Das falsche „Neue Deutschland“

„Neues Deutschland“ hieß die Parteizeitung der SED, dabei war der Begriff „Deutschland“ eigentlich verpönt. Man nannte sich DDR, wollte seine Eigenständigkeit unterstreichen. Doch der Name des Zentralorgans war eine eingeführte Marke, die in der DDR jeder kannte. Dabei war die auflagenstärkste Zeitung wohl auch die, die am wenigsten gelesen wurde. Der gestelzte Sprachstil übertraf noch das Bürokratendeutsch der Funktionäre, die Inhalte waren systemkonformer als die Partei selbst. Kaum jemand las nach ND freiwillig. Umso erstaunter waren diejenigen, die am Nachmittag des 19. März 1988 plötzlich ein ganz anderes ND in der Hand hielten. Da war auf einmal vom neuen „Glasklar-Kurs“ die Rede (angelehnt an Gorbatschows Glasnost in der Sowjetunion). Angeblich seien 5000 politische Gefangene freigelassen, die Stasi aufgelöst und die Mitglieder des Politbüros entlassen worden. Der Playboy werde in Lizenz als „Spielmann“ verkauft, eine Anzeige der DDR-Reiseveranstalter pries Flüge nach Los Angeles, Rom und Madrid an, „Abflug wahlweise von Tegel oder Schönefeld“.
Es war schon sehr viel auf einmal, so dass eigentlich klar war, dass es sich um eine Fälschung handeln musste. Und genau das war es auch. Unter Mithilfe von DDR-Dissidenten in Ost-Berlin und im westdeutschen Exil sowie mit Unterstützung der Taz hatte Markus Peichl das Projekt realisiert. Er war damals Herausgeber des Lifestyle-Magazins Tempo. Peichl erreichte nicht nur, dass ostdeutsche Oppositionelle ihre Vorstellungen in Form von Artikeln aufschrieben, sondern er organisierte auch den Transport und die Verteilung von ungefähr 6000 Exemplare des falschen „Neuen Deutschlands“. Das nur vierseitige Blatt wurde öffentlich verteilt, in Hausbriefkästen gesteckt, auf Bahnhöfen und anderen Orten ausgelegt. Wieviel DDR-Bürger diese „Sonderausgabe“ ernst genommen haben, ist natürlich nicht bekannt. Wahrscheinlich war der Fake auch zu offensichtlich. Gleichzeitig war es aber eine Ausgabe, die wohl die meisten Ostdeutschen so gerne mal als reguläre Zeitung gelesen hätten.
Dass die Existenz dieser Ausgabe überhaupt breiter bekannt wurde, ist übrigens dem echten Neuen Deutschland zu verdanken. Anstatt die Aktion zu verschweigen, wetterte das SED-Zentralorgan über die „primitive Falschausgabe“. Dadurch erfuhren auch westliche Medien davon, die das dann breit bekannt machten. Über diesen Weg kam die Information zurück in die DDR, wo es viele Bürger im West-Fernsehen sahen. Die gefälschten Ausgaben waren danach so begehrt, wie es das Original-ND niemals war.

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