Unangepasste

Besondere Zeiten bringen besondere Typen hervor. Oder mit sich. So war das auch in den 80ern, als sich viele Gestalten in der Hausbesetzer-Bewegung herumtrieben, die alles andere als normal oder angepasst waren. Mit ein paar von ihnen hatte ich zu tun, sie will ich hier vorstellen. Soweit ich ihre Namen noch weiß, habe ich die meisten von ihnen geändert.

Pistolen-Paul
Äußerlich war er Bud Spencer nicht unähnlich. Er hatte schon einige Jahre Knast hinter sich und war über die „Rote Hilfe“ in die Szene gekommen. Ich lebte mit ihm in einem besetzten Haus in der Oranienstraße zusammen und weil wir beide immer zu wenig Geld hatten, machten wir gemeinsam Einbrüche. Vor allem Kneipen in Kreuzberg und Schöneberg waren unser Ziel. Ich lernte bei Paul das Aufbrechen von Fenstern, Türen und – wenn wir so weit gekommen sind – von Geldkassetten.
Er wurde Pistolen-Paul genannt, weil er nebenbei auch mit illegalen Schusswaffen handelte. Mir gegenüber stritt er das ab, aber im Nachhinein zeigte sich, dass es doch stimmte. Denn Paul war nicht nur ein Ex-Knackie, sondern auch ein Spitzel des Verfassungsschutzes. Das kam raus, kurz nachdem er plötzlich verschwunden war. Er hatte versucht, Pistolen an RAF-Sympathisanten zu verkaufen, aber die sind nicht darauf reingefallen.

Willie
Die besetzten Häuser waren nicht alle gleich, in manchen lebten Leute, die die Gebäude sanieren und toll ausbauen wollten, für andere dagegen waren die Besetzungen Teil ihres politischen Kampfs. In diese Kategorie gehörte das Haus in der Nähe des Oranienplatzes, das als besonders militant galt. Mehr als ein Dutzend seiner Bewohner hatten das Amerikahaus am Bahnhof Zoo gestürmt, besetzt und mit Molotow-Cocktails gegen die Polizei verteidigt. Sie gehörten zu den sogenannten Anti-Imps, die die RAF unterstützten und dafür auch in den Knast gingen.
In diesem Haus gab es eine Wohnung, die ganz anders war, dort wohnte Willie. Er war ein kleiner, schmaler, junger Mann Anfang Zwanzig, der etwas Besonderes ausstrahlte: Er war cool. Aber nicht cool im negativen, arroganten Sinn, sondern einfach nur lässig, in jeder Hinsicht. Das war auch nicht gespielt, sondern absolut authentisch. Sein Zimmer war wie ein Labyrinth, etwas verwunschen, genau wie er.
Irgendwie stand Willie immer über den Dingen, nichts konnte ihm was anhaben. Als ich ihn mal verwundet am Rande einer Straßenschlacht traf, fluchte er gerade darüber, dass sein Halstuch so versaut war. Dass es sein eigenes Blut war, interessierte ihn nicht.
Willie hatte eine Freundin, nebenbei aber auch mehrere Lover. Einer von ihnen war eine Zeitlang Rio Reiser, der damals nur zwei Straßen weiter wohnte. Und auch ich habe ein paar Nächte mit ihm verbracht, was für seine Freundin offenbar kein Problem war.
Er gehörte nicht zu der harten Fraktion in seinem Haus, sondern war ein lebensfroher Mensch und es gab wohl niemanden, der ihn nicht leiden konnte.

Peter und Piet
Die beiden Brüder waren 15 und 16 Jahre alt und gerade aus dem Heim abgehauen. Sie wollten sich nichts mehr von anderen Leuten vorschreiben lassen, und so war es klar, dass sie in einem der besetzten Häuser landen würden. Die beiden waren richtig konsequent in ihrer Ablehnung von Kontrolle, Bevormundung und der bürgerlichen Moral. In unserem Haus zogen sie in die kleine Wohnung einer verstorbenen Rentnerin, die noch komplett eingerichtet war. Dort warfen sie als Erstes sämtliche Spiegel raus. Sie wollten nicht mehr ihr Aussehen kontrollieren, sich dem Schönheitszwang entziehen. Außerdem bauten sie sämtliche Schlösser aus, weil sie als Anarchisten keinen Wert auf Privateigentum legten und jeder sich nehmen sollte, was er braucht. Peter und Piet haben mich in ihrer Konsequenz sehr beeindruckt.

Klaus
Ich lebte damals in einer kleinen Kommune direkt an der Mauer, Leuschnerdamm, am Ende der Welt. Wir hatten den Anspruch, ein freies Haus zu haben, das jedem offen steht, der was zum Leben suchte. Dass Anspruch und Realität manchmal nicht vereinbar sind, merkten wir bei Klaus. Ich sah ihn das erste Mal, als er gerade durch das Dachfenster in unsere Küche sprang. „Kann ich hier wohnen?“, waren seine ersten Worte. OK.
Aber es ging nicht lange gut. Wie die meisten von uns war Klaus Anarchist, allerdings hatte er eine andere Vorstellung davon, was das bedeutete. Ich würde ihn als einen der größten Chaoten bezeichnen, die ich je kennengelernt habe. Weder wollte er sich am Ablauf innerhalb der Kommune beteiligen, noch sah er ein Problem darin, anderen Menschen ihr Eigentum zu klauen oder zu zerstören. Nach ein paar Tagen flog er wieder raus und zog weiter, ins nächste Haus.
Seine Geschichte endete ein paar Monate später. Nach der Räumung mehrerer Häuser prügelte die Polizei in Schöneberg eine Gruppe Protestierer mitten in den fließenden Verkehr der Potsdamer Straße. Klaus war dabei. Er wurde von einem BVG-Bus erfasst, überrollt und getötet.

Der Apache
Wie er hieß, weiß ich nicht. Alle nannten ihn nur den Apachen. Er war ein großer, muskulöser Mann mit langen Haaren. Seine beiden Hunde waren immer bei ihm, auch auf Demonstrationen oder bei Straßenschlachten. Der Apache hatte ein entschlossenes Auftreten, gleichzeitig aber eine ruhige, sanfte, extrem hohe Stimme, die gar nicht zu seinem Äußeren passte. Wenn es vor großen Aktionen Vollversammlungen gab, dann stand er immer mitten drin, ohne jedoch etwas zu sagen. Er stand immer, vielleicht weil das bei Indianern nun mal so ist.
Über Jahre habe ich ihn immer nur allein mit seinen Hunden gesehen. Ich glaube er hatte keine Freunde. Irgendwann habe ich erfahren, dass der Bauwagen, in dem er lebte, abgebrannt ist, nur die Hunde haben überlebt. Es hieß, er habe den Wagen selbst angezündet.

Leila
Sie war klein, höchstens 1,55 Meter, aber man hörte sie immer schon von Weitem. Ihre Stimme war schrill und laut und fast immer schrie sie jemanden an.
Leila gehörte zu einer Gruppe türkischer Maoisten, die bei vielen Aktionen dabei waren. Sie war die pure Propagandistin und wenn man ihr mal widersprach, steigerte sich ihre Wut noch weiter. Unglaublich.
Irgendwann traf ich sie mal nachts am Görlitzer Bahnhof. Ich sah sie kaum, weil sie in einem dunklen Hauseingang stand. Als sie mich bemerkte, drehte sie sich weg. Wir kannten uns ja kaum, eigentlich nur vom Sehen und ein paarmal war ich natürlich auch von ihr angeschrieen worden, wie so ziemlich jeder.
Ich fragte sie, ob ich ihr helfen könnte. Erst antwortete sie nicht, aber dann hörte ich doch ihr Schluchzen. Plötzlich drehte sie sich zu mir und ihr Gesicht war überhaupt nicht mehr hart. Ich nahm sie in den Arm und sie weinte nun hemmungslos.
Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, erzählte sie mir, dass ihr klar geworden war, dass sie überhaupt keine Freunde hat. Niemanden, zu dem sie gehen und sich mal aussprechen oder ausweinen könnte. Ich riet ihr, vielleicht mal etwas weniger hart zu sein, auch mal den Menschen zu sehen, nicht nur den Genossen oder den Feind.
Doch als ich sie das nächste Mal sah, war es wie immer. Sie schrie wieder wie verrückt ihre Parolen, den schwachen Moment in der Nacht hatte sie wohl schon vergessen. Und mich kannte sie auch nicht mehr.

Chrissi
In bewegten Zeiten suchen viele Menschen nach ihrer Position, und manche verirren sich dabei. So auch Chrissi. Er war mit 13 oder 14 Jahren Anarchist geworden und ging in unserem Haus ein und aus. Wir freundeten uns an, diskutierten viel und gingen zusammen auf Demonstrationen und zu anderen Aktionen.
Irgendwann merkte ich, dass es weniger wurde. Chrissi kam nicht mehr so oft vorbei und wenn, dann hatte er nicht mehr so viel Interesse. Ich wusste nur, dass er neue Freunde gefunden hatte, mit denen wollte er jetzt mehr zusammen machen. Das wäre alles nicht schlimm gewesen, aber ich kannte ihn mittlerweile sehr gut und merkte, dass irgendwas passiert war. Aber er wollte nichts sagen.
Das kam dafür einige Wochen später ganz plötzlich. Zu dieser Zeit war er 16 oder 17 Jahre alt. Er saß bei mir und fing plötzlich an zu zittern und zu weinen, es ging fast bis zum Nervenzusammenbruch. Nachdem er sich beruhigt hatte, erzählte er, dass er mit seinen Kumpels eine Aktion geplant hatte, einen Banküberfall. Die anderen waren auch in seinem Alter, nur ihr Anführer, Andreas Sobo, war schon Mitte Zwanzig. Er war es auch, der die Aktion geplant und vorbereitet hatte. Sie wollten ein Auto klauen und nach dem Überfall nach Belgien fliehen. Chrissi hatte Angst, dass das alles schief gehen könnte, er im Knast landet oder vielleicht verletzt werden könnte.
Mir war klar, dass ich das nicht zulassen würde. Ich behielt ihn die ganze Nacht bei mir und redete auf ihn ein. Er wollte nicht abspringen, weil doch seine Freunde dabei waren. Ich konnte ihn überzeugen, dass er jetzt in erster Linie an sich denken müsste. Und ich drohte ihm, die Aktion bei der Polizei zu verraten, wenn er doch mitmachen würde.
Letztendlich habe ich es geschafft, ihn abzuhalten. Die anderen haben es aber durchgezogen. Nach dem Überfall in Westdeutschland sind sie an die Grenze gefahren, wo Andreas Sobo dem Grenzler einen speziellen Ausweis zeigte. Sofort wurden die anderen festgenommen, nur Sobo blieb unbehelligt.
Auch Chrissi wurde kurz darauf verhaftet und kam einige Wochen in Untersuchungshaft. Da er aber an der Aktion selber nicht teilgenommen hatte, kam er mit einer Bewährungsstrafe davon. Die anderen aber bekamen alle Haftstrafen. Beim Prozess wurde zur Gewissheit, was wir eigentlich schon wussten: Andreas Sobo war Agent des Berliner Verfassungsschutzes.
Warum er die Aktion gemacht hat, wurde nicht klar. Beim Prozess brauchte er nicht persönlich auszusagen. Wahrscheinlich wollte er sich beim Geheimdienst profilieren, denn die Jugendlichen waren vorher mit Sicherheit keine gefährliche Gruppe.

Herr Schattner
Als ich noch in die Hauptschule ging, führte mich mein Weg machmal an den Altbauten in der Kohlfurter Straße vorbei. Dort gab es einen kleinen Laden, in dem man Comics und Romanhefte kaufen konnte. Oder tauschen, für zwei Hefte gab es ein anderes. Der Laden war düster und der alte Mann hinter dem Tresen auch. Aber er war wichtig, denn außer den Heften verkaufte er noch etwas anderes: Stinkbomben! Damals war das etwas sehr Nützliches, das in der Schule öfters Anwendung fand.
Ein paar Jahre später, die Hausbesetzerbewegung hatte gerade begonnen, traf ich ihn wieder. Seinen Laden hatte er immer noch, aber er war nun auch an anderer Stelle aktiv.  Er engagierte sich in der Bürgerinitiative SO 36, die verhindern wollte, dass ganz Kreuzberg abgerissen wird und nachher so aussieht wie das Kottbusser Tor heute. Immer wenn die Polizei bei einem besetzten Haus auflief, kam auch Herr Schattner dazu und legte sich mit den Beamten an. Er versuchte immer erst, mit ihnen zu diskutieren, aber wenn das nicht ging, schrie er sie an.
Bei der Räumungsaktion an Fränkelufer gab es stundenlangen Krawall. Wir warfen mit Steinen gegen die Wannen und plötzlich waren mehrere Polizisten zu Fuß hinter mir her. Ich rannte wie um mein Leben und plötzlich zog mich jemand in einen Hauseingang und schloss sofort die massive Holztür ab. Es war Schattner, der mich da gerettet hatte.

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4 Kommentare

  1. Hallo, schön diese Erinnerungen zu lesen und sich selbst zu erinnern… Aber dem guten Herrn Schattner den Namen Schrapper zu verpassen ist nicht nett, denn Schrapper war ein in Kreuzberg gefürchteter brutaler Zivilbulle 1980/81!

  2. @Tomas
    Au weia, Du hast natürlich recht. Schrapper vom Staatsschutz, der immer im Golf durch die Straßen schlich. Den hatte ich verdrängt.
    Hab’s korrigiert, danke für den Hinweis!

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