Unter Strichern

Es ist schon viele Jahre und Kilo­gramm her, dass ich selbst in Berlin auf den Strich gegan­gen bin. Damals noch ganz klas­sisch hinter’m Bahn­hof Zoo. Wir nann­ten den damals unser Zuhause, obwohl die meis­ten gar nicht obdach­los waren. Sie wohn­ten entwe­der noch bei ihren Eltern, was aber in den wenigs­tens Fällen ein wirk­li­ches Zuhause war. Oder sie hatten eine eigene Bude, da kamen dann auch die Kumpels mit unter. Der eine oder andere lebte im Heim, so wie mein Freund Engel­chen. Er war so alt wie ich und wir kann­ten uns schon einige Jahre. Seinen bürger­li­chen Namen wusste außer mir prak­tisch niemand und es war auch nicht nötig. Mich nann­ten ja auch alle nur Andi.

Manche Stri­cher versuch­ten, bei einem Freier unter­zu­kom­men, das klappte aber nur sehr selten. Die meis­ten Männer woll­ten es nicht, weil sie uns nicht trau­ten. Und das nicht zu Unrecht, manch einem Freier wurde die Bude leer­ge­räumt, wenn er gerade nicht da war. Viele von denen waren auch verhei­ra­tet, dort ging es erst recht nicht. Sie versteck­ten ihre sexu­el­len Bedürf­nisse im Alltag und hatten Angst, irgend jemand könnte was merken. Oft sagten sie uns nicht mal ihre Adresse, damit bloß nie einer der Jungs plötz­lich vor der Tür steht. Ich hatte mal einen Freier, dessen Frau arbei­ten war und wir es in ihrem Schlaf­zim­mer trie­ben. Mitten beim Sex bekam er Gewis­sens­bisse und bettelte herum, dass ich niemals einfach so vorbei­kom­men sollte. Er stei­gerte sich so rein, dass er keinen mehr hoch bekam vor lauter Angst. Da half es auch nicht, ihm zigmal zu versi­chern, niemals ohne Verab­re­dung zu ihm zu kommen. Weil er in seiner Panik nun nicht mehr geil war, wollte er mich auch nicht bezah­len. So lief das natür­lich nicht und ich machte mich schon auf eine hand­greif­li­che Ausein­an­der­set­zung mit ihm gefasst. Dann aber sagte ich nur, dass ich eben abends noch­mal vorbei­kom­men würde und auch am nächs­ten Abend und am Abend danach — solange, bis er oder jemand aus seiner Fami­lie mir das Geld geben würde. Das war nicht fair, aber wirkungs­voll.

Am Zoo war der zentrale Ort in West-Berlin, an dem die Stri­cher stan­den. Es gab zwar noch ein paar andere Stel­len, wie bestimmte Disco­the­ken, einige Klap­pen1 und Bars im “schwu­len Drei­eck” in Schö­ne­berg. Nirgendwo aber war es wie am Zoo. Hinter’m Bahn­hof war ein Teil des Bürger­steigs über­dacht, so waren wir etwas unab­hän­gi­ger vom Wetter. Das Problem war dort aber die Poli­zei. Solange wir den Bahn­hof nicht verlie­ßen, konn­ten sie zwar nichts machen, weil damals alle Bahn­ge­bäude und ‑gelände unter DDR-Verwal­tung stan­den. Wenn uns aber die Trapos2 aus dem Bahn­hof schmis­sen, kontrol­lier­ten uns drau­ßen die West-Berli­ner Poli­zis­ten. Wer noch nicht voll­jäh­rig war, wurde mitge­nom­men auf die Wache am Ernst-Reuter-Platz. Von dort holten einen dann die Eltern ab oder man kam ins HKH nach Kreuz­berg. Das Haupt­kin­der­heim in der Ritter­straße war vor allem für seinen “Bunker” gefürch­tet, eine Art Knast­zelle im Keller für beson­ders reni­tente Insas­sen. Aller­dings war es auch eine gewisse Auszeich­nung, schon mal einige Nächte im HKH-Bunker verbracht zu haben. So wie die Medaille nach einer Verlet­zung im Krieg. Viele der Jungs am Bahn­hof Zoo kann­ten den Bunker schon von innen.

Das Leben am Zoo war nicht so schlimm, wie manche es glau­ben. Vor allem Freier spra­chen immer wieder davon, einen dort “raus­ho­len” zu wollen. Als würde man in einem Sumpf stecken, den man ohne Hilfe nicht mehr verlas­sen kann. Und ausge­rech­net dieje­ni­gen soll­ten einen “retten”, wegen denen man dort stand. Dabei waren die meis­ten Stri­cher aus freier Entschei­dung dort. Klar, Frei­wil­lig­keit ist rela­tiv. Hätte es andere Verdienst­mög­lich­kei­ten gege­ben, wären viele nicht am Bahn­hof gewe­sen. Vor allem die Drogies hatten wohl kaum eine Wahl, sie akzep­tier­ten auch alles, was der Freier verlangte, um den nächs­ten Schuss Heroin finan­zie­ren zu können. Aber es war damals kaum jemand dabei, der wirk­lich alles mitge­macht hat.

Ich hielt mich auch von den rich­ti­gen Junkies fern, dafür hatte ich schon früh zu viele Drogen­op­fer gese­hen. Unter meinen Freun­den haben zwar auch welche gedrückt, aber sie hatten das noch im Griff. Zumin­dest für eine gewisse Zeit. Ansons­ten habe ich die Freund­schaft abge­bro­chen, ich hatte viel zu viel Angst vor dem Unter­ge­hen.

Anders als bei den Huren gab es bei den Stri­chern kaum Zuhäl­ter. Einer aber war berüch­tigt, er gab sich als Model­agent aus, auch ich war einmal in seinem schi­cken Loft in Schö­ne­berg. Er suchte sich Jungs aus den schwu­len Kontakt­an­zei­gen im Stadt­ma­ga­zin Tip, spen­dierte ihnen Sex mit ande­ren Jungs, lud sie ins Kino und ins Restau­rant ein und hatte auch Über­nach­tungs­mög­lich­kei­ten. Nach ein paar Tagen sagte er dann, dass das alles natür­lich nicht kosten­los wäre und sie es nun “abar­bei­ten” müss­ten — natür­lich mit Sex. Die Männer, die er für diese Jungs besorgte, waren manch­mal Promi­nente und Leute mit Geld. Wenn man sie “enttäuschte”, gab es auch mal Schläge. Es waren vor allem uner­fah­rene und schüch­terne Jungs, die auf ihn herein­fie­len.

Die meis­ten arbei­te­ten auf eigene Kappe. Wir waren ja alle in einer ähnli­chen Situa­tion, für uns war das Anschaf­fen ein Job — nicht schön, aber rela­tiv gut bezahlt. Andere Jugend­li­che gingen den ganzen Tag in die Ausbil­dung und verdien­ten dabei deut­lich weni­ger als wir. Natür­lich ist Sexar­beit meist unan­ge­nehm, aber es geht schnell und wenn man sich durch­zu­set­zen weiß, ist es auch nicht beson­ders gefähr­lich. Man hat seine Frei­heit, was mir z.B. sehr wich­tig war. Meine Erfah­run­gen mit Chefs waren nicht so gut, vor allem die Unter­ord­nung unter angeb­li­che Auto­ri­tä­ten fiel mir schon damals schwer.

Ich will das Stri­cher­ge­werbe nicht verklä­ren oder idea­li­sie­ren, ich habe auch einige üble Situa­tio­nen erlebt. Sei es mit ekli­gen oder bruta­len Frei­ern, mit der Poli­zei, aber auch mit ande­ren Stri­chern. Es gab ja nur wenige wirk­li­che Freund­schaf­ten, auch wenn man nach außen zusam­men­hielt. Aber natür­lich stan­den wir in Konkur­renz zuein­an­der. 500 oder 1.000 Mark pro Woche machte man nicht, wenn man immer die ande­ren vorließ. Trotz­dem gab es eine gewisse Soli­da­ri­tät, jeden­falls bei den meis­ten. Man half sich, wenn mal jemand keinen Penn­platz hatte, und natür­lich auch bei Stress mit Frei­ern. Einmal gab es einen, der einen Jungen abge­zo­gen hatte. Erst wollte er Sex, bezahlte danach aber nicht. Als er hinter’m Bahn­hof auftauchte, lots­ten wir ihn zu einem angeb­li­chen Quickie ins Gebüsch am BVG-Busbahn­hof. Dort nahmen wir ihm sein Geld ab und gaben es dem Jungen, der von ihm betro­gen worden war. Es war wich­tig, dass man sich wenigs­tens soweit aufein­an­der verlas­sen konnte.

Ich glaube, heute zählt nur noch die Konkur­renz. In Berlin gibt es eh keinen zentra­len Ort mehr, wo viele Jungs stehen, es hat sich auf die Stadt verteilt. Einige Stri­cher­bars gibt es noch, ansons­ten läuft die Geschäfts­an­bah­nung wohl vor allem über’s Inter­net. Das taugt nicht mehr für roman­ti­sche Verklä­rung.

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  1. Öffent­li­che Toilet­ten []
  2. Trans­port-Poli­zis­ten []

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