Viehmarkt — Industriekomplex — High-Tech-Zentrum

Zwischen der Volta­straße und dem Humboldt­hain erstreckt sich heute ein Betriebs­ge­lände, dem man seine Vergan­gen­heit als Indus­trie­kom­plex noch ansieht. Viele Jahr­zehnte befand sich hier das Werk der AEG. Doch die Anfänge liegen viel, viel weiter zurück, nämlich vor über 400 Jahren. Das folgende Kapi­tel (teil­weise schon vom Weddin­ger Heimat­for­scher Bruno Stephan geschrie­ben) beschreibt die Entwick­lung dieses Gelän­des.

Wer heute alte Pläne der nörd­li­chen Brun­nen­straße betrach­tet, findet auf ihnen west­lich der Straße ein großes Vier­eck, auf dem sich Gebäude an Gebäude reiht. Heute ist von ihm kaum noch eine Spur vorhan­den. Über die Bedeu­tung der großen Anlage steht im Plan von 1872 »Neuer Vieh­hof«, bzw. »Berli­ner Vieh­markt«. In der Karte des Gold­schmidt-Führers durch Berlin von 1889 ist schon »Ehema­li­ger Vieh­markt« zu lesen und nörd­lich davon »Berli­ner Lager­hof«.

Wir wollen der Entwick­lung nach­spü­ren und stoßen erst­mal auf Ostern 1591: Damals wurde ange­ord­net, dass alles Vieh nur noch in öffent­li­chen Schlacht­häu­sern gekillt werden dürfe. Und was war nicht alles auszu­son­dern: »Unrei­nes, packi­ges, ambrüch­ti­ges, untüch­ti­ges, träch­ti­ges, wirwel­süch­ti­ges, wolfs­bei­ßi­ges, räudi­ges, finnich­tes, grell­sich­ti­ges, und tadel­haf­ti­ges Vieh«. Die Behörde hatte also ein schar­fes Auge darauf, dass die Bevöl­ke­rung gutes Fleisch erhalte. Um die glei­che Zeit hört man vom ältes­ten bekann­ten Berli­ner Vieh­hof. Er lag an der Jäger­straße in Mitte. Vieh­han­del und Schläch­te­rei gehen nun aber mit schlech­ten Gerü­chen einher, so dass man den Vieh­han­del zum späte­ren Alex­an­der­platz verlegte, der dann erst einmal Woll­platz hieß, was mit dem Vieh zusam­men­hing.
Im Jahre 1661 wurde ein Schlacht­haus an der Schlacht­gasse über der Spree erwähnt, das sogar bei späte­rem schär­fe­rem Schlacht­zwang 1787 erneu­ert wurde und sich bis 1842 hielt. Durch die Einfüh­rung der Gewer­be­frei­heit 1810 entstan­den drei weitere Schlacht­höfe, an der Padden­gasse, der Waisen­brü­cke und der Fischer­straße. Doch je mehr Höfe, desto schlech­ter die Kontrolle, was natür­lich die Büro­kra­tie wurmte, die nach Abhilfe sann.
1821 kam am Büsching­platz auch noch der Kläger­sche Vieh­hof dazu, der sich zwar zu einer Berli­ner Sehens­wür­dig­keit mauserte, aber eben­falls zu Klagen Anlass gab. 1871 brach dort die Rinder­pest aus, der Hof musste zeit­weise geschlos­sen werden. Zu den Konse­quen­zen gleich mehr.

Nun kam erst einmal Dr. Bethel Henry Strous­berg ins Spiel. Er war ein Unter­neh­mer­ta­lent. Als Zeitungs­be­sit­zer erwarb er sich ein Vermö­gen und sattelte mit seiner Ankunft in Berlin 1855 um auf Eisen­bahn: Das heißt, er kümmerte sich um alles, er lieferte seinen Kunden die fertige Bahn. Von der Stre­cken­pla­nung über die Behör­den-Geneh­mi­gun­gen bis zum Bau lag alles in einer Hand. Viele wich­tige Stre­cken waren sein Werk, wie die nach Sach­sen oder Ostpreu­ßen. Er baute aber auch in Ungarn und Rumä­nien; und er plante sogar den Nord-Ostsee-Kanal.
Zur selben Zeit wollte sich Strous­berg auch auf dem Sektor des Vieh­han­dels versu­chen, er spürte, dass in Berlin damals damit Geld zu machen war. Da er wie gehabt alles in einer Hand hatte, ging es rela­tiv schnell. Eines Tages hatte er auch das Grund­stück an der Brun­nen­straße in eben dieser Hand. Die »Berli­ni­sche Comman­dit Gesell­schaft«, deren Haupt er war, ging an die Arbeit. Baumeis­ter war August Orth, dem wir auch die Zions- und manche andere Kirche verdan­ken, die jedoch den letz­ten Krieg nicht über­lebt haben. Strous­berg ließ nicht nur Vieh­hal­len errich­ten, sondern auch Schlacht­häu­ser.
1867 wurde gegrün­det, 1868–70 gebaut. Im Mittel­punkt entstand ein Börsen­ge­bäude mit Restau­rant. Über­ragt wurde die Anlage von einem Wasser­turm. Als der Bau stand, über­gab ihn Strous­berg an die »Berli­ner Vieh­markt AG«. Genau zu dieser Zeit wurde der Kläger­sche Vieh­hof wegen der Rinder­seu­che geschlos­sen und so kehrte auf das Gelände in der Brun­nen­straße das pralle Leben ein.

Der Lehrer Richard Ilnitzky, der 1871 auf den Vieh­hof gebo­ren wurde und dessen einar­mi­ger Vater dort Buch­hal­ter war, erzählte 1931 in der »Berli­ner Morgen­post« anschau­lich vom dama­li­gen Trei­ben. In seinen Jugend­jah­ren war die Brun­nen­straße noch eine Chaus­see mit hohen Baum­rei­hen, beider­seits von tiefen Gräben einge­fasst. Das Vieh kam auf einem Anschluss­gleis, das verzweigt zu den verschie­de­nen Stäl­len führte. Über die Stra­ßen herge­trie­ben wurde das Vieh nur noch selten, auch wenn man heute im Gesund­brun­nen noch manch­mal die Geschichte vom entlau­fe­nen Stier hört. Lautes Trei­ben herrschte im Börsen­re­stau­rant, der dortige Wirt war eine wich­tige Persön­lich­keit. Im Norden des Gelän­des befand sich der Woll­markt.

Doch die ganze Vieh­markt­herr­lich­keit war nur eine kurze Episode, denn schon im März 1868 war ein Gesetz erlas­sen worden, das den Gemein­den die Befug­nis gab, Schlacht­zwang und Fleisch­un­ter­su­chung amtlich einzu­füh­ren. Dies war eine Konse­quenz aus mehre­ren Epide­mien, die in einem Fall mehr als hundert Todes­op­fer forder­ten. Um eine gute Quali­tät des Flei­sches garan­tie­ren zu können, beschloss die Stadt, den Strous­berg­schen Vieh­hof aufzu­kau­fen. Doch die Vieh­markt-Gesell­schaft forderte einen zu hohen Preis, so dass der Plan schei­terte. Statt­des­sen wurde nun der Bau eines städ­ti­schen »Zentral-Vieh- und Schlacht­ho­fes« beschlos­sen und begon­nen. Dieser Vieh­hof, auf dem Gelände zwischen der heuti­gen Elde­naer und Stor­kower Straße gele­gen, konnte 1881 in Betrieb genom­men werden, zwei Jahre später wurde der Schlacht­zwang einge­führt. Das war nach nur elf Jahren Betrieb das Ende des Vieh­hofs an der Brun­nen­straße.

Das riesige Gelände verfiel in die Nutz­lo­sig­keit. Der folgende Lager­hof war nur eine Über­gangs­lö­sung. Einen Teil der alten Ställe nutzte die »Allge­meine Berli­ner Omni­bus Actien Gesell­schaft« als Pfer­de­ställe. Zu jedem Omni­bus gehör­ten fünf Bespan­nun­gen, die durch­schnitt­lich je drei Stun­den Dienst taten. Ursprüng­lich liefen vor den 16-plät­zi­gen einfa­chen bzw. 30-plät­zi­gen Doppel­stock­wa­gen däni­sche und belgi­sche Gäule. Ab 1905 verwandte man dann die billi­ge­ren Russen. Ina Seidel schrieb, wie ihr der Hufschlag pflas­ter­mü­der Omni­bus­gäule, die ihre letz­ten Wagen in das Depot zurück­schlepp­ten, aus ihrer Zeit in der Bernauer Straße in Erin­ne­rung blieb.
Das Vieh­hof­ge­lände wurde nun in klei­nere Blöcke aufge­teilt, es wurden neue Wohn­häu­ser gebaut. Dort wo Pferde-Omni­busse unter­ge­bracht waren, kamen bald die ersten Benzin­busse unter. Später muss­ten sie dann in die Jasmun­der und Usedo­mer Straße auswei­chen. Doch die nächs­ten hundert Jahre des ehema­li­gen Vieh­hof-Gelän­des waren, gar nicht weit entfernt, schon in die Wege gelei­tet.

Ein Industriekomplex entsteht

Die Grün­dung und der Aufstieg der AEG sind vor allem das Werk des Berli­ner Inge­nieurs und Unter­neh­mers Emil Rathenau. Seine ersten Erfah­run­gen im Maschi­nen­bau sammelte er nach dem Studium in England, danach über­nahm er zusam­men mit einem Freund eine Maschi­nen­fa­brik in Berlin. Rund um die Chaus­see­straße entstan­den viele Maschi­nen­bau­fir­men wie die von Borsig, Wöhlert, Egells oder Schwartz­kopff, und auch Rathen­aus erstes eige­nes Projekt, »die Maschi­nen­fa­brik M. Webers« befand sich dort. Sie produ­zier­ten dort »so ziem­lich alles, was sich aus Eisen herstel­len ließ«. Als er sich 1875 auszah­len ließ, hatte er nach eige­nen Anga­ben »die erste Phase geschäft­li­cher Tätig­keit abge­schlos­sen« — und war um eine 3/4 Million reicher.

Rathenau erkannte bald, dass zukünf­tige Rendi­ten eher in der aufkei­men­den Elek­tro­bran­che als im Maschi­nen­bau zu erzie­len seien. Vor allem die Erfin­dung der Glüh­lampe machte deut­lich, dass es sich bei der Elek­tro­in­dus­trie um einen Bereich handelt, mit dem in Zukunft Geld zu verdie­nen sei. So begann Rathenau 1884 mit der Produk­tion von Glüh­lam­pen, zuerst noch in der Schle­gel­straße, also gleich um die Ecke der Chaus­see­straße. Seine Firma, die Deut­sche Edison-Gesell­schaft, war jedoch nur ein Über­gang, schon drei Jahre später soll­ten weitere Produk­ti­ons­zweige dazu­kom­men.
Am 23. Mai 1887 wurde der Betrieb in »Allge­meine Elek­tri­ci­täts-Gesell­schaft« umbe­nannt. Mit dem neuen Namen wurde darauf hinge­wie­sen, dass man sich nun auf alle Berei­che der Elek­tro­in­dus­trie ausbrei­tete. Noch im selben Jahr über­nahm die AEG zudem die Verwal­tung der Berli­ner Elek­tri­ci­täts­werke (BEW).

Durch die Auswei­tung der Produkt­pa­lette reichte das Gebäude in der Schle­gel­straße nicht mehr aus. Seit 1888 entstand deshalb auf dem aufge­kauf­ten Grund­stück der »Maschi­nen­bau-Anstalt W. Wedding« in der Acker­straße 76 ein komplett neues Werk. Der gesamte Block zwischen Acker‑, Feld‑, Hussi­ten- und Herms­dor­fer Straße (heute Max-Urich-Straße) wurde abge­ris­sen und nach Plänen von Paul Tropp und Franz Schwech­ten neu errich­tet. In der Hoch­zeit der AEG arbei­te­ten in diesem Werk später in mehre­ren Schich­ten bis zu 9.200 Menschen!
Neben Glüh­lam­pen wurden hier vor allem Elek­tro­mo­to­ren herge­stellt, ein Schwer­punkt waren Moto­ren für die neu entste­hen­den elek­tri­schen Stra­ßen­bah­nen. Später wurde es die Appa­ra­te­fa­brik.
Trotz der Größe wurde das Werk Acker­straße für die AEG schnell zu klein. Rathenau suchte ein Erwei­te­rungs­ge­lände und fand es direkt angren­zend zwischen der Hussi­ten- und der Brun­nen­straße. Auf dem ehema­li­gen Schlacht­hof-Gelände war neben einem Busde­pot die »Berli­ner Lager­hof AG« unter­ge­bracht, die auch den noch vorhan­de­nen Gleis­an­schluss nutzte. Er ist übri­gens bis heute noch vorhan­den, wenn auch nicht mehr in Betrieb. Ausge­hend vom Bahn­hof Gesund­brun­nen zog sich ein Schie­nen­strang auf das Gelände, und die Lager­hof AG errich­tete dort einen eige­nen klei­nen Güter­bahn­hof namens »Lager­hof bei Gesund­brun­nen«. Damit war das Grund­stück an das Fern­bahn­netz ange­schlos­sen.

Die AEG kaufte fast das gesamte Gelände zwischen der Hussi­ten- und Brun­nen­straße. Nur an der Volta- und der Hussi­ten­straße blie­ben (vorerst) einige neu gebaute Wohn­häu­ser in frem­dem Besitz.
Hier soll­ten nun große Hallen und der Groß­teil der Produk­ti­ons­stät­ten entste­hen. Die gerade erst wenige Jahre alte Bebau­ung wurde nach und nach abge­ris­sen, die neu geschaf­fe­nen Blöcke wieder zusam­men­ge­legt, und so entstand das Gelände erneut in der ursprüng­li­chen Größe.

Die AEG-Fabri­ken Brun­nen­straße wurden anfangs unter der Leitung von Tropp und Schwech­ten errich­tet. Hier wuchs eine wahre Fabrik­stadt, die für Außen­ste­hende unüber­sicht­lich und einschüch­ternd wirkte. Inner­halb weni­ger Jahre entstan­den: die Groß­ma­schi­nen­fa­brik, (Alte) Fabrik für Bahn­ma­te­rial, Fabrik für Hoch­span­nungs­ma­te­rial, Klein­mo­to­ren­fa­brik, Neue Fabrik für Bahn­ma­te­rial und die Monta­ge­halle für Groß­ma­schi­nen. Die AEG konnte damit die gesamte Produkt­pa­lette — vom kleins­ten Schal­ter bis zum riesi­gen Dynamo — im Wedding produ­zie­ren.

1895 wurde eine unter­ir­di­sche Verbin­dung zwischen den beiden Werken ange­legt. Der Tunnel machte es möglich, mittels einer elek­trisch betrie­be­nen Bahn Mate­ria­lien und Arbei­ter von einer Fabrik zur ande­ren zu trans­por­tie­ren. Diese Bahn hatte Modell­cha­rak­ter und gilt als erste U‑Bahn Berlins. Eine AEG-Zeitung notierte: »Diese Bahn hat sich in der Folge vorzüg­lich bewährt. Der Tunnel in einer Länge von 270 Metern hat ellip­ti­schen Quer­schnitt von 2,6 Metern Breite und 3,15 Metern Höhe. Die Tunnel­sohle liegt 6,5 Meter unter der Straße. Zur Beför­de­rung von Perso­nen und Lasten dient eine elek­tri­sche Loko­mo­tive.«Mit ange­häng­ten Güter­lo­ren für den Mate­ri­al­trans­port erreichte die Bahn immer­hin eine Geschwin­dig­keit von 30 km/h. Später wurde der Verkehr einge­stellt, und gegen Ende des Zwei­ten Welt­kriegs fungierte der Tunnel als Lager für Konstruk­ti­ons­un­ter­la­gen. In den 50er und 60er-Jahren wurde er dann noch mal als Bahn­tun­nel von klei­nen Elek­tro­kar­ren auf Gummi­rei­fen genutzt. Heute ist er zwar noch vorhan­den, aber nicht mehr zugänglich.Ein Jahr später entstand an der Brun­nen­straße das »Beam­ten­tor« als reprä­sen­ta­ti­ver Eingang zum Werk­ge­lände. Die Mehr­zahl der Beschäf­ti­gen — die Arbei­ter — durf­ten es jedoch nicht benut­zen, sie muss­ten das Werk von der Gustav-Meyer-Allee und der Volta­straße aus betre­ten. Das Tor wurde von Franz Schwech­ten entwor­fen, darauf ist auch das alte Firmen­si­gnet ange­bracht: Auf golde­nem Grund ein Fries aus Glüh­bir­nen. Um 1900 wurde »Elek­tra«, die »Göttin des Lichts«, zum AEG-Firmen­si­gnet. Heute ist dieser Eingang das Letzte, was von der Brun­nen­straße aus gese­hen noch an die AEG erin­nert.

Am Ende des 19. Jahr­hun­derts wurde auch das neue Gelände zu klein, nach­dem 1896 in der Volta­straße der Bau von Loko­mo­ti­ven begon­nen hatte, einer mitt­ler­weile eher unty­pi­schen Produkt­sparte, die später auch wieder aufge­ge­ben wurde. Aufgrund der Platz­pro­bleme verlegte die AEG einen Teil der Ferti­gung an die Spree nach Ober­schö­ne­weide. Durch den gestie­ge­nen Bedarf an Elek­tro­lei­tun­gen musste auch dieser Produk­ti­ons­zweig ausge­baut werden, und so entstand das Kabel­werk Ober­spree. Auf der Welt­aus­stel­lung 1900 in Paris präsen­tierte der Konzern seine Weddin­ger Fabrik­an­la­gen in zahl­rei­chen Foto­gra­fien, und selbst die engli­sche Konkur­renz sprach bei den Fabri­ka­ti­ons­stät­ten der AEG von dem »größ­ten, best­ein­ge­rich­te­ten und wissen­schaft­lich am vorzüg­lichs­ten orga­ni­sier­ten Werke«.Zu diesem Zeit­punkt waren jedoch viele der heute stehen­den Gebäude noch gar nicht errich­tet, der Komplex wurde noch Jahr­zehnte lang erwei­tert. Im Mai 1908 begann der zweite Bauab­schnitt der (Alten) Fabrik für Bahn­ma­te­rial, in dem west­li­chen Mittel­flü­gel wurden ab 1909 Moto­ren für Loko­mo­ti­ven, Aufzüge, Kräne usw. herge­stellt, sowie aller­lei weitere für den Bahn­be­trieb erfor­der­li­che Metall- und Elek­tro­pro­dukte.

Man muss sich das AEG-Gelände zu diesem Zeit­punkt wie einen Flicken­tep­pich vorstel­len: Die Groß­ma­schi­nen­halle begrenzte es nach Norden hin, auch einige klei­nere Gebäude stan­den dort an der Grün­flä­che. An der Ecke zur Brun­nen­straße stand ein Werk­ge­bäude, daran schloss sich das Beam­ten­tor an. Von dort bis zur Ecke Volta­straße und auch in der Volta­straße selbst stan­den noch die Wohn­häu­ser aus den 1880er-Jahren. An manchen Stel­len waren sie bereits abge­bro­chen worden, dort­hin baute die AEG einzelne Abtei­lun­gen wie das Klein­mo­to­ren­werk. Etwa auf der Hälfte der Volta­straße war der Zugang zum Güter­bahn­hof »Lager­hof am Gesund­brun­nen«, der sich ja noch mitten auf dem Gelände befand. An diesen Eingang schlos­sen sich die Metall­gie­ße­rei und die Stan­ze­rei an. Dann kamen wieder Wohn­häu­ser, die sich um die Ecke in der Hussi­ten­straße fort­setz­ten, fast bis zur Gustav-Meyer-Allee hin. In der Zeit zwischen 1908 und dem Beginn des Ersten Welt­kriegs verän­derte sich das Gesicht des Werk­ge­län­des auffäl­lig. Wurden in der Anfangs­phase nur die gerade benö­tig­ten Teile des Areals genutzt, ist zur Jahr­hun­dert­wende jeder Quadrat­me­ter verplant gewe­sen. Da das aber nicht reichte, wurden nied­rige Gebäude aufge­stockt oder durch vier- bis sechs­stö­ckige Fabrik­ge­bäude ersetzt.

Der nörd­lich gele­gene Teil des Gelän­des war durch einen brei­ten Grün­strei­fen von der Gustav-Meyer-Allee und dem Humboldt­hain getrennt. Um mehr Platz für das Fabrik­ge­lände zu erhal­ten, verengte man die Straße, der Grün­strei­fen wurde dem AEG-Komplex geop­fert. Das an der Ecke zur Brun­nen­straße gele­gene Grund­stück gehörte dem städ­ti­schen Garten­bau­amt, das es an die AEG vermie­tete. Dort wurde eine große Halle errich­tet, ursprüng­lich als Lager­halle geplant, dann aber als Versamm­lungs­raum für die Beleg­schaft genutzt (später, nach dem Zwei­ten Welt­krieg, war dort noch jahre­lang eine Markt­halle unter­ge­bracht).
Auch an der Hussi­ten­straße machte man aufgrund des erhöh­ten Platz­be­darfs nun kurzen Prozess: Acht Wohn­häu­ser mit insge­samt elf Seiten­flü­geln wurden geräumt und abge­ris­sen. Statt dessen entstand dort ab 1912 die 180 Meter lange Monta­ge­halle für Groß­ma­schi­nen von Peter Behrens. Zum ersten Mal wurde im Berli­ner Indus­trie­bau eine Eisen­fach­werk-Konstruk­tion mit einem durch­ge­hen­den Glas­dach ausge­führt. Der Bau bestimmt bis heute die gesamte Front an der Hussi­ten­straße.
Entlang der Volta­straße wurde die eben­falls von Behrens entwor­fene Klein­mo­to­ren­fa­brik mit einer 190 Meter langen Stra­ßen­front errich­tet. Die Fassade, mit ihrer senk­rech­ten Glie­de­rung mit Halb­säu­len und den in großen Abstän­den gezo­ge­nen Pfei­lern, entsprach dem Selbst­ver­ständ­nis der neuen Indus­trie­ma­na­ger. Anders als noch beim Werk in der Acker­straße wurde hier nicht mehr Herr­schafts­struk­tur kopiert, sondern der Stolz auf die neue Tech­nik drückte sich jetzt auch in den reprä­sen­ta­ti­ven Gebäu­den aus. Zudem erfüllte diese riesige Halle Forde­run­gen an eine völlig neue Produk­ti­ons­tech­nik und Fabrik­or­ga­ni­sa­tion.

Nicht verges­sen werden soll auch noch »Essig-Kühne«. Denn wenn man von der Brun­nen­straße aus in die Volta­straße hinein­geht, hatte die Firma Kühne beider­seits der Straße ihr Werk. Schon 1722 grün­dete ein gewis­ser Johann Daniel Epinius eine kleine Essig­braue­rei in Berlin. Nach seinem Tod verkaufte die Witwe den Betrieb 1761 an einen Daniel Teichert, und zwei Gene­ra­tio­nen später ging er an den Vetter Carl Ernst Wilhelm Kühne. Er gab ihr seinen Namen, der fortan für ein Fami­li­en­un­ter­neh­men stand, das Marken­ge­schichte schrieb. Die »Braue­rei« zog etwa 1890 auf das Gelände an der Brun­nen­straße, hier wurde die damals modernste Tech­nik einge­führt. Im Krieg wurde der Groß­teil der Produk­ti­ons­be­triebe zerstört, trotz­dem schaffte es die Firma, sich danach zu einem der wich­tigs­ten Fein­kost­her­stel­ler hoch­zu­ar­bei­ten.
Nach dem Mauer­bau flüch­tete auch Kühne, wie viele andere Firmen, aus Berlin. Der Firmen­sitz wurde nach Hamburg verlegt, doch die Produk­ti­ons­stätte im Wedding blieb bestehen. Als das AEG-Werk 1983 geschlos­sen wurde, zog das Kühne-Werk in die einige Kilo­me­ter entfernte Provinz­straße nach Reini­cken­dorf, wo es noch heute ange­sie­delt ist.

Arbeiterbewegung und Krieg

Emil Rathenau, der Grün­der der AEG, hatte sich in den USA umge­se­hen und die Produk­ti­ons­me­tho­den von dort über­nom­men. Massen­pro­duk­tion, Akkord­sys­tem und rein nach kauf­män­ni­schen Prin­zi­pien aufge­baute Arbeits­pro­zesse wurden über­nom­men: Den rela­tiv selbst­stän­di­gen Fach­ar­bei­ter gab es in diesem System kaum noch, der Anteil von an- und unge­lern­ten Arbei­tern erhöhte sich stän­dig, zuneh­mend wurden Frauen als Billig­lohn-Arbeits­kräfte einge­stellt. Die AEG wurde zum größ­ten Arbeit­ge­ber im Wedding. Tausende ström­ten täglich in die Maschi­nen­hal­len und Werk­stät­ten. Ab 1926 begann in großem Stil die Fließ­band­pro­duk­tion. Der selbst­stän­dig denkende Arbei­ter, der den Gesamt­zu­sam­men­hang seiner Arbeit noch über­sieht und sich auch inhalt­lich damit ausein­an­der­set­zen kann, war mit dieser Produk­ti­ons­weise verschwun­den.

Ratio­na­li­sie­rung, Arbeits­ent­lee­rung, Ausbeu­tung, Produk­ti­vi­täts­stei­ge­rung waren die Schlag­worte, die im entste­hen­den Wider­stand und Protest gegen die Arbeits­be­din­gun­gen eine Rolle spiel­ten. Um ihren Inter­es­sen mehr Druck zu verlei­hen, orga­ni­sier­ten sich die Beschäf­tig­ten im Metall­ar­bei­ter-Verband, dem Vorläu­fer der heuti­gen IG Metall. Zu Beginn des Ersten Welt­kriegs waren in Berlin aller­dings nur 87.000 Mitglie­der in diesem Verband orga­ni­siert, der für höhere Löhne und kürzere Arbeits­zei­ten eintrat. Gleich­zei­tig bilde­ten sich Zellen der »revo­lu­tio­nä­ren Obleute«. Im Wedding waren die Arbei­ter der AEG und von Schwartz­kopff führend in dieser Bewe­gung.
1916 streik­ten in diesen und eini­gen ande­ren Groß­be­trie­ben 55.000 Menschen gegen die Verhaf­tung des Sozia­lis­ten­füh­rers Karl Lieb­knecht. Im April 1917 stan­den dann 319 Betriebe still, 217.000 Arbei­ter gingen auf die Straße, um eine bessere Versor­gung der Bevöl­ke­rung zu erzwin­gen, aber auch für eine Erklä­rung der Regie­rung zur sofor­ti­gen Frie­dens­be­reit­schaft und den Verzicht auf jede offene oder versteckte Anne­xion. Die AEG war mit der gesam­ten Beleg­schaft von 51.800 Menschen am Streik betei­ligt. Und am 9. Januar 1919 trafen sich 40.000 Beschäf­tigte der AEG und von Schwartz­kopff im Humboldt­hain und forder­ten die »Eini­gung zwischen Arbei­tern aller Rich­tun­gen, um dem Blut­ver­gie­ßen ein Ende zu berei­ten«.

Bei der AEG haben sich auch einige der härtes­ten Arbeits­kämpfe und poli­ti­schen Ausein­an­der­set­zun­gen zwischen Nazis und Kommu­nis­ten abge­spielt. Noch um 1931/32 herum galt die Gegend um den Gesund­brun­nen als »roter Wedding« — die Sozi­al­de­mo­kra­ten und Kommu­nis­ten hatte hier eine sichere Basis. Doch diese bröckelte immer mehr, je schlech­ter es den Menschen wirt­schaft­lich ging. Die Welt­wirt­schafts­krise erreichte die Arbei­ter­schaft der AEG, und bald gab es auch hier Akti­vi­tä­ten der NSDAP: So wurden im Juli 1929 bei der AEG sowohl in der Brun­nen­straße als auch in der Acker­straße natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Zellen gegrün­det.
Nach dem Krieg wurde bekannt, dass der dama­lige Gene­ral­di­rek­tor Bücher schon vor 1933 mehrere Zuwen­dun­gen zwischen 30.000 und 50.000 Reichs­mark an die NSDAP und die SS vornahm. Da ist es nur zu verständ­lich, dass gleich nach der Macht­über­nahme der Faschis­ten mehrere hundert als Kommu­nis­ten oder Sozi­al­de­mo­kra­ten bekannte Arbei­ter entlas­sen wurden.

Mit dem Kriegs­be­ginn 1939 wurde die AEG zu einem Rüstungs­be­trieb erster Wich­tig­keit. Schon im Sommer machte die reine Rüstungs­pro­duk­tion mehr als 50 Prozent des Gesamt­um­sat­zes aus. Doch der Konzern machte sich auch in ande­rer Hinsicht zum Kriegs­ver­bre­cher: Mehrere tausend Kriegs­ge­fan­gene muss­ten als Ersatz für die zur Front einbe­ru­fe­nen Arbei­ter einsprin­gen. In der Dring­lich­keits-Ordnung für die Zuwei­sung von Fremd­ar­bei­tern stand die AEG an erster Stelle. Wich das Wehr­machts-Kommando von dieser Regel ab, protes­tierte die Konzern­lei­tung mit Erfolg: »Die AEG hat bei dieser Aktion eine Anfor­de­rung auf 3.800 Arbeits­kräfte zu laufen, wovon wir inner­halb der letz­ten 3 Wochen 2.200 erhal­ten haben. In den nächs­ten 14 Tagen ist mit weite­ren 1.000 Arbeits­kräf­ten zu rech­nen. Die für uns vorge­se­he­nen auslän­di­schen Arbeits­kräfte wurden ande­ren Fabri­ken zuge­lei­tet. Auf Grund unse­rer Beschwer­den werden wir jedoch diese Leute jetzt erhal­ten.«Direkt neben dem AEG-Gelände wurde im Humboldt­hain ein Hoch­bun­ker errich­tet, zu dem es vom Werk aus einen unter­ir­di­schen Zugang gege­ben haben soll.
Während des Krie­ges wurde der größere der beiden AEG-Komplexe zu etwa 50% zerstört, auch die Appa­ra­te­fa­brik in der Acker­straße bekam einige große Tref­fer ab. Dort wurde der gesamte Ostflü­gel an der Hussi­ten­straße vernich­tet.

Nach 1945

In der Nach­kriegs­zeit verlegte die AEG wie viele andere Firmen ihren Haupt­sitz nach West­deutsch­land, Berlin war aufgrund der poli­ti­schen Situa­tion ein zu unsi­che­res Pflas­ter gewor­den. Trotz­dem ging die Produk­tion in den Weddin­ger Werken vorerst noch weiter, es wurde sogar ange­baut. So errich­tete die AEG von 1964 bis 1966 eine soge­nannte Größt­ma­schi­nen­halle, damals die größte ihrer Art in ganz Europa. Sie maß 175 mal 45 Meter und war 26 Meter hoch. Dort wurden in der Folge­zeit Anla­gen gebaut (selbst ameri­ka­ni­sche Atom­kraft­werke zähl­ten zu den Kunden), sowie z.B. ein Diesel­ge­ne­ra­tor für die Strom­ver­sor­gung der Stadt Gent mit einem Außen­durch­mes­ser von zehn Metern und einem Gewicht von 400 Tonnen.
Doch 1978 kam das erste Aus: Die Fabrik in der Acker­straße wurde aufge­ge­ben, nach­dem die Beleg­schaft zuvor schon von 4.000 Beschäf­tig­ten auf die Hälfte redu­ziert worden war. Im Zuge der Betriebs­still­le­gung wurde die Größt­ma­schi­nen­halle an der Brun­nen­straße wieder abge­ris­sen, und gleich­zei­tig wurden die verblie­be­nen 3.000 Arbei­ter auf die Straße gesetzt. Das Kapi­tel AEG in der Brun­nen­straße war damit nach mehr als 90 Jahren abge­schlos­sen.

Nun teilte man das riesige Grund­stück wieder auf. Der Compu­ter-Herstel­ler Nixdorf über­nahm 1984 den vorde­ren Teil und errich­tete einen riesi­gen Neubau für seine Berli­ner Produk­tion. In den hinte­ren Teil zog die Tech­ni­sche Univer­si­tät, die dort ein »Sili­con Wedding« aufbauen wollte. Jungen Tech­no­lo­gie­fir­men wurden Räume zur Verfü­gung gestellt, das BIG (»Berli­ner Inno­va­tions- und Grün­der­zen­trum«) sowie der TIP (»Tech­no­lo­gie- und Inno­va­ti­ons­park«) wurden gegrün­det. So manche der ange­sie­del­ten Firmen ist in der Zwischen­zeit wieder pleite gegan­gen, allen voran Nixdorf mit dem prot­zi­gen gläser­nen Neubau. Nach­dem Siemens die Firma über­nom­men hatte, wurde das Gebäude an der Brun­nen­straße über­flüs­sig.
So über­nahm es 1994 die »Bank­ge­sell­schaft Berlin«, ein Zusam­men­schluss der Berli­ner Bank, der Landes­bank Berlin sowie der Berli­ner Spar­kasse. Sie eröff­nete hier ihr Dienst­leis­tungs­zen­trum und beschäf­tigt dort etwa 2.000 Mitar­bei­ter. Für 250 Millio­nen Mark bebaute sie außer­dem noch die freien Flächen an der Brun­nen- und der Volta­straße mit Wohn­häu­sern, von denen die Hälfte Wohn­ei­gen­tum ist. Das ellip­sen­för­mige Hoch­haus an der Ecke zur Gustav-Meyer-Allee beher­bergt eben­falls Büros der Bank­ge­sell­schaft.

Unter­des­sen sind in ein paar Gebäude an der Volta­straße Rund­funk­sen­der einge­zo­gen. Der »Offene Kanal« und die Radio­sen­der »Kiss FM« und »94,3 r.s.2« sowie die Berli­ner Studios der »Deut­schen Welle« haben sich hier ange­sie­delt.
Tech­no­lo­gie­park, Compu­ter­fir­men, Bank­ge­sell­schaft, Radio­sen­der — das ehema­lige Gelände der AEG, einst ein Zentrum des Berli­ner Indus­trie­pro­le­ta­ri­ats, hat sich bis zur Unkennt­lich­keit gewan­delt. Von der hier einst ange­sie­del­ten Arbei­ter­tra­di­tion ist nichts mehr übrig geblie­ben.
Anders die Archi­tek­tur: Zwar wurde ein großer Teil der ursprüng­li­chen Bebau­ung abge­ris­sen, vieles steht aber noch. Die Klein­mo­to­ren­fa­brik und die Fabrik für Bahn­ma­te­ria­lien an der Volta­straße ebenso wie die unter Denk­mal­schutz stehende Monta­ge­halle für Groß­ma­schi­nen an der Hussi­ten­straße oder die Trans­for­ma­to­ren­fa­brik im Block­in­ne­ren. Auch die Eisen­bahn­schie­nen sind auf der west­li­chen Hälfte des Gelän­des größ­ten­teils noch vorhan­den. Vom Ostteil ist außer der Klein­mo­to­ren­fa­brik leider nichts mehr übrig.

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