ostteil zeigen­den Stadt­plä­nen aus dem VEB Tourist Verlag war die Linie gar nicht mehr einge­tra­gen. Wozu auch. Doch nicht alle Spuren wurden rest­los besei­tigt, denn die Abgänge waren noch sicht­bar, so wie die U‑Bahn-Geräu­sche hörbar.
Nach dem Fall der Mauer kam am 22. Dezem­ber 1989 der “Rosen­tha­ler Platz” als zwei­ter wieder eröff­ne­ter U‑Bahnhof der Linie 8 auf den weih­nacht­li­chen Gaben­tisch, da ja die Auf- und Abgänge nicht völlig besei­tigt waren und sich das Zwischen­ge­schoss für die Grenz­kon­trolle anbot. Gar mancher wird in seinem ungül­ti­gen DDR-Reise­pass oder Perso­nal­aus­weis einen solchen Stem­pel haben.
Da mit dem 1. Juli 1990 das Geld schwe­rer wurde, musste ja etwas leich­ter werden: die Grenz­kon­trol­len, diese rein äußer­li­chen Fossi­lien, fielen endgül­tig weg, weil die Währungs­union voll­zo­gen war.

Man mischt sich unter die andern, da vergeht alles, dann merkst du nichts, Kerl. Wir wollen Döblins Biber­kopf nicht verges­sen. Gewim­mel, welch Gewim­mel. Wie sich das bewegte. Mein Brägen hat wohl kein Schmalz mehr, der ist wohl ganz ausge­trock­net. Nach vier Jahren Haft und Abge­schie­den­heit ist der kräf­tige Straf-Entlas­sene von der Groß­stadt über­for­dert. Schreck fuhr in ihn, als … in einer klei­nen Kneipe ein Mann und eine Frau dicht am Fens­ter saßen, die gossen sich Bier aus Seideln in den Hals, ja was war dabei, sie tran­ken eben, sie hatten Gabeln und stachen sich damit Fleisch­stü­cke in den Mund, dann zogen sie die Gabeln wieder heraus und blute­ten nicht. Wenn der Hunger kommt hilft nur eins: den Magen füllen. Aber wo? Vom Süden kommt die Rosen­tha­ler Straße auf den Platz. Wir hörten davon. Drüben gibt Aschin­ger den Leuten zu essen und Bier zu trin­ken, Konzert und Groß­bä­cke­rei. Na bitte. Aber wer oder was ist Aschin­ger? Georg Grosz, ein Zeit­ge­nosse Döblins, der auch eine ganze Menge zu Papier brachte, obwohl bild­künst­le­risch, schrieb dazu in seiner Auto­bio­gra­phie: “Aschin­ger war eine Wohl­tat für hung­rige Künst­ler. Man bestellte einen Teller Erbsen­suppe, der kostete 30 Pfen­nig und war kein Teller sondern eine Terrine. Die Haupt­sa­che aber war: man konnte dazu soviel Brot und Bröt­chen haben, wie man wollte. War der Brot­korb leer, so kam der Kell­ner von selbst und füllte nach (…) Was in unsere Taschen verschwand, wurde nicht bean­stan­det, man durfte es nur nicht so auffäl­lig machen.”
Den Gebrü­dern Aschin­ger aus dem Würt­tem­ber­gi­schen gelang es in Berlin, aus ihren Schnell-Imbis­sen und Steh­bier­hal­len das erste Gast­stät­ten-Impe­rium zu formen. Die Filia­len waren über die ganze Metro­pole verteilt. Heute stehen wir hier etwas verlo­ren da, denn Aschin­ger gibt es nicht mehr am Platz. Wo könnte denn der Schnell-Imbiss nur gewe­sen sein? Lässt jemand seinen Blick eine Runde um den Platz schwei­fen, so bleibt er unwei­ger­lich bei einer ganz moder­nen Fast-Food-Kette hängen: Burger King. Und es ist tatsäch­lich kein Witz, in diesem Gebäude befand sich Aschin­ger. Das kommt mitun­ter vor: bestimmte Orte im Ostteil Berlins werden seit dem Fall der Mauer wieder von ihrer Geschichte einge­holt.
1895 erwarb ein Gast­wirt Aschin­ger in der Rosen­tha­ler Straße das Haus mit der letz­ten Nummer 72a von einem Herrn Halli­ger, der dort eine “Destil­la­tion” hatte. Die Beset­zung der Haus- und vor allem Platz­ecken mit Knei­pen oder Gastro­no­mien war für Berlin typisch. Ein Jahr später sind die beiden Brüder, August und Carl Aschin­ger, einge­tra­gene Besit­zer des Gebäu­des. Sie lassen es im darauf folgen­den Jahr abrei­ßen und eröff­nen im Neubau 1898 ihre “9. Bier­quelle”. Nicht nur die schmack­hafte Erbsen­suppe mit den dazu­ge­ge­be­nen Bröt­chen ist ein Segen für die Gäste. Es wird gern erzählt, dass die Bier­trin­ker eben­falls kosten­los einen Korb mit solcher­lei Back­wa­ren beka­men, Haupt­sa­che sie hatten das Bier. Der Vorschlag für die “Schrip­pen­spei­sung” kam vom Bruder Carl. Er starb 1909, sein Bruder August 49-jährig 1911. Das Fami­li­en­grab befin­det sich übri­gens auf dem “Fried­hof der Luisen­ge­meinde” am Fürs­ten­brun­ner Weg, nörd­lich vom Klini­kum Char­lot­ten­burg.
Doch damit starb das Unter­neh­men noch lange nicht. Im Gegen­teil. Es gelang sogar der Aufstieg in höhere Sphä­ren der Gastro­no­mie. Die Bewir­tung erfolgte nun auch am Leip­zi­ger und Pots­da­mer Platz im Hotel “Fürs­ten­hof” oder “Wein­haus Rhein­gold”, im “Kaiser­hof” am nicht mehr vorhan­de­nen Wilhelm­platz oder in der Gast­stätte am Funk­turm.
Doch stürtzte die Fami­li­en­firma durch die welt­krie­ge­ri­sche Endphase des “Drit­ten Reiches” ab. Davon hat sie sich nicht erho­len können. In Ostber­lin wurde rigo­ros enteig­net, im West­teil versuchte es ein Nach­folge-Unter­neh­men bis 1976. Das heutige Aschin­ger am Kurfürs­ten­damm hat mit dem alten nur noch den Namen gemein. Die 87jährige Schwie­ger­toch­ter von Carl, Anne­liese Aschin­ger, ging 1991 juris­tisch dage­gen an. Zwei Jahre später verstarb auch sie. Legen­den, wie Aschin­ger, leben länger.
Übri­gens gab es zu Biber­kopfs Zeiten noch eine weitere Adresse von Aschin­ger am Rosen­tha­ler Platz, wenn auch nur kurz: Brun­nen­straße 197/198 Ecke Elsas­ser Straße 1/2. In diesem Eckhaus gab es von 1926 bis 1932 die 9. Kondi­to­rei des Fami­li­en­be­trie­bes.

Foto-Geschichte

(…) es lachte, wartete auf der Schutz­in­sel gegen­über Aschin­ger zu zweit oder zu dritt, rauchte Ziga­ret­ten, blät­terte in Zeitun­gen. Ach ja, das wär’s jetzt! Aber die EU-Gesund­heits­mi­nis­ter warnen. Dann viel­leicht doch lieber eine Zeitung?
Der Rosen­tha­ler Platz war jeden­falls auch Fili­al­sitz zweier bekann­ter Zigar­ren­fir­men.
1866 firmierte in der Alex­an­der­straße 03 eine Tabak­s­hand­lung von “Loeser & Wolff”, die im Jahre zuvor von Bern­hard Loeser zusam­men mit Carl Wolff gegrün­det wurde. Auf dem 1888 gemach­ten Photo vom “Hof-Photo­gra­phen Seiner König­li­chen Majes­tät des Prin­zen Karl von Preu­ßen”, F. Albert Schwartz, sehen wir hinter das Eckhaus mit großen Lettern verse­hen, “Loeser & Wolff, Cigar­ren-Fabri­kan­ten”. Die Adresse: “Brun­nen­straße 1, N”. Hinter dem Komma steht der Post­be­zirk.
Der Haupt­sitz der Firma befand sich seit 1867 in der “Alex­an­der­str. 1, C”. Nieder­las­sun­gen gab es reich­lich über die Stadt verteilt, 1901 immer­hin schon 66 Tabak­wa­ren­ge­schäfte. Auf vielen älte­ren Berlin-Photo­gra­phien tauchen gut lesbare Hinweise auf.

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Ein ande­res Photo von Schwartz aus der Zeit um 1865 lässt mit dem Schrift­zug der “Cigar­ren-Fabri­ka­tion” den Schluß zu, es könnte sich um die von “Loeser & Wolff” handeln. Doch der Blick ins Berli­ner Adress­buch belehrt uns eines ande­ren. 1865 war der Besit­zer des Grund­stü­ckes Brun­nen­straße 1 ein Herr “Wind­pfen­nig, Kaufm. Eo”, d.h. er wohnte selbst nicht im Haus. Das änderte sich ein Jahr später. Zu seinen Mietern gehörte nun ein Herr “Peirels, Cigar­ren­fa­bri­kant”, im Berli­ner Adress­buch auch unter der Rubrik Tabak­s­hand­lun­gen in der Brun­nen­straße 1 zu finden. Ein Jahr zuvor tauchte ein Mann namens Peirels noch nicht auf.
1873 gab es keinen Peirels mehr, weder als Mieter noch als Fabri­kant, dafür jedoch einen neuen Vermie­ter, den Schläch­ter Leucht, der als Eigen­tü­mer unter dieser Adresse vermerkt wurde. Plötz­lich taucht auch ein neuer Fabri­kan­ten auf, A. Cohn. Natür­lich für Cigar­ren. Er führte hier wie sein Vorgän­ger eine Tabak­s­hand­lung.
Der Schläch­ter Leucht blieb Besit­zer des Hauses, das 1881 immer­hin schon seine dritte Tabak­s­hand­lung sah: Keine gerin­gere als die von “Loeser & Wolff, Cigar­ren- u. Tabaks­fa­bri­kan­ten, Impor­teure echter Havanna, Cuba u. Manilla-Cigar­ren”. Unter den Komman­di­ten, den Zweig­ge­schäf­ten nämlich, befand sich nun auch die Adresse Brun­nen­straße 1.
Die alte Eckbe­bau­ung mit der Depen­dance des Unter­neh­mens stand nicht mehr lange, denn als 1905 Max Miss­mann, ein weite­rer bekann­ter Photo­graph, seine Kamera am Platz aufstellte und von etwas weiter west­lich seine Aufnahme mit Blick nach Norden machte, stand schon der fünf­ge­schos­sige Neubau. “Loeser & Wolff” empfin­gen ihre Kund­schaft aber weiter­hin an der Ecke im Erdge­schoss. In einer Anzeige aus dem Jahre 1914 warb die Firma mit 120 eige­nen Verkaufs­ge­schäf­ten in Groß-Berlin. Fabri­ken gab es in “Elbing, Brauns­berg, Mari­en­burg und Pr. Star­gard”.
Wie bei Aschin­ger erlebte auch Bern­hard Loeser die große Blüte seiner Firma nicht mehr. Der 1835 in Qued­ling­burg Gebo­rene starb am 2. Mai 1901 in Berlin. Er liegt auf dem Jüdi­schen Fried­hof in Weißen­see begra­ben.

Miss­mann hielt auch die Bebau­ung Weinbergsweg/Lothringer Straße fest, die übri­gens schon vor 1888 stand: Auf dem Bild von Schwartz ist sie ange­schnit­ten zu erken­nen. Deut­lich die Außen­wer­bung: “Carl Martien­zen, Tabak, Cigar­ren”. Die Konkur­renz.
Im Jahre 1865 stand — im Unter­schied zu “Loeser & Wolff” — jener Martien­zen schon unter der Adress­buch-Rubrik Tabaks­fa­bri­kan­ten und nicht nur der entspre­chen­den Hand­lun­gen. Aber auch er hat mal klein ange­fan­gen: 1856 als Tabak­hand­lung in der Holz­markt­straße 40. Dort wurde später reich­lich für das eigene Geschäft produ­ziert. Ab 1867 heißt der neue Stamm­sitz Weber­straße 5, nahe der Großen Frank­fur­ter Straße. Im Berli­ner Adress­buch von 1893 ist unter der Loth­rin­ger Straße 51, der letz­ten Haus­num­mer auf der Nord­seite vor der Stra­ßen­kreu­zung am Rosen­tha­ler Platz, ein Filiale von Carl Martien­zen verzeich­net. 1915 wirbt er noch flei­ßig von seinem Stamm­sitz aus, dem Kontor- und Haupt­la­ger in der “Maga­zin­straße 6/7, O 27”. Dann verliert sich die Spur in Berlin. Erst 1928 taucht der Name wieder werbe­mä­ßig auf, doch handelt es sich nicht mehr um eine Zigar­ren-Fabrik, sondern einen Zigar­ren-Groß­han­del: “Martien­zen & Co, Zigar­ren GmbH, Koppen­straße 94, Post­be­zirk O 17”. 1936 sind sie wieder in der Weber­straße 5. Bis zum Ende des 2. Welt­krie­ges hatte sich das Unter­neh­men Martien­zen gehal­ten. Das jüdi­sche Unter­neh­men “Loeser & Wolff” steht 1940 das letzte Mal im Berli­ner Adress­buch.
Fast ist auf der Photo­gra­phie von 1905 das Apothe­ken-Hinweis­schild am rech­ten Stra­ßen­rand zu über­se­hen. Das gelingt heute nicht mehr: die Germa­nia-Apotheke belegt das gesamte Erdge­schoss. Germa­nia. So sollte die Stadt Berlin ab 1950 nach ihrem Umbau und der Fertig­stel­lung der Nord-Süd-Achse durch die Natio­nal­so­zia­lis­ten heißen. Germa­nia ist die latei­ni­sche Bezeich­nung für Deutsch­land, als Frau­en­ge­stalt aber auch Sinn­bild für dieses Land.
In der Loth­rin­ger Straße 50 war 1889 ein Apothe­ker Riedel Eigen­tü­mer des Hauses und der “Apotheke zur Germa­nia”. In den 20er Jahren heißt sie dann nur noch “Germa­nia-Apotheke”, dieselbe Adresse, nur der Post­be­zirk wurde konkre­ti­siert: N 54. Dann zog sie ins Eckhaus, wo sie noch immer Medi­ka­ment-Bedürf­tige empfängt. Eine lange Tradi­tion. Die längste Konti­nui­tät am Platz.
Von kurzer Dauer war eine ganz andere Geschäfts­tüch­tig­keit im Haus. Die Missmann’sche Aufnahme hält das Werbe­schild für eine “Billard-Fabrik” fest. Der Name ist nicht zu lesen. Der steht seit 1904 im Adress­buch: “Schmidt & Gohlke, Inh. G. Golke (der hier auch zur Miete wohnt), Loth­rin­ger Straße 51, N 54; Perma­nente Ausstel­lung aller Arten Billards. Aner­kannt billige Bezugs­quelle, spezi­ell für Wieder­ver­käu­fer”. 1905: “Eig. Fabri­kate v. 160 M an”. Schließ­lich 1914: “Großes Lag. in Billards aller Art. Pneum. selbst­tä­tige Tisch­bil­lards. Solide Ausführ. Anerk. bill. Preise”. Die Firma begann 1898 in der Kasta­ni­en­al­lee 74, zog 1914 in die Rosen­tha­ler Straße 11/12 und gab schließ­lich am Ende des I. Welt­krie­ges auf. 1922 exis­tier­ten in Berlin nur noch ganze drei Billard­fa­bri­ken. Schlechte Zeiten. Doch nicht zum Spie­len. Kleine Kneipe am Rosen­tha­ler Platz. Vorn spie­len sie Billard, hinten in einer Ecke qual­men zwei Männer und trin­ken Tee. Der eine hat ein schlaf­fes Gesicht und graues Haar, er sitzt in der Pele­rine: “Nun schie­ßen Se los. Aber sitzen Se still, zappeln Se nicht so.” — “Mich krie­gen Sie heute nicht ans Billard. Ich hab keine sichere Hand.” Er kaut an einer trocke­nen Semmel, berührt den Tee nicht. “Sollen Sie gar nicht. Wir sitzen hier gut.”
Pele­rine. Ein weiter, ärmel­lo­ser Umhang. Schützt vor Regen.
Nach zwei Tagen ist es wärmer, Franz hat seinen Mantel verkauft, trägt dicke Unter­wä­sche, die Lina noch von irgend­wo­her hat, steht am Rosen­tha­ler Platz vor Fabischs Konfek­tion, Fabisch & Co., feine Herren­schnei­de­rei nach Maß, gedie­gene Verar­bei­tung und nied­rige Preise sind die Merk­male unse­rer Erzeug­nisse. Franz schreit Schlips­hal­ter aus (…).

Schauen wir noch ein letz­tes Mal auf das Photo von Max Miss­mann. Auf dem in der Mitte abge­bil­de­ten Eckhaus Brunnenstraße/Weinbergsweg fällt mit großen Buch­sta­ben “B. Feder” auf. “Credit-Haus” steht zwischen dem Werbe-Metall­rah­men auf dem Dach geschrie­ben, an der Fassade “Alles gegen Teil­zah­lung” und “Moebel Waaren Ausstel­lungs-Haus”, das über alle Etagen ging. 1893 exis­tierte schon unter der Adresse Brun­nen­straße 1 ein “Waren- u. Möbel-Kredit-Geschäft” von “Bert­hold Feder & Conrad Wachs­mann”. 1896 ist letz­te­rer allei­ni­ger Inha­ber, 1905, zum Zeit­punkt der Aufnahme, ist es schon ein Auswär­ti­ger, Max Heil­brun, aus Sonders­hau­sen in Thürin­gen. Geschäfte, die gut laufen, expan­die­ren, das liegt in der Natur der Sache. 1927 nutzt das Unter­neh­men auch Berei­che des Nach­bar­ge­bäu­des “Brun­nen­straße 2”. Und auf der ande­ren Seite, gleich­sam am Ende der Brun­nen­stra­ßen-Nume­rie­rung, gibt es in der Nr. 197/198 sogar ein Konfek­ti­ons­kre­dit­haus B. Feder. Figu­ren stan­den in den Schau­fens­tern in Anzü­gen, Mänteln, mit Röcken, mit Strümp­fen und Schu­hen. Drau­ßen bewegte sich alles, aber — dahin­ter — war nichts!
Das Möbel­haus über­lebte im Altbau, der im Krieg nicht rest­los zerstört wurde. Zu DDR-Zeiten hat es dies­be­züg­lich eine Fort­füh­rung gege­ben, unter volks­ei­ge­nen Krite­rien. Als die “Wende” vorbei war, schloss der “An- & Verkauf”, sozu­sa­gen ein “Second-Hand-Laden” für Möbel, von wo aus preis­wert so manches gute alte Stück in neue Stuben kam. Nichts war verschmäht. Der 1989 wieder zugäng­lich gemachte U‑Bahnhof verriet einen letz­ten Hinweis: “Wein­bergs­weg ==> Zum HO Möbel­haus”. Das gehörte also auch zur Handels­or­ga­ni­sa­tion “HO”. Die gab’s auch anstatt “Aschin­ger” schräg gegen­über: als HO-Gast­stätte. Als die Mauer noch nicht stand, wurde an die Adresse Berlin-West gewandt vergeb­lich am Pots­da­mer Platz gewor­ben: Der kluge Berli­ner kauft bei der HO. Wenn’s was zu kaufen gab. Werbe-Spott.
Das Gebäude fiel 1998 dem Abriss zwecks Neube­bau­ung zum Opfer; es war zugleich der erste Altbau direkt am Rosen­tha­ler Platz. Somit ist er neben “Loeser & Wolff”, “B. Feder” oder dem HO Möbel­haus längst Geschichte. Die hat eine Frau auf ganz ande­rem Gebiet gemacht. Ihre Filiale zog vorsorg­lich ins Nach­bar­haus. Nach Geschäfts­schluss sind die Schau­fens­ter durch massive Rollä­den geschützt, stär­ker und offen­sicht­li­cher als bei jeder Bank. Aber hier sollen auch keine Begehr­lich­kei­ten mehr geweckt werden, denn mit weit­hin lesba­ren Lettern steht “Beate Uhse” geschrie­ben. Und was stand bei Döblin?
Ein junges Mädchen steigt aus der 99, … Es ist 8 Uhr abends, sie hat eine Noten­mappe unterm Arm, den Krim­m­er­kra­gen hat sie hoch ins Gesicht geschla­gen, die Ecke Brun­nen­straße-Wein­bergs­weg wandert sie hin und her. Ein Mann im Pelz spricht sie an, sie fährt zusam­men, geht rasch auf die andere Seite. Sie steht unter der hohen Laterne, beob­ach­tet die Ecke drüben. Ein älte­rer klei­ner Herr mit Horn­brille erscheint drüben, sie ist sofort bei ihm. Sie geht kichernd neben ihm. Sie ziehen die Brun­nen­straße rauf. (…) “Sagen Sie nicht Tunt­chen zu mir. Das habe ich Ihnen nur gesagt, damit — so neben­bei. Wo laufen wir denn heute hin. Ich muß um neun zu Hause sein.” — “Hier oben. Sind schon da. Wohnt ein Freund von mir. Wir können unge­niert rauf.” — “Ich fürcht mich. Sieht uns auch keiner? Gehen Sie vor. Ich komm allein nach.” Oben lächeln sie sich an. Sie steht in der Ecke. Er hat Mantel und Hut abge­legt, sie lässt sich von ihm Noten­mappe und Hut abneh­men. Dann läuft sie zur Tür, knipst das Licht aus: “Aber heut nicht lange, ich hab so wenig Zeit, ich muss nach Hause, ich zieh mich nicht aus, Sie tun mir nicht weh.”

Die Menschen sind in dieser Bezie­hung offe­ner gewor­den, obwohl es so etwas noch geben soll. Trieb hat sie getrie­ben, sang einst eine DDR-Rock­band. Wie zu allen Zeiten.

Falls nun der scheib­chen­weise zitierte Roman “Berlin Alex­an­der­platz” von Döblin Lust auf mehr gemacht haben sollte, dem sei die Buch­hand­lung wärms­tens empfoh­len, die es seit der Nach­kriegs­zeit am Platz gibt.

Dank an die Buch­hand­lung Starick für die Erlaub­nis zur Doku­men­ta­tion!

Der Autor
Ralph Hoppe, geb. 1962, studierte Kunst­wis­sen­schaf­ten in Berlin und arbei­tet seit 1990 als Stadt­füh­rer und Reise­lei­ter für “Stat­tRei­sen Berlin”.

Abbil­dungs­nach­weis

Albert Schwartz — Das Rosen­tha­ler Tor, 1865, Landes­ar­chiv Berlin
Albert Schwartz — Rosen­tha­ler Platz, 1888, Landes­ar­chiv Berlin
Max Miss­mann — Rosen­tha­ler Platz, 1905, Stadt­mu­seum Berlin (Landes­mu­seum für Kultur und Geschichte Berlins)

Lite­ra­tur­nach­weis
Zitate aus: Alfred Döblin “Berlin Alex­an­der­platz — Die Geschichte von Franz Biber­kopf”, dtv München, 29. Auflage Septem­ber 1990

print
  1. nach: H. Knob­lauch — Herr Moses in Berlin, Morgen­buch Berlin, 1993 []
  2. nach: L. Demps — Pari­ser Platz, Henschel Verlag, 1994 []
  3. nach: Geist/Kürvers — Das Berli­ner Miets­haus 1740–1862, München 1980 []

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Haus der Einheit

Schon viele resi­dier­ten hier: Jüdi­sche Kauf­leute, Nazis, Kommu­nis­ten, Kapi­ta­lis­ten. Es ist eine laute, stark befah­rene Kreu­zung, Prenz­lauer Allee und Torstraße tref­fen hier aufein­an­der. Nur wenige hundert Meter nörd­lich des Alex­an­der­plat­zes ist das soge­nannte Prenz­lauer Tor […]

Weblog

Gedanken zur DDR

Anläss­lich des 70. Jahres­tags der DDR, den sie nie erlebt hat, habe ich den Arti­kel noch­mal hervor­ge­kramt. In Diskus­sionen zur DDR gibt es oft nur zwei Meinun­gen: Dafür oder dage­gen. Manche, die den Staat vertei­di­gen, […]

Berlin

Durchsteckschlüssel

Er ist eine Berli­ner Spezia­li­tät und selbst hier bei uns ist er kaum noch bekannt: Der Durch­steck­schlüs­sel. Längst  wurde er fast über­all von Schlüs­seln moder­ne­rer Zylin­der­schlös­ser abge­löst und doch gibt es noch so einige Berli­ner, […]

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