Buch, Geschenk

Vom Kurfürs­ten­damm nach Buch, mit der S4 von Halen­see um halb Berlin herum: diese 60 Minu­ten sollte jeder Berli­ner gele­gent­lich und jeder Neuber­li­ner ziem­lich zu Anfang seiner Berlin-Lehr­zeit dran­ge­ben: der Erkennt­nis­wert ist groß. Erkennt­nis ist viel­leicht nicht das Wort. Städte werden nicht erkannt. Ande­rer­seits kommt die wirk­li­che Stadt­kennt­nis auch nicht nur aus der Empfin­dung.
Jeden­falls: diese S4-Fahrt gibt einen aufschluss­rei­chen Berlin-Quer­schnitt. Sie führt durch zehn Bezirke oder in dich­ter Sicht­bar­keit daran vorbei; sie über­quert vom Kurfürs­ten­damm zur Haupt­straße, Tempel­ho­fer Damm und Hermann­straße, Karl-Marx-Straße, Sonnen­al­lee, Frank­fur­ter und Lands­ber­ger Allee, Greifs­wal­der Straße, Prenz­lauer Allee mehrere der großen Magis­tra­len, die aus Berlin heraus und auf Berlin zufüh­ren. Mehr­fa­cher großer Passa­gier­wech­sel, bis es schließ­lich hinter Pankow über Blan­ken­burg, Karow so land­schaft­lich entlang geht, dass der Berlin-Neuling — nun schließ­lich in Buch — einen viel dörf­li­che­ren Eindruck erwar­tet, als er ihn vorfin­det.
Das Ensem­ble um den S‑Bahnhof Buch ist zwar nicht gerade elegant, eher buden­haft, aber in der Sonne liegt darüber unter den dicht heran­wach­sen­den alten Eichen etwas zurück­ge­zo­gen Gepfleg­tes; viele Leute sehen medi­zi­nisch aus, Profes­sio­nelle oder Pati­en­ten der beiden großen Klinika, die den Namen Buchs bis in die wissen­schaft­li­chen Zeit­schrif­ten brin­gen.

Wir sind aber heute nur wegen der Kirche gekom­men, gehen also die Wilt­berg­straße — den Park zunächst zur Linken lassend — bis Alt-Buch. Da haben wir das Ensem­ble bald vor Augen: linker Hand die seit 1943 turm­lose Barock­kir­che, 1731 bis 36 erbaut, in mitt­le­rem Verfalls­zu­stand, zur Rech­ten das Pfarr­haus, das vor den anschlie­ßen­den Plat­ten­hoch­bau­ten wie ein entfern­ter Able­ger von Goethes Garten­haus wirkt. “Dass der Solda­ten­kö­nig so was in Preu­ßen zuge­las­sen hat!”, wundert sich Jagusch, der Foto­graf, später; aber der glanz­lose Fins­ter­ling, dem die Solda­ten — das rechne man ihm hoch an — aller­dings zu schade waren, um sie in Krie­gen umbrin­gen zu lassen, hat den Barock auch gar nicht zuge­las­sen.

Dies ist keine könig­li­che, sondern eine private Kirche. Der Privat­mann, der sie bezahlte, hieß von Vier­eck; der Solda­ten­kö­nig maulte, der Vier­eck, der sein Minis­ter war, solle etwas weni­ger faul sein. Aber hier in Buch war er ja über­haupt nicht faul. Die Kirche bringt ein Stück säch­si­schen, Dresd­ner Glan­zes ins dürre preu­ßi­sche Gloria. Der Baumeis­ter, Fried­rich Wilhelm Dite­richs, hat später ganz ähnlich auch die aus der Wirk­lich­keit leider verschwun­dene Böhmi­sche Kirche gebaut, deren Grund­riss immer­hin man seit kurzem auf dem Stra­ßen­pflas­ter der Berli­ner Mauer­straße able­sen kann. Fontane schreibt viele Seiten über Geschich­ten aus der Bucher Kirchen­ge­schichte; zwei alte Damen haben gestern auf dem Kirch­hof die Liebes­ge­schichte, die zu diesem Anek­do­ten­ar­ran­ge­ment gehört, Manne Jagusch, dem Foto­gra­fen, wieder­erzählt. Verges­sen haben sie dabei, dass der in dieser Geschichte figu­rie­rende Preu­ßen­kö­nig ein Dunkel­mann war, der die Zeit nicht begriff, nicht die, die kam und auch die nicht, die neben ihm zuende ging. Julie von Voss hieß die Frau, die als Opfer dieser soge­nann­ten Liebes­ge­schichte nun schon über zwei Jahr­hun­derte unter der Kirche auf die Aufer­ste­hung wartet, die ihr bisher immer nur in diesen klei­nen Geschich­ten zuteil wird.

Neben der Kirche liegt der weite gepflas­terte Guts­hof. In den Stal­lun­gen und Spei­chern unter­hält die Akade­mie der Künste Ateliers. Was man sonst nicht mehr gebrau­chen kann, ist immer noch gut für “Kunst”; Kunst als Nutzungs­sur­ro­gat. Die Akade­mie macht hier einen etwas abge­scho­be­nen Eindruck oder sagen wir: sie wirkt sehr selbst­ge­nüg­sam. Wenn die Ausstel­lun­gen gehängt und in den Karrie­re­ver­zeich­nis­sen regis­triert sind, ist es egal, ob jemand hingeht. Wir sitzen lange auf der schö­nen Rund­bank um die kleine Hoflinde, ehe wir gegen­über im “Castello” — ach, was wäre mit der deut­schen Lokal­kul­tur, wenn wir die nicht hätten! — bei Italie­nern zu Mittag essen. Zum Nach­tisch fürs Gemüt sitzen wir auf einer grünen Bank auf der Park­seite der Kirche. Es riecht feucht und süß nach Rosen und Regen. Aber nun ist die Sonne heraus­ge­kom­men. Die turm­lose Kirche machte von hier aus einen Schlos­se­in­druck, wenn sie sich nicht durch das Kruzi­fix iden­ti­fi­zierte. Meine Lebens­freun­din sucht ein vier­blätt­ri­ges Klee­blatt. “Man findet sie nicht, wenn man sie sucht, man muss ihnen aller­dings auch Gele­gen­heit geben, gefun­den zu werden.”

Ein Bussard fliegt nied­rig vorüber. Die Krähen schimp­fen und vertrei­ben ihn aus der Rotbu­che. “Krähen sind sehr sozial. Nicht nur für ihre Fami­lie, sondern für ihre ganze Art. Deshalb über­le­ben sie so gut.”
“Du meinst also: sie sind Rassis­ten oder wenigs­tens Natio­na­lis­ten, und deshalb über­le­ben sie!”
“Tieren kann man mit mensch­li­chen Begrif­fen gar nicht beikom­men.”
“Sozial — das wäre also kein mensch­li­cher Begriff?”
“Nicht so rich­tig, wenn ich die Kerle so sehe …”

Der größere, nörd­li­chere Teil des Parks ist wilder und ruhi­ger. Das voller Blüten­staub stehende Wasser kann man der Panke zuschrei­ben, die man als Berli­ner Fluss ja über­haupt nicht verges­sen darf.
Auf hohem Bahn­steig die S4 für die Rück­fahrt erwar­tend, empfinde ich diesen Vor- und Nach­mit­tag in Buch als ein Geschenk; nicht wie irgend­was Schö­nes, was man über­all krie­gen kann, sondern dessen Grund­la­gen “irgend­wie” gerade darin liegen, dass Berlin den Grund dafür legt. (Obwohl — um auf die Liebes­ge­schichte zurück­zu­kom­men — Liebe natür­lich über­all ein Geschenk ist, über­ört­lich, manch­mal über­ir­disch … wenn es Liebe ist.)

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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