Kein guter Abend

Es ist kalt. Am Abend geht die Tempe­ra­tur schon weit unter die Null-Grad-Marke, das Laub auf dem Bürger­steig ist glatt. Wer wie ich einen schnel­len Schritt hat, muss aufpas­sen, nicht auszu­rut­schen. Vor allem, wenn man so schwer bepackt ist. Mein Gepäck wiegt mindes­tens zwei Zent­ner, das muss man erst­mal tragen können!
“Hallo, na, auf der Suche nach ein biss­chen Spaß?”
Der Mann, der mich da anspricht, ist weit über 50, in einen dicken Mantel gehüllt und ganz sicher nicht mein Typ.
“Ne, lass mal gut sein, ich steh’ nicht so auf Männer.”
“Das hast du wohl falsch verstan­den”. Er lacht. Dann reicht er mir eine Visi­ten­karte, darauf eine extrem leicht beklei­dete Dame, die für einen Nacht­club in der Nähe wirbt.
“Gib dort die Karte ab, damit kriegst du Rabatt!”
“Was heißt da Rabatt? Eine Nummer zusätz­lich?”
“Nein, aber 5 Euro an der Kasse.”
Ich nehme die Karte, stecke sie in die Mantel­ta­sche und gehe ohne ein Wort weiter. Nun fängt es auch noch an zu regnen, ich gehe schnel­ler, meinem Ziel entge­gen. Die Adresse halte ich fest in meiner Hand.

Außer mir ist kaum noch jemand auf der Straße, dabei ist der Kudamm doch das Zentrum Berlins. Dachte ich. Doch nur die viele Leucht­re­klame und die Weih­nachts­be­leuch­tung in den Bäumen geben sich Mühe, Groß­stadt­at­mo­sphäre zu spie­len.
Ich biege links in eine Seiten­straße ab, hier irgendwo musste doch dieses verdammte Haus sein. Irgend­wie habe ich völlig die Orien­tie­rung verlo­ren. Es ist ja nicht so, dass ich zum ersten Mal hier bin, trotz­dem habe ich mich wohl verlau­fen.
Hier ist es wesent­lich dunk­ler als auf dem Kudamm, nur das Neon­schild “Einfahrt zum Park­haus” spen­det Licht. Leider ist es nicht das Park­haus meiner Ziel­adresse.
Der Regen nimmt zu, wird zu Schnee. Ich habe keinen Schirm, aber wenigs­tens eine Kapuze und so lang­sam zieht die Nässe in meinen Mantel und die Hose.
Auf der ande­ren Stra­ßen­seite sehe ich sche­men­haft einen Mann. Er  steht vor einer Tür, aus der rotes Licht durch die Milch­glas­scheibe dringt. “Und? Auf der Suche nach ein biss­chen Spaß?”
Hatte ich das kürz­lich nicht schon mal gehört?
Ich über­lege kurz, ob ich den nassen Weg nicht durch ein paar nette Stun­den in Damen­be­glei­tung erset­zen sollte. Aber mein Pflicht­ge­fühl sagt Nein.
Gerade als ich weiter­ge­hen will, legt der Mann seinen Arm auf meine Schul­ter. “Komm wenigs­tens für ein paar Minu­ten zum Aufwär­men rein. Brauchst auch nur den halben Eintritt zu zahlen.”
Ich ziehe die Visi­ten­karte raus und er lacht: “Oh, du bist ja schon vorbe­rei­tet.”
Nach hinten ruft er nach einer Nina. Die Dame hat nur wenig mehr am Körper als die auf der Karte. Vom Alter her könnte sie meine Toch­ter sein. Sie gibt sich aber Mühe so zu wirken, als wäre sie so alt wie meine Enke­lin.
“Naaaa, du.… Ganz schön kalt da drau­ßen, was? Komm erst­mal rein und gib deine Sachen an der Garde­robe ab, du Süßer…”
Du Süßer? Das hat nun wirk­lich schon seit Jahr­zehn­ten niemand mehr zu mir gesagt. Aller­dings streube ich mich dage­gen, Mantel und Hose würde ich doch gerne anbe­hal­ten, schließ­lich will ich nur einen heißen Tee trin­ken und dann weiter.
“Tee? So was haben wir hier nicht. Aber ein Sekt­chen, wie wär’s denn damit?”
Ich trinke also einen Piccolo, während ein Ange­stell­ter mein Gepäck nimmt und es an der Garde­robe abgibt.
Ich schaue mich in dem Laden um, in dem sich mehrere junge Damen in kurzen Röck­chen lang­wei­len. Andere Männer sind nicht zu sehen.
Lady Nina schiebt sich während­des­sen auf meinen Schoß und schiebt ihre Finger in meinen Mantel.
“Willst du dich nicht ein biss­chen frei­ma­chen? Wenigs­tens den Mantel auszie­hen, Schätz­chen?”
“Nein, nein, lass mal gut sein. Der Mantel ist schon ganz gut so.”
Ihre Finger wandern lang­sam nach unten und ich merke, wie die Hitze in mir aufsteigt. Sie will mich küssen, aber ich ziehe meinen Kopf weg und flüs­tere fast: “Nein, das will ich nicht.”
“Du bist aber ein ganz Stör­ri­scher, was?”, lästert sie. Ich spüre ihre Verach­tung, am Liebs­ten hätte sie wohl “Verklemm­ter” gesagt. Das ärgert mich, vor allem, weil sie ja Recht hat.
“Nein, ich muss noch arbei­ten, habe heute noch einen Termin.”
“Ach was, bei diesem Wetter? Bleib doch hier bei mir, wir machen es uns gemüt­lich, ja?” Dabei stellt sie mir ein Glas Sekt hin, das ich aus Verle­gen­heit in einem Zug austrinke.
So kann das nicht weiter­ge­hen, denke ich. Entwe­der ich bleibe hier und stürze mit Nina komplett ab — oder ich gehe. Jetzt sofort.
Die Vernunft siegt. Lang­sam stehe ich auf, die Dame fällt mir fast vom Schoß, legt mir aber ihre Arme um den Hals. “Ne, Mädel, das wird heute nichts mit uns beiden. Ich muss wieder los.”
“Aber Süßer, was hast du denn? Bist du etwa schwul? Oder brauchst du Viagra? Ist doch alles kein Problem, haben wir hier!”
“Nein, nein, lass mich.” Unwirsch schließe ich meinen Mantel und gehe zur Garde­robe. Da steht plötz­lich der Ange­stellte neben mir. “Hallo, du musst aber noch bezah­len. Wir bekom­men noch 150 Euro von dir.”
“Wieso 150 Euro? Habe ich den Laden gekauft?”
“Sind wir heute lustig oder was? Eintritt 40, 1 Piccolo und 1 Sekt je 45 Euro, Garde­robe und Trink­geld jeweils einen Zehner.”
“Das sind ja Preise wie im Puff”, schimpfe ich. Der Mann lächelt süffi­sant. Da er aber ansons­ten keinen sehr fried­li­chen Eindruck macht, drücke ich ihm die Scheine abge­zählt in die Hand, nehme meine Sachen und stampfe etwas bene­belt raus. Zwei Sekt sind wohl schon zu viel für mich, sonst trinke ich ja nie Alko­hol. Und dann auch noch zu diesen Prei­sen!
Auf der Straße ist das Wetter nicht besser gewor­den. Aber obwohl ich einen klei­nen Schwips habe, fällt mir wieder ein, wo die Adresse liegt, zu der ich muss. Dort wartet man sicher schon auf mich.

Lang­sam stapfe ich über den Bürger­steig, auf den jetzt nicht nur das nasse Laub liegt, sondern auch noch neu gefal­le­ner Schnee. Worauf habe ich mich da nur wieder einge­las­sen. Ich könnte jetzt so schön zuhause vor dem Kamin sitzen, einen heißen Tee trin­ken und ein gutes Buch lesen.
Dann endlich stehe ich vor dem Haus. Hoch­herr­schaft­lich, mit bron­ze­nem Klin­gel­schild. Der Summer geht, durch die Sprech­an­lage sagt jemand “4. Stock!”
Natür­lich gibt es keinen Fahr­stuhl, also schleppe ich mich mit all meinem Gepäck nach oben. Dort erwar­tet mich schon der Haus­herr und giftet mich an: “Toll, über eine Stunde zu spät. Außer­dem stin­ken Sie nach Alko­hol. Darüber spre­chen wir noch!”
Und während ich mich frus­triert in die Wohnung schiebe, steht er schon im großen Zimmer und ruft fröh­lich: “Kinder, der Weih­nachts­mann ist da!”

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