Oberbaum, Brücke

Schle­si­sches Tor, sagt die Compu­ter­s­tinme mit absin­ken­der Beto­nung, “Ausstieg rechts”, als ob sie erst hätte nach­fra­gen müssen. Aber ich steige nicht aus. Die Zeit ist vorbei, in der die älteste Berli­ner Unter­grund-Hoch-Bahn hier endete. Die Mauer­kie­zig­keit ist verges­sen. Dass es das jemals gege­ben hat, dass Berlin sich das hat gefal­len lassen! Ach, manch­mal hat es gar nicht mehr Berlin sein wollen; sondern Ost und West und hat sich über die Stel­lung der Binde­stri­che gestrit­ten. Der Bogen, auf dem die U‑Bahn nun aber wieder durch die Ober­baum­straße übers Wasser der Spree, des Berli­ner Lebens­flus­ses, auf ihren jetzi­gen Endbahn­hof an der Warschauer Brücke hinschwingt … man liest es hier: beschwingt sogar die Spra­che, die ihn beschrei­ben will. Dieses U‑Bahnstück ist eine Sehens- und Empfin­dungs­wür­dig­keit.

Im Augen­blick, in dem die Bahn ihre bishe­rige West-Ost- in eine Süd-Nord-Rich­tung wech­selt, erreicht sie die Brücke, die auch in diesem Moment der Nähe noch aussieht wie aus dem Spiel­zeug­kas­ten. Aber aus dem Spiel­zeug­kas­ten der Kunst­ge­schichte ist nur das Back­stein­ge­wand; mit den Türm­chen, Spitz­bö­gen, Kreuz­ge­wöl­ben, Zinnen zitiert die Mari­en­kir­che und Mittel­tor­turm aus Prenz­lau und Ueglin­ger Tor aus Stendal. Wer weiß warum. Es wird schon Leute geben, die das genau wissen. Ich will mir mal einbil­den, dass die Mutter des Brücken­bau­meis­ters — er hieß Otto Stahn — aus Prenz­lau und sein Vater aus Stendal stammte; er wollte seinen Eltern eine Freude machen, weil er sie liebte, wie ich die meinen auch. Aber unter dem Back­stein ist Eisen; der Hoch­bahn­via­dukt ist ein metal­le­nes Stück tech­ni­schen Fort­schritts, der heute aller­dings auch schon mehr als hundert ist. Dies­mal, gerade gestern als ich sie benutzte, um diesen Text zu erwan­dern, tat mir die U‑Bahn den plan­wid­ri­gen Gefal­len, mitten auf der Brücke, genau über dem Wasser, anzu­hal­ten, stehen­zu­blei­ben; vor dem östli­chen Fens­ter, vor dem ich saß und nach Westen guckte aufs rote Rathaus hinten, stand das nörd­li­che Türm­chen; ich hätte das Rotbraun der Steine schnell auswen­dig lernen können. Dann kam der Gegen­zug und zog den dicken gelben Strich über das blaue Wasser, der gleich rechts auf dem Trans­pa­rent vor der Fabrik­fas­sade in ein Logo verwan­delt ist, in dem “Ober­baum-City” ein dicker roter Fleck ist, wie von Mirö. “Modern seit 1909”. 1909 bauten die Archi­tek­ten Kampffmeyer und Walt­her (aber das sind nur noch Namen aus Büchern) die Fabrik­ge­bäude gleich östlich der Bahn­trasse für die “Deut­sche Gasglüh­licht AG”, die aus Osmium und Wolf­ram die Osram­lampe erfun­den hatte, die hell war wie sie selbst und die Kassen klin­gen ließ.

Die Bahn­trasse und der Bahn­hof sind von Siemens & Halske und Wittig, “modern seit 1902” könn­ten sie anschrei­ben, aber die Bahn und der Bahn­hof müssen nicht mit Zahlen für sich werben. Der Bahn­hof hat einfach was.
Wenn die U‑Bahn hält und die Menschen aus der U1 (oder 15) alle nach einer Rich­tung ener­gisch ausstei­gen und über die Warschauer Brücke ziel­ge­rich­tet den 200-Meter-Weg zur S‑Bahn antre­ten, die eine Etage unter der Straße verläuft wie die Unter­grund­bahn eine Etage drüber, wenn man jetzt den glück­li­chen Umstand ausnutzt, dass man ein biss­chen Zeit hat, zurück­blei­ben kann auf dem sich schnell menschen­lee­ren­den Bahn­steig, dann muss man sich in Acht nehmen, dass man nicht vor plötz­li­cher Groß­stadt-Begeis­te­rung “0h” ruft neben der U. Da würde der Zugab­fer­ti­ger im stil­ge­rech­ten Dienst­häus­chen drei­mal mit der flachen Hand an seinem Gesicht vorbei­win­ken und “balla­balla” sagen … würde er nicht, das ist ein Groß­städ­ter, der sieht vieles, auch zu dem Penner sagt er nichts, der nach dem Pegel­stand der Vermouth­fla­sche zu urtei­len, die neben ihm steht, schon länger auf dem Draht­git­ter-Sessel­chen zwischen den Glas­wän­den sitzt und nach­liest, wie Deutsch­land gespielt hat in Frank­reich in der Zeitung, die er aus dem Abfall­con­tai­ner­chen gefischt hat: Balla­balla. Da setze ich mich jetzt auch, studiere die west­li­che und östli­che Groß­stadt-Aussicht; die Sonne glit­zert auf den Jalou­sien der WBF, der tüch­ti­gen Wohnungs­bau-Gesell­schaft Fried­richs­hain, die in ihrem Firmen­logo unten am Eingang Warschauer Straße das F auf ein grün­blaues Quadrat schreibt, welches abstürzt oder abhebt und aufsteigt. Das Schräge ist das Gerade?

Das Leere das Erfüllte: Nebenan, in der Ehren­berg­straße, durch die der Südwind den Staub bläst, den Hoch­tief aus den Stei­nen schlägt, versu­che ich mir den Anblick einzu­prä­gen, den es bald nicht mehr zu erbli­cken gibt: die 89jährige Klas­si­zi­tät des Gasglüh­licht-Gebäu­des Nummer III, zur Zeit nur noch Fassade und ein paar tragende Wände, dazwi­schen Nichts, das übers Jahr — hoffe ich doch — voller post­mo­der­nem Leben sein wird.
Durch die Rother­straße zum Warschauer Platz, den die U‑Bahnbögen west­lich und östlich mit zwei Fassa­den bilden, die in Büchern stehen; über die Ludwig-Hoff­mann-Fassade von 1914 hängen die bunten Fahnen, mit denen hier in der ehema­li­gen Höhe­ren Webe­schule die FHTW behaup­tet: Hoch­schu­len bilden Berlin.
Ganz lang­sam wandere ich dann — vorbei am braun­weiß gefleck­ten Eier­kühl­haus — über die Ober­baum­brü­cke durch den Gewöl­be­gang, der so kirch­lich tut, bis er sich in der Brücken­mitte weit öffnet und einen Blick frei­gibt über das Wasser, bei dem man verwei­len muss, ans Gitter gelehnt, welches nervös, aber jeder­zeit vertrau­lich zittert, wenn die U‑Bahn über den Betrach­ter donnert.

Von unten sind die Brücken-Türm­chen Türme, und als ich vor dem Mosaik stehe über der Tür, das den Namen der Brücke weiß-schwarz nennt und zwei Drachen zeigt, links und rechts neben einer stili­sier­ten Rose, als ob sie sich gerade verlobt hätten, denke ich: Da müsste man wohnen, auf der Brücke, über dem Wasser, dicht neben der Bahn. Das erste Haus in Kreuz­berg, gleich links hinter der Brücke, steht zum Verkauf.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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