Aus meiner Friedrichstraße

Den Namen Friedrichstadt für einen Stadtteil von Berlin kennt heute kaum noch jemand. Aber auch sie war einmal jung und vornehm. In der Geradlinigkeit ihrer Anlage bekundete sie ihren Ursprung aus der Zeit des rationalen Städtebaus und eines aufgeklärten Fortschrittwillens. Die quadratischen Häuserblocks waren nicht so anonym nebeneinander gestellt wie in Mannheim. Und wirklich hatte jedes dieser Quadrate sein bürgerliches Eigenleben und seinen biedermeierlichen Nachbarschaftssinn. In einem solchen Quadrat habe ich meine Kindheit verlebt.

Nach Süden hin begrenzte die Französische Straße meinen Block. Der Name war kein bloßer Ausdruck internationaler Höflichkeit. Dort saß um 1880 wirklich noch ein großer Teil der Französischen Kolonie beisammen, die unter dem Großen Kurfürsten begründet worden war. In ihrem weiteren Verlauf nach Osten führte die Straße am Französischen Dom vorbei, in dem noch immer von Zeit zu Zeit Französisch gepredigt wurde. Mit den Nachkommen jener Emigranten und Einwanderer war meine mannigfaltig verwandt. Im Sprachgebrauch meines Vaters lebten noch viele französische Ausdrücke, obwohl er selbst aus einer  sehr alten Berliner Handwerkssippe stammte. Als Kaufmann war er bemüht, immer „au fait“ zu sein, und wenn auch andere es waren, so fand er es „à la bonne heure“.

Im Zuge der Französischen Straße lag das vornehme Delikatesswarengeschäft von Borchardt, das mit an meiner lange nachwirkenden kindlichen Einbildung schuld wurde, es sei in der Welt zu jener Zeit alles in beliebiger Menge erhältlich. Damals ahnte ich noch nicht, dass das gleiche, schon von Bomben beschädigte Haus (als Polizeistelle) 1944 für mich erste Einlieferungsstation auf meinem Wege in das Gefängnis Moabit sein würde. Gegenüber lag das Musikaliengeschäft von Moritz Schlesinger, in dessen Gattin man neuerdings das Urbild von Flauberts Madame Bovary entdeckt hat. Mein unendlicher jugendlicher Durst nach „Noten“ wurde dort befriedigt. Dass Meyerbeer der Gipfel der Opernmusik sei, war mir nicht zweifelhaft. Denn der sich eben durchsetzende Richard Wagner lag noch außerhalb meiner Reichweite.

Bog man in der Charlottenstraße rechtwinklig nach Norden zu um, so war gleich das erste Haus mit Gedenktafeln geschmückt: Dort, in der Weinstube von Lutter und Wegner – bei Wilhelm Raabe heißt sie „Butter und Wagner“ – hatte Ernst Theodor Amadeus Hoffmann dämonisch bewegte Nachtstunden verbracht. Gleich mit ihm, wenn ich nicht irre, wurde Ludwig Devrient gefeiert. Seltsam genug hielt eine andere Tafel daneben den Namen des Literaturprofessors Werder fest, ohne ihn vor dem tatsächlichen Vergessensein schützen zu können. Die Geheimnisse des Schoppenausschanks unten im Keller blieben mir verborgen. Die oberen Räume aber betrat ich nie ohne die fieberhafte Erwartung, dort etwa Matkowsky zu begegnen oder Kainz oder einer der mythischen Gestalten sonst, die mich im nahen Schauspielhaus bezaubert hatten. Sie kamen freilich zu viel späterer Stunde als ich mit meinen Eltern.

Wieder um die Ecke, in der Behrenstraße nach Westen zu, begrüßte mich bei Amsler und Ruthardt eine andere Kunst. Die Bilder, die dort ausgestellt waren, schufen mit die Grundlage einer inneren Bilderwelt von der Renaissance bis zu Adolph Menzel, den wir preußische Berliner ganz als den unsrigen fühlten.

Noch näher zur Friedrichstraße hin befand sich eine jeder „Kellerbudiken“, in denen einfache Ansprüche durch ein nahrhaftes Essen befriedigt wurden. Ich hätte keinen Anlass, gerade an diesem Ort zu verweilen, wenn ich dabei nicht ein Wort des großen Goethe berichtigen müsste, das er ganz kurz vor seinem letzten Geburtstage zu Friedrich Förster geäußert hat. Er sagt da von meinen alten echten Mitbürgern: „Die Berliner Sprachverderber sind eben doch auch zugleich diejenigen, in denen noch eine nationelle Sprachentwicklung bemerkbar ist, z.B. ‚Butterkellertreppengefalle‘. Das ist ein Wort, wie es Aristophanes nicht gewagter hätte bilden können; man fällt ja selbst mit hinunter, ohne eine Stufe zu verfehlen.“ Dem Dichter der Szene in Auerbachs Keller ist es leider verborgen geblieben, dass es sich nur um einen Bullettenkellertreppengefalle gehandelt haben kann.

Aber ich fahre fort, mein Quadrat zu umkreuzen. Vielleicht hätte es sich gehört, mit der Front in der Friedrichstraße selbst zu beginnen. Das Haus, in dem das Geschäft meines Vaters war und in dessen zweitem Stock wir wohnten, gehörte zu den neuen, die in die alte Gemütlichkeit eigentlich nicht hineinpassten. Es war von erdenklichster Nüchternheit. Weiß der Himmel, durch welchen Einfalls des hochangesehenen Erbauers (dessen Witwe Frau Wenzel-Heckmann später der Akademie der Wissenschaften Millionen gespendet hat) auf den Brunnen im Hof ein Abguss des Nürnberger Gänsemännchens gekommen war! Natürlich war dieser Brunnen eine „Plumpe“. Neben unserem Haus aber stand ein Palast, in dem sich eine Filiale von A.W. Faber-Nürnberg befand. Ich glaube noch heute, dass seine unzähligen Bleistifte mich zu meiner ausgedehnten Schreiberei influenziert haben.

Wenn ich aus dem Fenster sah, traf mein Blick das Dach eines altersgrauen Hauses gegenüber. Der Hausnummer nach musste Varnhagen von Ense dort gewohnt haben – also auch die schöne Rahel! Es verschwand bald. Dem Neubau an der Ecke zur Behrenstraße folgte ich bei seiner Entstehung gespannt von Steinlage zu Steinlage. Für ein Kind bedeutet das Werden einer Mauer ein Urerlebnis und eine Urfreude. Es kam dann einer der großen Bierpaläste heraus, die ringsum bald wie Pilze emporwuchsen. Denn leider hatte das Berliner Sprichwort recht, dass die Friedrichstraße die Saufstraße sei. Es wäre mir heilsamer gewesen, in der Laufstraße (Unter den Linden) oder in der Kaufstraße (Leipziger Straße) aufzuwachsen. Außer dem Pschorrbräu aber nahm der stattliche Neubau auch Castans Panoptikum auf, das aus der nordwestlich gegenüber liegenden „Passage“ hierhin verlegt wurde, am alten Ort aber sogleich einen konkurrierenden Nachfolger fand.

Es scheint mir hoffnungslos, dem heutigen Geschlecht die Gemütswirkung klarzumachen, die damals von einem Panoptikum ausging, Hier war wirklich „alles zu sehen“, wie bei Borchardt „alles zu haben“. Wachsfiguren gaben den Grundbestand ab: historische Gestalten, berühmte Zeitgenossen, komische Leute in komischen Situationen. Die „Schreckenskammer“, wie es sich geziemte, kostete „extra“ Eintrittsgeld. Ein Spiegellabyrinth, eine frei in der Luft schwebende Jungfrau (Magneta) und anderes vermehrten den unbeschreiblichen Zauber. Allerdings bot die Konkurrenz in der „Passage“ noch mehr: Da traten exotische Völkerschaften auf, wie die Mädchen von Dahomey. Es hat mir eine Befriedigung bereitet, später im „Stechlin“ festzustellen, dass auch Theodor Fontane sie gesehen hat. in anderen Räumen des lädenreichen Durchgangs gastierte gelegentlich ein Flohzirkus; vor allem aber war da das Kaiserpanorama, der bescheidene Vorläufer des glänzenden Filmwesens, dessen erste mangelhafte Versuche ich um 1897 im Apollotheater gesehen habe. Im Kaiserpanorama saßen die Betrachter farbiger Landschaftsbilder auf Stühlen um einen großen polygonen Kasten herum, und jeder blickte durch sein Guckloch ins Innere. Alle zwei Minuten machte es „kling“ und ein neues Bild rückte vom Nachbarn heran.

Mein Quadrat war, wie ich gestanden habe, ungewöhnlich reich mit Trinkstätten gesegnet. Eine muss ich noch erwähnen: den auf der Gegenseite von Faber neu entstandenen „Rüdesheimer“. Denn dort hat – nur durch eine Wand von mir getrennt – Althoff zahlreiche Berufungsverhandlungen mit Professoren geführt. War das eine Influenz von der anderen Seite?

Der stärkste und nachhaltigste Einfluss aber kam doch von der Straße selbst her, die von Wagen und Menschen tönte; denn der Fahrdamm war mit kostbarem Holzpflaster belegt. Dort zogen die bunten Regimenter mit Musik vorbei, wenn sie zu Übungen auf das noch ganz unbebaute Tempelhofer Feld ausrückten. Jede Truppe hatte für den Berliner ihren besonderen Gemütswert, den größten wohl die „Maikäfer“. Langweilig war die Feldartillerie, weil sie viel Gespanne und wenig Musik brachte. Den Gipfel der Erlebnisfülle im Jahr bedeuteten die beiden Paraden vor dem Kaiser, besonders die große Frühjahrsparade. Der alte Kaiser fuhr in den 80er Jahren nur noch im Wagen hinaus, von den Menschenmauern nach stundenlangem Warten mit überschäumender Begeisterung gegrüßt. Bismarck und Moltke fehlten nicht. Ausländische Fürstlichkeiten ritten à la suite der historischen Fahnenkompagnie. Der junge Kaiser brachte altertümliche Fanfarenmusik auf. Obwohl er meist finster blickte, schien ihn doch der allgemeine Jubel auf dem Pferde, dessen Zügel er eigenartig hielt, vorwärts zu tragen.

Auch mich, das Kind, trugen diese Eindrücke vorwärts – von dem überwiegenden Wohlgefallen an den Kesselpaukern des Regiments Garde du Corps mit den golden blitzenden Rüstungen bis zu dem erwachenden Verständnis, dass das der Staat war, der sich hier von einer seiner Seiten her darstellte, dass es historische Männer waren, die an dem Schauspiel mitwirkten, dass aber diese Männer Ämter, Ideen und Gegnerschaften verkörperten. Stand doch meine Kindheit unter dem Zeichen „Bismarck und der junge Kaiser“! Das begann ich allmählich zu begreifen, nachdem ich in jener bitterkalten Nacht 1888, aus dem Fenster hinausliegend und nach den 300 Meter entfernten „Linden“ hinüberblickend, den Schein der Fackeln gesehen und die düsteren Trauerklänge gehört hatte, die den alten Kaiser bei seiner Bestattung begleiteten.

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