Meine Jugend in Moabit

Anfang 1943 kommt eine Nach­richt ohne Sieges­fan­fare. Stalin­grad ist gefal­len und die sechste Armee verlo­ren. Von nun an hören wir von stra­te­gi­schen Rück­zü­gen. Auch daheim wird es unge­müt­lich, denn inzwi­schen haben die Ameri­ka­ner in Europa in die Kämpfe einge­grif­fen. Die Englän­der flie­gen jetzt neue schwere Nacht­bom­ber und die Ameri­ka­ner kommen am Tage mit ihren flie­gen­den Festun­gen. Im Wech­sel grei­fen sie die deut­schen Städte an. Im Sommer werden Hamburg und Köln bombar­diert und die Berichte von bren­nen­den Menschen in engen Stra­ßen gehen um. Auch gegen Berlin werden die Angriffe verstärkt.

In der Nacht vom 3. zum 4. Septem­ber erle­ben wir den ersten schwe­ren Luft­an­griff auf Moabit. Wir sitzen im Keller. Die Erde erzit­tert unter den Einschlä­gen der Spreng­bom­ben. Als wir den Keller verlas­sen, ist der Himmel blut­rot. Auf der Nord­seite der Turm­straße zwischen der Wald- und der Beus­sel­straße stehen alle Häuser in Flam­men. In der Wald­straße brennt ein Haus, auf dessen Hof ein Kuhstall ist (für die Frisch­milch­ver­sor­gung hat man auf den Hinter­hö­fen verschie­dent­lich solche Ställe; es gibt zu dieser Zeit mehr Kühe in der Stadt als im Umland). Die Kühe werden auf die Straße getrie­ben und irren umher, bis jemand auf den Gedan­ken kommt, die Tiere auf unse­rer Hinter­hof zu trei­ben. Da blei­ben sie solange, bis man das eiför­mige Gebilde iden­ti­fi­ziert hat, das da zwischen den Kühen auf dem Hof herum­liegt. Es entpuppt sich als Phos­phor­bom­ben-Blind­gän­ger.
Die Briten haben ganze Arbeit geleis­tet. Jetzt sind es nicht mehr die alters­schwa­chen lang­sa­men Welling­ton-Bomber, sondern die moder­nen Lancas­ter und Hali­fax. Neben Luft­mi­nen mit zwei Tonnen Gewicht und Stab­brand­bom­ben führen sie nun auch Phos­phor­ka­nis­ter mit sich, deren Inhalt kaum zu löschen ist. In Moabit brennt fast jedes zweite Haus, dazwi­schen haben Spreng­bom­ben Lücken in die Häuser­rei­hen geris­sen. Die Wasser­ver­sor­gung bricht zusam­men. Der Lösch­mann­schaft unse­res Hauses Turm­straße 74 gelingt es, obwohl die angren­zen­den Dächer in Flam­men stehen, alle Brände mit den im Haus vorhan­de­nen Wasser­vor­rä­ten zu löschen. In einer Nacht sind 20 Brand­bom­ben auf das Grund­stück gefal­len. Der Versuch, auch das Fabrik­ge­bäude zu retten, schei­tert. In der Drucke­rei im drit­ten Ober­ge­schoss bren­nen die Druck­far­ben. Einer der Luft­schutz­hel­fer bricht unter der Rauch­ein­wirk­kung zusam­men. Vater bläst darauf­hin zum Rück­zug und das Gebäude wird den Flam­men über­las­sen. In dieser Nacht sind alle Feuer­weh­ren aus dem Umkreis von Berlin im Einsatz, aber was können sie am Ende gegen die Über­macht der Flam­men ohne Wasser ausrichten.Im Früh­jahr 1944, ich bin wie die meis­ten meiner Klas­sen­ka­me­ra­den jetzt 14 jahre alt, werden wir vom Jung­volk in die Hitler-Jugend über­nom­men. Es ist ein Fest­akt, eine Art Jugend­weihe mit Fahnen und Gesang. Ein Hymnus bleibt mir in Erin­ne­rung: “Heilig Vater­land in Gefah­ren, deine Söhne sich um dich scha­ren…”

Längst müsste uns der Ernst der Lage bewusst sein, aber die Propa­ganda, die von Wunder­waf­fen berich­tet, verspricht immer noch den Endsieg. Zwar rücken jetzt die Englän­der und Ameri­ka­ner im Westen voran, aber wir haben ja die Vergel­tungs­waf­fen V1 und V2 und wer weiß, was unser Führer noch an Waffen bereit hält.
Einen gere­gel­ten Schul­un­ter­richt gibt es nicht, aber wir bekom­men Haus­auf­ga­ben. Meine Mutter arran­giert für mich einen Privat­un­ter­richt bei unse­rem Mathe­ma­tik­leh­rer, Studi­en­rat Thiel. Unser Direk­tor Schulz hat es geschafft, ihn, den Frei­mau­rer, von der Schule weg zu bekom­men.
Mutti schickt mich in die Emde­ner Straße. Vornan ist das Obst­ge­schäft von Hans L. Ich soll schauen, ob es noch Gemüse gibt. Ich grüße wie gewohnt mit “Heil Hitler”. Freund­lich aber betont antwor­tet er mit mit einem “Guten Tag”. Herr L. hat sich schon umge­stellt und wird es nach dem Kriege als Geschäfts­mann noch weit brin­gen.
Mein Bruder Joachim hat sich frei­wil­lig gemel­det und die Einbe­ru­fung zur Grund­aus­bil­dung bei der Luft­waffe in der Tasche. Er hat damit erreicht, der SS-Divi­sion “Hitler Jugend” zu entge­hen. Wie viele von der Flie­ge­rei hat er einen Abscheu vor der SS. Jetzt braucht er noch sein Notab­itur­zeug­nis. Als Kriegs­ein­satz­füh­rer hat er das Gymna­sium zum Grauen Klos­ter besu­chen müssen. Deshalb schwin­gen wir uns, nur wenige Stun­den nach dem Bomben­an­griff, auf das Tandem, um in der Klos­ter­straße in Mitte das Zeug­nis abzu­ho­len. Wir fahren durch das Bran­den­bur­ger Tor. Über der Innen­stadt steht eine riesige Brand­wolke, aus der sich ein Gewit­ter­re­gen löst und unsere Klei­dung schwarz färbt. Am Ende der Straße Unter den Linden sieht man das bren­nende Berli­ner Stadt­schloss. Die “Linden” sind auf der halben Stre­cke gesperrt. Wir weichen in eine Paral­lel­straße aus, aber ein Stück weiter hält man uns an: “Wo wollt ihr hin, hier geht es nicht weiter, da vorn liegt ein Blind­gän­ger.” Unver­rich­te­ter Dinge kehren wir nach Hause zurück. Es sollte das letzte gemein­same Erleb­nis mit meinem Bruder sein.

Wolf­gang Bardorf

Aus: “Meine Jugend in Moabit”, 2002, 76 Seiten.
Erhält­lich im Opti­ker­ge­schäft Turm­straße 74.

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