Hasenheide

Mit der Hasen­heide beginnt oder endet Neukölln gegen Kreuz­berg. Aber eigent­lich beginnt oder endet hier nichts. Die Stadt­ge­gend zwischen den Tempel­ho­fer Höhen und der großen West-Ost-Magis­trale Gneisenaustraße/Hasenheide ist einheit­lich. Ihre Einheit­lich­keit ist berlin­ty­pisch; ein Signum dieser Welt­stadt, deren Welt­läu­fig­keit so schwer erfahr­bar ist, ist das Grün, das Grün der Bäume am Stra­ßen­rand, der klei­nen und größe­ren Parks und der Fried­höfe; und die kiezige Lebhaf­tig­keit dazwi­schen. Wer vom Kreuz­berg herüber nach einem weiten Blick über die Stadt durch die Berg­mann­straße bis zum Südstern gegan­gen ist, wo Kreuz­berg und Neukölln eins werden, der hatte zur Rech­ten eben eines der schöns­ten Fried­hofs­ge­lände der Stadt und er hat den ehema­li­gen Stand­ort­fried­hof an der Lili­en­thal­straße vor sich, neben dem er paral­lel zur Auto­straße Hasen­heide den west­li­chen Eingang in den Volks­park Hasen­heide findet. Fried­hof an Fried­hof; der lebhaft-ruhige, die Gegen­sätz­lich­keit der Stadt aufhe­bende und aufbe­wah­rende Stadt­park ist umge­ben von Fried­hö­fen: im Süden noch der merk­wür­dige, fast beun­ru­hi­gende Garni­son­fried­hof am Colum­bia­damm, ein Platz martia­li­scher Hinter­grün­dig­kei­ten, dane­ben der alte moham­me­da­ni­sche Fried­hof, der heute wie ein Hoch­si­cher­heits­trakt geschützt wird. Und am östli­chen Ende des Volks­parks wäre es über die Wels­er­straße (zum Beispiel), die Thomas­höhe hinab, nicht weit zu dem großen Neuköll­ner Gräber­feld, das sich die Hermann­straße entlang streckt. Berlin hat viele Fried­höfe. Viele davon sind schön. Als ob beson­ders viel gestor­ben würde in Berlin, oder beson­ders schön. In Berlin wird so viel gestor­ben wie über­all; aber es gab Zeiten, in denen hier schlim­mer gestor­ben wurde als in ande­ren Welt­städ­ten. Wer so alt ist wie ich, hat es noch selbst erlebt. Menschen als Kolla­te­ral­schä­den. Aber an die denkt der Spazier­gän­ger nicht, der nun in den Park der Leben­di­gen hinein wandert. Der Weg führt im Rücken der Häuser entlang, die die Fassa­den der Verkehrs­straße Hasen­heide bilden. Ihre Höfe öffnen sich hier­her, einige neuer­dings mit freund­li­chen Balkon­kon­struk­tio­nen. Dort sitzen die Bewoh­ner und schauen auf die sanf­ten Wiesen herab, die sich zur Rixdor­fer Höhe hinauf ziehen.

Der Volks­park Hasen­heide, das ist schon was, ein echtes städ­ti­sches Stück. “Drau­ßen ist es laut wie in Ankara oder in Tehe­ran”, sagt Medhi, der selbst aus Tehe­ran stammt. Das Gelände gibt es als Nutz­flä­che seit Ende des 17. Jahr­hun­derts; der Kurfürst wollte sicher sein, dass er frische Hasen auf den Tisch kriegt und befahl deshalb seinen Forst­män­nern ein Hasen­ge­hege. Gegen 1840 machte der große grüne Lenné einen Land­schafts­park daraus; später diente er als Schieß­platz für die Solda­ten der Garni­son, die hier lern­ten, ihre Klas­sen­ge­nos­sen aus ande­ren Ländern zu Tode zu brin­gen (oder muss man das anders sagen? Aber worum geht es schließ­lich, wenn Solda­ten schie­ßen lernen?). Im letz­ten Drit­tel des 19. Jahr­hun­derts war das Gelände ein belieb­tes Ausflugs­ziel der Berli­ner, mit vielen Bier- und Kaffee­gär­ten; Volks­park — wie wir heute sagen — ist es erst seit 1936/39, als schon wieder eine deut­sche Zeit begann, in der das Schie­ßen auf Nach­barn zu den Helden­ta­ten zählte.

An diesem Vormit­tag sind die meis­ten Besu­cher des Parks Kita-Kinder mit ihren Erzie­he­rin­nen. Ich sitze mit meiner Lebens­freun­din und Medhi auf einer Bank am unte­ren, südli­chen Weg. Wir freuen uns an den Klei­nen, die die Welt bestau­nen und sich aneig­nen. Die meis­ten Erzie­he­rin­nen wirken ernst­haft und mütter­lich. Auf der Wiese, die aufwärts führt zu dem Denk­mal von Turn­va­ter Jahn, liegen in der Mitt­wochs-Mittags­sonne zwei fast nackte Männer.
“Wenn es Frauen sind, heißt es lesbisch”, erklärt die hoch­ge­wach­sene Erzie­he­rin, “wenn es Männer machen, heißt es schwul … Aber die hier”, fügt sie nach einer klei­nen Pause hinzu, “sonnen sich jetzt nur.”

Fried­rich Ludwig Jahn, der Turn­va­ter, im altdeut­schen Rock, aus fester Bronze, blickt von seinem in halber Höhe hinter einem Platz und einer Trep­pen­an­lage liegen­den Denk­mal zu uns herab. Jahn, der das Gerä­te­tur­nen zwar nicht alleine erfun­den, aber in Deutsch­land zu einer poli­ti­schen Bewe­gung gemacht hat, war Lehrer am Grauen Klos­ter und 33 Jahre alt, als er hier, in der Hasen­heide, 1811 den ersten Turn­platz, mit Riesen­ge­rä­ten, eröff­nete. Die soge­nann­ten Befrei­ungs­kriege, nach denen halb Kreuz­berg bis heute vereh­rend heißt, erfass­ten Jahn und das Turnen; und als aus diesen Krie­gen statt Befrei­ung für das Volk, das in ihnen geblu­tet hatte, Restau­ra­tion und Unter­drü­ckung hervor­ging, war Turnen plötz­lich eine staats­feind­li­che Betä­ti­gung; Jahn mit Berufs­ver­bot belegt, verhaf­tet, erst Span­dau, Festung Küstrin, Berli­ner Stadt­vog­tei: Hoch­ver­rat. Zu Ende war die unrecht­mä­ßige Verfol­gung erst 1825, endgül­tige Reha­bi­li­tie­rung erst 1840; 1848/49 Abge­ord­ne­ter der Frank­fur­ter Natio­nal­ver­samm­lung, Tod 1852 in Frey­berg an der Unstrut; Welt­gel­tung folgt, Denk­mä­ler wie dieses hier in der Hasen­heide; Turn­ver­eine in aller Welt hatten zehn Jahre lang bis 1872 dafür gesam­melt; viele stei­nerne Erin­ne­rungs­zei­chen sind in der Balus­tra­den­mauer noch da, die metal­le­nen nach WK 2 meist gestoh­len und als Altme­tall verwer­tet.
Während ich den ABM-Leuten zusehe, die das Denk­mal gärt­ne­risch auf Zack brin­gen, und die Sonne im hohen Mittag steht, fällt mir die Nacht­schat­ten-Geschichte ein, deren geis­tes­ge­schicht­li­che Komik darin besteht, dass der Unter­su­chungs­füh­rer im Verfah­ren gegen Jahn 1820 in der endlich errich­te­ten eini­ger­ma­ßen unab­hän­gi­gen Unter­su­chungs-Kommis­sion E.T.A. Hoff­mann war, der Gespens­ter-Hoff­mann, der Teufels-Hoff­mann, der große Schrift­stel­ler, im Zivil­be­ruf einer der höchs­ten Rich­ter Preu­ßens. Hoff­mann und Jahn: der kleine, schmäch­tige, dämo­nen­ver­folgte Intel­lek­tu­elle und der deutsch­tü­melnde Kraft­mensch: einen skur­ri­le­ren Typen­ge­gen­satz kann man sich gar nicht denken, als ihn hier die Wirk­lich­keit schafft. Fast 100 Druck­sei­ten ist die juris­ti­sche Arbeit lang, in der Hoff­mann die Vorwürfe gegen Jahn unter­sucht; nicht Lite­ra­tur, reine Juris­pru­denz, aber von der besten Art. Ein Freund der Turne­rei ist Hoff­mann natür­lich nicht. Sie woll­ten lieber das Leben lassen als das Turnen, hatte Hoff­mann Turner sagen hören. Man kann sich vorstel­len, wie ein solcher Satz sich in seinem Votum anhört: “Knaben­un­fug”. Aber: Hoch­ver­rat? Nicht die Rede davon! Jahn in Frei­heit setzen!

Eine Zeit der Berufs­ver­bote, der unrecht­mä­ßi­gen Poli­zei­ak­tio­nen und der bösar­ti­gen Staats­ver­fol­gung haben wir auch erlebt, denke ich. Ich will nichts verglei­chen, aber mich der Leute doch erin­nern, denen die Rechts­prin­zi­pien nicht so schnell wohl­feil wurden, was immer sie sonst dach­ten. “Auf die Erin­ne­rung, dass doch eine Tat began­gen sein müsse, wenn es einen Täter geben solle, meinte Knarr­panti, dass, sei erst der Verbre­cher ausge­mit­telt, sich das began­gene Verbre­chen von selbst finde.” Knarr­panti nannte der Kammer­ge­richts­rat H. im “Meis­ter Floh” den Poli­zei­mi­nis­ter von Kamptz. “Das Denken, meinte K., sei an und vor sich eine gefähr­li­che Opera­tion und würde bei gefähr­li­chen Menschen eben desto gefähr­li­cher.“
Über der Hasen­heide liegt die Sonne eines fried­li­chen Mittags. Die ABM-Leute zupfen Gras aus dem klei­nen Versamm­lungs­platz, auf dem ich sonst mit meiner Lebens­freun­din allein bin. Ein Adieu an Jahn! Ein Hoch auf den Kammer­ge­richts­rat! Wir sind zurück aus der Geschichte.

 

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