Nicht mal morgens um vier ist die Torstraße eine ruhige Straße. Dort, wo man sie an der Ampel über­quert, ist immer Verkehr. Viel­leicht liegt es nicht nur daran, dass es heute eine wich­tige Durch­gangs­straße ist, sondern auch an der Geschichte dieser Stelle. Etwa in der Mitte der Straße befand sich bis vor genau 130 Jahren die Stadt­mauer, durch­gän­gig vom Rosen­tha­ler Tor (heute Rosen­tha­ler Platz) zum Hambur­ger Tor, das dort stand, wo heute in west­li­cher Blick­rich­tung die erste Straße links abgeht.
Auf beiden Seiten der Stadt­mauer verlie­fen Wege, und außer­halb des Walls verband die dama­lige “Thor­straße” die abge­hen­den Stra­ßen Rich­tung Norden. An dieser Stelle nun traf die “Zweite Reihe” und die “Dritte Reihe” des Neuen Vogt­lan­des auf die Stadt­mauer. Das Gebiet zog sich im Norden bis zur Inva­li­den­straße hin. Wenn man in die Acker­straße hinein schaut, ist das bis ca. 50 Meter vor dem Schul­neu­bau, den man dort quer zur Straße stehen sieht.
Am Anfang der Acker­straße, nach etwa 20 Metern, steht links ein großes, brei­tes und dunk­les Gebäude, die Acker­straße 169/170. Über den zuge­mau­er­ten Schau­fens­tern sind noch die alten Buch­sta­ben “Scho­ko­lade-Fabrik” zu sehen. Doch hier wird schon lange keine Scho­ko­lade mehr herge­stellt. Der ehemals reprä­sen­ta­tive Verkaufs­raum, mit der geschwun­ge­nen Decke und der indi­rek­ten Beleuch­tung beher­bergt heute eine Szene­kneipe. Denn das Haus wurde kurz nach der Wende besetzt und noch immer versucht ein Klemp­ner­meis­ter, es für seine Zwecke nutzen zu können. Und das hieße Räumung und Moder­ni­sie­rung — aber nicht für die Menschen, die heute hier billig leben können. Im Scho­ko­la­den kann man aber nicht nur trin­ken, oft finden hier auch Konzerte statt, manch­mal Perfor­man­ces oder andere Auffüh­run­gen. Wer aber sogar zum “Thea­ter im Scho­ko­la­den” will, ist im Scho­ko­la­den ganz falsch. Dieser Mensch muss nämlich durch die Torein­fahrt und quer über den Hof ins Hinter­haus.

Dunkel und gefähr­lich sieht der Laden auf der ande­ren Seite der Einfahrt aus. Die schmut­zi­gen Schei­ben lassen keinen Blick rein, das herun­ter gelas­sene Gitter regt die Phan­ta­sie noch mehr an, was sich wohl hier verbirgt. Doch in den nach außen hin wenig einla­den­den Räumen befin­det sich keine Unter­grund­gruppe, sondern die größte Stadt­teil-Zeitung für Berlins Innen­stadt­be­zirke, die Zeitung “Schein­schlag”.
Der Schein­schlag erscheint kosten­los alle 14 Tage und hat sich im Laufe derJahre immer mehr gemau­sert. Zuerst war er nur eine Zeitung für Mitte, doch heute kriegt man ihn auch in Kreuz­berg, Prenz­lauer Berg, Wedding, Fried­richs­hain oder Schö­ne­berg. Als das Blatt Ende 1990 begon­nen hat, sollte es noch “Stein­schlag” heißen (es wurde in der Stein­straße gegrün­det). Doch nach den schwe­ren Krawal­len bei der Räumung der Main­zer Straße wollte man dann doch einen Namen, der nicht so miss­ver­ständ­lich ist. So wurde sie dann in letz­ter Minute noch in “Schein­schlag” umbe­nannt. Seit­dem hat sich die Zeitung zu einer Insti­tu­tion entwi­ckelt, die vor allem im Bereich Stadt­ent­wick­lung kompe­tent und inter­es­sant ist. Gerade für dieje­ni­gen, die zwar nicht beson­ders durch­bli­cken, aber doch betrof­fen sind — also der Groß­teil der hier leben­den Menschen — zeigt der Stein­schlag leicht verständ­lich auf, was Sache ist, wer wofür verant­wort­lich zeich­net und wo man sich notfalls hinwen­den kann. Ob Kultur, Verkehrs­be­ru­hi­gung oder Geschichte, man merkt, dass sich die Redak­tion des Schein­schlags mit den behan­del­ten Themen ausein­an­der­setzt und gege­be­nen­falls entspre­chende Fach­leute zu Wort kommen lässt. Um den “Kontakt zur Basis” nicht zu verlie­ren, gibt es vor jeder Ausgabe eine offene Redak­ti­ons­sit­zung, die übri­gens im nahen Village Voice statt­fin­det. Außer­dem stecken die Schein­schlag-Menschen auch selber noch in dem Leben, aus dem sie berich­ten.
Die nach­fol­gen­den Häuser Acker­straße 168 bis zur 162 sehen wesent­lich geleck­ter aus. Sie waren die Vorbo­ten eines Moder­ni­sie­rungs-Programms, das die Kommu­nale Wohn­raum­ver­wal­tung des Stadt­be­zirks Mitte auszu­füh­ren hatte. Beschlos­sen wurde dieses Programm “Schö­ner unsere Städte und Dörfer” auf einem SED-Partei­tag, der jedoch nicht bedacht hatte, dass man zum Moder­ni­sie­ren auch Geld brauchte. So blieb die Moder­ni­sie­rung der Acker­straße in den Anfän­gen stecken. Hier wurden zwar auch die Quer­ge­bäude abge­ris­sen und die Vorder­häu­ser moder­ni­siert, doch über sieben Häuser kam man nicht hinaus.

Schräg gegen­über entstand 1996 auf dem Gelände Acker­straße 3 und 4 ein großer Neubau­kom­plex, der sich hinter dem Hof noch weit nach hinten in den Block hinein erstreckt. Viele Jahr­zehnte lang wurde dieses Gelände als Stra­ßen­bahn-Depot genutzt. Zuerst war es die Pfer­de­bahn, die von hier aus Rich­tung Reini­cken­dorf fuhr. Dann über­nahm die “Elek­tri­sche” das Gelände. Doch Mitte unse­res Jahr­hun­derts war Schluss und das Grund­stück diente nur noch als Lager­platz und für Werk­stät­ten. Heute ist hier “schö­ner wohnen” ange­sagt. Im Boden des Vorhofs einge­las­sene Schein­wer­fer beleuch­ten von unten die Fassade. Geht man über den Vorhof, links durch die Durch­fahrt, kann die teure Archi­tek­tur bewun­dert werden, mit Trep­pen vom Ober­ge­schoss zur Dach­ter­rasse. Es dauerte Monate, bis dieses teure Haus komplett vermie­tet war.
Weiter geht’s zur Acker­straße 6/7: Betritt man den ersten Hof, fallen auf der linken Seite noch einige alte Wand­be­schrif­tun­gen auf. Sie stam­men aus der Zeit, in dem hinten im Block noch die “Borus­sia Fest­säle”
stan­den. “Zur Steh­bier­bar” zeigt ein Hinweis in Rich­tung Keller, dane­ben noch die Schult­heiß-Werbung. Die Damen-Toilet­ten befan­den sich offen­sicht­lich im Seiten­flü­gel. Kaum noch zu erken­nen — und wahr­schein­lich vergeb­lich ange­bracht — ist der Hinweis neben der Durch­fahrt zum zwei­ten Hof, dass Kinder hier nicht spie­len dürfen.
Die Fest­säle befan­den sich damals auf dem drit­ten Hof, dort wo heute nur noch ein künst­lich ange­leg­ter Weg zu den Bara­cken führt. Dafür exis­tie­ren aber im 2. Quer­ge­bäude noch heute mehrere soziale Projekte wie die “Sozi­al­sta­tion Mitte” oder die “Zukunfts­werk­statt”. Ahnli­che Projekte haben in diesem Haus Tradi­tion.
Weiter auf dem Weg durch die Acker­straße kommen wir an der Nummer 9 vorbei, dort sehen wir das älteste Gebäude der Acker­straße. Der Seiten­flü­gel stammt noch aus der Zeit der zwei­ten Bebau­ung dieses Teils der Straße, er wurde 1817 erbaut. Nicht ganz so alt (von 1877) die Remise in der Acker­straße 10: Es lohnt sich, mal auf den zwei­ten Hof zu gehen, denn hier befin­det seit jeher eine Schmiede, in der noch am offe­nen Feuer gear­bei­tet wird. Außer­dem ist hier auch noch eine Stein­metz­werk­statt unter­ge­bracht.

In der Acker­straße 12 landet man beim “Acker­kell­ler”. Hier im Hinter­haus geht man erst einige Stufen hoch, um zuerst das Cafe zu errei­chen. Lesben und Schwule bitten hier seit eini­gen Jahren zum Tanz, diens­tags und frei­tags ist Party. Seit es chic ist, auf schwul bzw. lesbisch zu machen, trei­ben sich auch viele Hete­ros im Acker­kel­ler herum. Und viel­leicht ist ja jemand von denen dort auch schon mal auf den Geschmack gekom­men. Der Acker­kel­ler gehört übri­gens zum Verein “Lambda”, der unter ande­rem in diesem Haus Bera­tung für junge Lesben und Schwule macht, Schul­klas­sen empfängt und auch selbst an Schu­len geht, um Jugend­li­che in Bezug auf Homo­se­xua­li­tät aufzu­klä­ren.
Wie Lambda sind auch die ande­ren Jugend- und sozia­len Projekte finan­zi­ell am ausblu­ten, die sich nebenan in der Acker­straße 13 im Hinter­haus befin­den. Dort können junge Menschen sich beim “Förder­ver­ein für arbeits­lose Jugend­li­che” über Jobs infor­mie­ren, der “Kinder­ring” kümmert sich dage­gen um die noch Jünge­ren, zum Beispiel durch Orga­ni­sie­rung von Kinder­kino. Dort und im Neben­haus hat auch der Verein “Synerge­tik” seine Räume, der sich um drogen­ab­hän­gige Menschen kümmert.

Beson­ders inter­es­sant ist das Haus Acker­straße 14/15, das in dieser Straße das letzte fast voll­stän­dig erhal­tene Gebäude-Ensem­ble ist. Das Vorder­haus wurde 1866 gebaut, also noch zur Zeit der Stadt­mauer. Leider wurde die Remise im 2. Hof vor zwan­zig Jahren abge­ris­sen. An der Durch­fahrt das alte eiserne Gitter­tor ist das letzte Zeug­nis davon, dass es hier einmal einen Pfört­ner gab, der sich jeden Besu­cher genau ange­se­hen hat, bevor er ihn hinein­ließ. Bis in die 30-er Jahre hinein machte der Herr Geri­cke diesen Job und lebte danach noch als Rent­ner im Haus.
Das erste und zweite Quer­ge­bäude sind Wohn­häu­ser, während im drit­ten Hinter­haus seit jeher Gewer­be­be­triebe ange­sie­delt sind. Die Schlos­se­rei, die es heute noch dort gibt, ist nicht die erste. Zu Anfang dieses Jahr­hun­derts gab es an dieser Stelle schon einmal einen Schlos­se­rei­be­trieb. Dann wieder in den 40-er Jahren die Schlos­se­rei Torze­cky, zur selben Zeit auch noch die Klemp­ne­rei Krüger, das Fuhr­ge­schäft Heuer, die Tisch­le­rei Rowe, die Buch­dru­cke­rei Schü­ler und die Wasch­an­stalt Quos.
Die Acker­straße 14/15 war oft in Betrieb, viele lebten nur wenige Jahre hier. Zwischen 1933 und 1942 war die Fluk­tua­tion beson­ders hoch: Von ursprüng­lich 58 Wohnun­gen waren neun Jahre später nur noch 15 von den selben Menschen bewohnt, viele davon waren allein­ste­hende Pensio­näre, Rent­ner oder Witwen.
Zur Straße hin sieht man an manchen Stel­len noch den alten Glanz der Fassade dieses Hauses, doch die lieb­los abge­dich­te­ten Narben des Bomben­tref­fers zeugen auch von der Inter­es­se­lo­sig­keit, der Beson­der­heit dieses Gebäu­des gerecht zu werden. Wie die ande­ren Häuser in der Acker­straße gibt es zwar nach vorn keine Balkone, die wurden aber dafür an den Quer­ge­bäu­den zum zwei­ten Hof ange­bracht. Leider muss man fest­stel­len, dass der gesamte Komplex immer mehr verfällt und die Reize, die diese Gebäude vorzu­wei­sen haben, mehr und mehr verschwin­den.
Über­haupt die Balkone: Wer aufmerk­sam durch die Acker­straße geht, dem wird auffal­len, dass es zwischen der Tor- und Inva­li­den­straße insge­samt nur zwei Balkone gibt — und die stehen sich im ersten Stock der Haus­num­mern 18 und 152 genau gegen­über!

In der Acker­straße 18 hat sich der Verein “Künst­ler­haus am Acker!” in den letz­ten Jahren ein Zuhause geschaf­fen. Schon 1978 betrieb Heiner Behr hier eine Werk­statt für Künst­ler­be­darf. Als das Haus ab 1988 entmie­tet wurde und schon zum Groß­teil leer stand, wurde es von Behr und seinen Freun­den besetzt. Sie grün­de­ten eine Initia­tiv­gruppe, die das Haus kaufte und in Selbst­hilfe von 1993 bis 1996 sanierte. Neben elf Wohn­ate­liers sind hier nun die Gale­rie Art Acker, das Anti­qua­riat Wieder­hold & Mink sowie die Töpfe­rei Alten­stein unter­ge­bracht.
Die Remise im Hof stammt noch von 1856, also der zwei­ten Bebau­ung des ehema­li­gen Vogt­lands. Zwar steht es heute unter Denk­mal­schutz, aber es wurde — meiner Meinung nach — bei der Sanie­rung zu sehr der heuti­gen Nutzung ange­passt. Man sieht im die Geschichte leider nicht mehr an.
Gegen­über ist noch alles beim alten: Betritt man die Ackerstraße150/151, könnte man sich auch fünf­zig Jahre jünger fühlen. Auf dem Hof die Remise und die Gara­gen, die früher als Pferde- und Kuhställe gedient hatten, geben heute noch einen Eindruck vom Ausse­hen der Straße in den 30-er und 40-er Jahren.
Einige Häuser weiter wieder Geschichte, die über­lebt hat: In der Acker­straße 145 werden seit 1942 Blumen und andere Gewächse verkauft, seit über 30 Jahren ist es das “Blumen­haus Nord” des Herrn Pflanz (!). Und auch das benach­barte “Altdeut­sche Ball­baus” schaut auf sech­zig Jahre Geschichte zurück. Es war urspüng­lich in der Joachim­straße, musste dann aber dort raus und siedelte sich in der Acker­straße 144 an. “Kein Zutritt in Jeans” droht ein Schild am Eingang denje­ni­gen, die einen feucht­fröh­li­chen Abend mit Polo­naise genie­ßen wollen. Seit 1969 in Hand von Edith Juckel ist dieses Ball­haus sehr beliebt und oft knackevoll. Vor allem mitt­wochs: “Da gehen auch Männer mit Lade­hem­mun­gen weg wie warme Semmeln”. Erste Abcheck­ver­su­che kann man über’s Tisch­te­le­fon star­ten. Die hier gespielte Musik kann zwar nicht gerade unter Multi-Kulti verbucht werden (“Herzi­lein, du musst nicht trau­rig sein…”), trotz­dem wird das Altdeut­sche Ball­haus auch von Türken, Serben, Kroa­ten, Spani­ern oder Englän­dern besucht.
Gegen­über die Acker­halle wurde nach über hundert Jahren als Markt­halle Ende der Acht­zi­ger geschlos­sen und eröff­nete 1991, dann aller­dings als große Kauf­halle. Nur noch die Fassade, die riesige Decken­kon­struk­tion und einige aufge­hängte Fotos erin­nern heute noch an die ehema­lige Funk­tion als Markt­halle.

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