Nachtwache

Wer was Ille­ga­les tut muss aufpas­sen, dass er nicht erwischt wird. Oder dass ihm keiner in die Quere kommt. So ist das auch bei Haus­be­set­zun­gen. Mitt­ler­weile sind die ja leider aus der Mode gekom­men, aber es gab Zeiten, in denen sie echt ange­sagt waren. Der folgende Bericht basiert auf einen Brief, den ich im Sommer 1990 an einen Freund geschrie­ben habe:

Die elf besetz­ten Häuser in der Main­zer Straße in Fried­richs­hain haben eine gemein­same Wache. Jede Nacht war einer aus einem ande­ren Haus dran, immer abwech­selnd. Ich habe um Mitter­nacht ange­fan­gen. Das Zimmer im ersten Stock war ziem­lich versyfft und der Balkon voll mit leeren Bier­fla­schen. Wie sollte ich da die Nacht verbrin­gen? Viel­leicht sollen die Flaschen als Wurf­ge­schosse dienen, aber wahr­schein­lich sind es nur die Über­bleib­sel von der letz­ten Nacht.
Es war ziem­lich warm. Als ich mit der Nacht­wa­che anfing, saßen drau­ßen noch mindes­tens 20 Leute. Außer­dem war im Tunten­haus noch ne Party, da kamen stän­dig welche raus. Vor einer Woche gab es an drei Näch­ten hinter­ein­an­der Stress mit Faschos. Die bret­ter­ten durch die Straße und schos­sen auf alle, die drau­ßen zu sehen waren. Zwar nur mit Pyros, aber einmal warfen sie vorher zwei Mollies, die sie mit den Pyros zünde­ten. Es ist aber nieman­dem etwas passiert.

In der drit­ten Nacht fuhren sie sich an den Krähen­fü­ßen die Reifen platt und beka­men direkt ein paar Steine in die Wind­schutz­schei­ben. Sie konn­ten leider trotz­dem flüch­ten, vermut­lich in die Weit­ling [Anmer­kung: Das Eckhaus Weit­ling-/Lück­straße in Lich­ten­berg war damals mili­tan­ten Neona­zis vom Bezirk zur Verfü­gung gestellt worden. Von dort gingen zahl­rei­che Angriffe gegen Linke und Immi­gran­ten aus].

In den letz­ten Näch­ten war es wohl ruhig, aber das bedeu­tet nichts. Es kann jeder­zeit was passie­ren, auch Hools und manche Bürger machen Stress. Vor allem, wenn sie besof­fen nach Hause laufen und ihrer guten alten Zeit nach­trau­ern. Meis­tens krakee­len sie nur herum, belei­di­gen uns als Nazis, Chao­ten oder Wessies, als wenn wir was dafür könn­ten, dass sie ihre Jobs verlie­ren.

Mit ein paar ande­ren Häusern gibts auch eine Funk­ver­bin­dung über CB-Funk. Wenn es dort Ärger gibt, können von uns schnell welche hin fahren. Aber die Nazis kennen das, deswe­gen muss man es vorsich­tig nutzen und niemals Klar­text reden. Alle mögli­chen Stra­ßen und Orte sind verschlüs­selt, anders gehts nicht.

Um 1.30 Uhr kam dann eine Fahr­wa­che. Sowas gibts heute kaum noch, aber in der West-Berli­ner Häuser­zeit war das sehr gut orga­ni­siert. Die Fahr­wa­chen fahren bestimmte besetzte Häuser an und schauen, ob alles in Ordnung ist. Es gibt Fahr­wa­chen mit Fahr­rä­dern und mit wenn die Stre­cken länger sind mit Autos. Gestern war das so ein Stres­ser aus der Rigaer, der immer über­all Gefahr sieht. Er meldet jeden Poli­zei­wa­gen, den er irgendwo sieht. Und jeder Typ mit kurzen Haaren ist gleich ein poten­zi­ell gefähr­li­cher Fascho. Er meinte, dass sich an der Ecke Frank­fur­ter ein paar Leute zusam­men­rot­ten, die verdäch­tig ausse­hen. Ich bin dann mit nem Fern­glas auf den Balkon und konnte von da aus schon erken­nen, dass das Leute aus dem Tunten­haus waren. Zum Glück ist er dann schnell wieder abge­zo­gen.

Danach begann die tote Zeit, da muss man aufpas­sen, dass man nicht einpennt. Es wäre schon schlecht, wenn man einen rich­ti­gen Angriff auf ein Haus nicht bemerkt oder wenn jemand von uns auf der Straße über­fal­len wird.
Kurz nach 3 kam eine andere Fahr­wa­che mit einem Auto aus dem Prenz­lauer Berg. Die Häuser in der Schön­hau­ser, Lottum und Kasta­ni­en­al­lee haben das dort ganz gut orga­ni­siert. Die sind zuver­läs­sig und machen keine Panik, wenn mal was ist. Sie haben aber auch schon einige Erfah­rung. In den letz­ten Jahren der DDR waren sie als unab­hän­gige Antifa orga­ni­siert und hatten nicht nur die rech­ten Skin­heads gegen sich, sondern auch die Stasi. Da wird man abge­klärt.

Die Fahr­wa­che hat erzählt, dass in einem Jugend­club in Kauls­dorf Nazis die Besu­cher von nem Konzert ange­grif­fen haben und die Poli­zei sich gewei­gert hat, hinzu­kom­men. Aber die Punks vom Konzert haben sich wohl ganz gut gewehrt und einer der Faschos ist auf der Flucht vor ein fahren­des Auto gelau­fen. Von den meis­ten Angrei­fern haben sie sogar die Namen und Adres­sen gekriegt. Nicht schlecht, da freut sich die Antifa.

Kurz nach­dem die Fahr­wa­che weg war, fuhren ein paar verdäch­tige Autos durch die Main­zer. Erst drei zivile im Schritt­tempo. Eine Minute später ein Toni­wa­gen [PKW der Volks­po­li­zei] und eine West­wanne [Mann­schafts­wa­gen]. Wenn die so durch die Gegend schlei­chen, haben sie meist etwas vor. Über unsere interne Leitung habe ich in der Kreut­zi­ger bescheid gege­ben, weil es dort öfter Provo­ka­tio­nen von der Poli­zei gibt. Da hatte gerade Manni die Wache, einer, der schon einige Jahre DDR-Knast hinter sich hat und keiner Konfron­ta­tion aus dem Weg geht. Er ist immer cool, wirk­lich immer. Wenn man ihm sowas erzählt, fühlt man sich gleich wie ein Schis­ser.

Die Zivis fuhren dann noch zwei­mal durch die Main­zer Straße. Manch­mal machen sie das nur, um wahl­los irgend jeman­den anzu­ma­chen und wenn der dann reagiert, gehen sie auf ihn los. Egal was man dann sagt, sie legen das als Provo­ka­tion oder Belei­di­gung aus, kontrol­lie­ren einem die Taschen und wenn man Pech hat, verbringt man die Nacht in der Wede­kind­straße [Poli­zei­wa­che]. Oder man kriegt eins aufs Maul. Einfach so, ohne Grund.

Das Blöde bei der Nacht­wa­che ist, dass man wenig machen kann. Lesen macht müde, die Schla­ger im Radio nerven nur und die eige­nen Casset­ten kennt man schon auswen­dig. Deshalb sollte man immer versu­chen, dass man sie zu zweit macht. So hat man jeman­den zum Quat­schen, wenn es der Rich­tige ist. Und man hält sich gegen­sei­tig vom Einschla­fen ab. Außer­dem kann man besser reagie­ren, wenn was passiert. Aber gestern war ich allein.

Um halb 6 war es dann doch noch soweit. Erst hab ich drau­ßen leise Geräu­sche gehört. Ich bin nicht auf den Balkon gegan­gen, sondern ans Fens­ter. Gegen­über stand jemand mit einem Katschi [Kata­pult] und hat auf mich gezielt, aber die abge­schos­sene Mutter schlug ins Fens­ter neben mir ein. Ich hab sofort die Tröte bedient, was in der leisen Nacht rich­tig laut ist. Drau­ßen hörte ich Rufe und dass Leute wegrann­ten. Vorsich­tig ging ich auf den Balkon und sah, wie drei oder vier Perso­nen mit Bomber­ja­cken in einen Lada stie­gen und schnell wegfuh­ren. Da kamen auch schon zwei Leute ins Zimmer gerannt, die durch das Tröten geweckt wurden. Beide noch in Unter­ho­sen — wenn Alarm ist, muss es eben schnell gehen.
Wir sind zusam­men nach unten und tatsäch­lich waren dort gerade direkt am Haus Nazi­pla­kate geklebt worden. Die hingen dann keine Minute mehr. An den Fens­tern tauch­ten noch ein paar Köpfe auf, aber wir konn­ten die Leute beru­hi­gen und auch ich ging wieder hoch und blieb auf dem Balkon.

Um 8 Uhr kam ein Freund aus der Lottum­straße und brachte Früh­stück mit. Das war ein schö­ner Abschluss der Nacht­wa­che.

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1 Kommentar

  1. Hach ja… so war das damals…

    Was ich mir in letz­ter Zeit immer über­lege, wenn man von sowas berich­tet:

    Ist das jetzt die aktu­elle Version von “Opa erzählt vom Krieg”?

    Echte “Kriegs­opas” leben ja kaum noch und nicht wenige Szeneve­te­ra­nen haben inzwi­schen auch schon Enkel­kin­der. (Wenn auch noch sehr kleine…)

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