Stille, tiefe Wasser

Man kennt sie aus dem Fernsehen, von Demonstrationen oder aus der Kneipe: Lauthals regen sie sich auf, brüllen ihre Parolen und dass man hier alles in die Luft sprengen müsste, als erstes „die da oben“. Sie stellen sich als die Radikalsten hin, die alles checken und immer vorne sind. Maulhelden, die froh sein können, dass man sie nicht ernst nimmt, sonst würden sie schnell im Gefängnis landen.

Und dann gibt es die anderen. Die Stillen. Diejenigen, die nicht unbedingt auffallen wollen, die lieber machen als reden. Sie sind die wirklich Radikalen, eben weil sie nicht nur theoretisieren. Es gibt sie in den verschiedenen politischen Szenen, aber auch darüber hinaus. Ulrike Meinhof war eine Leise, auch Osama bin Laden. Und selbst bei den Neonazis gibt es welche von ihnen.
Die meisten sind nicht so prominent, oft kennt sie nur der Verfassungsschutz und die eigenen Leute. Auch ich habe einige von ihnen kennengelernt. Sie haben mich fasziniert, in ihrer Selbstsicherheit, in ihrem Zweifel, aber auch in ihrer Konsequenz.

Schon am Anfang der Hausbesetzerbewegung bin ich in Kontakt zu einer Gruppe gekommen, die es viele Jahre lang gab. Sie hatten mich als jungen Aktivisten aufgenommen, gemeinsam haben wir das Haus renoviert, haben politische Diskussionen geführt und bei militanten Demonstrationen sind wir zusammen gegen die Polizei vorgegangen und haben Prügel kassiert. Ich gehörte nie richtig eng dazu, war nach ein paar Monaten auch schon wieder weitergezogen, aber der Kontakt zu einigen blieb noch lange erhalten. Sie kannten sich schon seit Jahren und waren nicht nur „Genossen“, sondern auch Freunde. Und vor allem: Sie vertrauten sich. Sowas ist besonders wichtig, wenn man weiß, dass der Verfassungsschutz und der Polizeiliche Staatsschutz versucht, Spitzel in die Gruppen zu kriegen oder einzelne Mitglieder als V-Leute anzuwerben.

Die Leute in der Gruppe radikalisierten sich, sie waren an vielen Aktivitäten beteiligt, wie einem Piratensender, einer illegalen Zeitschrift und an militanten Aktionen. Auch der Staat hatte die Gruppe auf dem Kieker, mehrmals gab es Hausdurchsuchungen und Festnahmen wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“, den Revolutionären Zellen. Als einer aus der Gruppe in der Szene als Verfassungsschutz-Spitzel beschuldigt wurde, hielten die anderen solange zu ihm, bis klar war, dass der Vorwurf nicht stimmte.
Allen gemeinsam war, dass sie zu den Stillen gehörten. Natürlich traten sie bei den Autonomen-Vollversammlungen im Mehringhof auch mal laut auf, wenn es um Vor- und Nachbereitungen von Aktionen oder Kampagnen ging und über grundsätzliche Ausrichtung unserer politischen Arbeit. Aber auch das war kein leeres Geschrei oder Rumgeprolle.

„Es kann sein, dass uns unser politischer Kampf irgendwann in den Knast bringt oder sogar Schlimmeres. Aber wenn man die Verhältnisse wirklich menschlicher machen will, geht es eben nur konsequent, nur radikal.“ Ich habe das gut verstanden und sehe es genauso.

Irgendwann wurden zwei von ihnen dann gesucht, sind geflüchtet, wurden ausgeliefert und verurteilt. Wegen Anschlägen auf Institutionen, die Flüchtlingen und Immigranten in Deutschland das Leben schwer machen sollen, damit möglichst wenige von ihnen hierher kommen. Man nannte sie „Feierabend-Terroristen“, aber in Wirklichkeit haben sie gar keinen Terror verbreitet.

Eine andere Gruppe, viel kleiner, kannte ich aus der Antifa-Arbeit. Auch sie waren immer konsequent, oft dabei, ohne sich in den Vordergrund zu stellen. In mancher Nacht aber waren sie unterwegs, haben Neonazis angegriffen oder ihre Treffpunkte und Institutionen. Tagsüber waren es die netten linken Nachbarn, ein bisschen ruhig vielleicht, aber sympathisch.

Und auch ein enger Freund aus dem damaligen „Westdeutschland“ ging einen solchen Weg. Mit Ausbildung bei einer weit entfernten Guerilla-Organisation, um mit seinem Können dann hier Dinge zu tun, die andere nicht machen. Weil sie sich nicht trauen oder weil sie ihnen zu radikal, zu militant sind. Er war ebenfalls ein Ruhiger, den meisten seiner Freunde und Kollegen war die andere Seite völlig unbekannt.

All dies ist lange her. Die Gruppen existieren in dieser Form nicht mehr. Der Freund ist verschollen, vielleicht nicht mehr am Leben. Die Verhältnisse haben sich geändert. Heute geht es oft nur noch um die Fassade, eine realistische Vorstellung vom Wechsel der Gesellschaftsordnung haben die meisten der lauten Autonomen nicht mehr, auch wenn sie weiterhin von Revolution brüllen. Ich bin nicht der Meinung, dass man eine bessere Gesellschaft über militante Anschläge erreicht. Aber eben auch nicht, wenn man nur zur Wahl geht.

Foto: Enrico Heuer, CC BY-SA 4.0

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