Im Jahre 1743 stand Moses Mendels­sohn von dem Rosen­tha­ler Tor, dem einzi­gen Berli­ner Stadt­tor, durch welches damals Juden in die Stadt gelas­sen wurden. Zu diesem Zeit­punkt exis­tierte die Brun­nen­straße noch nicht. Nur ein holp­ri­ger Sand­weg führte weg von den Toren der Stadt. Trotz­dem könnte man gewis­ser­ma­ßen bereits hier vom Beginn des jüdi­schen Lebens in der Brun­nen­straße (wie der Sand­weg später heißen sollte) spre­chen, denn vor dem Stadt­tor befand sich die soge­nannte Juden­her­berge (vgl. Herr Moses in Berlin). Nicht jeder Jude wurde nach Berlin gelas­sen. Ein von der Jüdi­schen Gemeinde beauf­trag­ter Torste­her kontrol­lierte, wer hinein durfte und wer nicht. Nur wenige, spezi­ell auser­wählte Juden erhiel­ten die Erlaub­nis. Die Zurück­ge­wie­se­nen fanden Unter­kunft in eben jener Juden­her­berge:

»Da, wie bekannt, in dieser Resi­denz­stadt kein Bettel­jude gelit­ten wird, so hat die Jüdi­sche Gemeinde zur Versor­gung ihrer Armen ein Haus am Rosen­tha­ler Tore bauen lassen, worin die Armen aufge­nom­men, von den jüdi­schen Ältes­ten über ihr Gesuch in Berlin befragt und nach Befin­den entwe­der, wenn sie krank sind oder einen Dienst suchen, in die Stadt aufge­nom­men oder weiter verschickt werden. Auch ich wurde also in dieses Haus gebracht, das teils mit Kran­ken, teils aber mit lieder­li­chem Gesin­del ange­füllt war. … Endlich gegen Abend kamen die jüdi­schen Ältes­ten. Es wurde ein jeder der Anwe­sen­den vorge­ru­fen und über sein Gesuch befragt. Die Reihe kam auch an mich, und ich sagte ganz offen­her­zig, ich wünsche in Berlin zu blei­ben, um daselbst Medi­zin zu studie­ren. Die Ältes­ten schlu­gen mein Gesuch gera­dezu ab, gaben mir einen Zehr­pfen­nig und gingen fort.« (Salo­mon Maiman)

Zur Zeit Moses Mendels­sohns lebten in Berlin ca. 2.000 Juden (bei einer Einwoh­ner­zahl von rund 100.000). Hundert Jahre später waren es 8.300. Um die Jahr­hun­dert­wende dann explo­dierte die Einwoh­ner­zahl der Reichs­haupt­stadt und mit ihr die Zahl der Juden, die es aus allen Teilen Deutsch­lands und Osteu­ro­pas nach Berlin zog. 1925 dann zählte allein die Jüdi­sche Gemeinde Berlins 172.672 Mitglie­der. Fast ein Vier­tel aller Juden Deutsch­lands lebten in Berlin und Umge­bung. Und der Anteil der jüdi­schen Bevöl­ke­rung in der Nähe des ehema­li­gen Rosen­tha­ler Tores war wiederum der höchste in Berlin, was sicher mit der beson­de­ren Bedeu­tung dieses Tores für Juden zusam­men­hängt. Insbe­son­dere stadt­ein­wärts — zu beiden Seiten der Rosen­tha­ler Straße (Span­dauer Vorstadt) -, aber auch stadt­aus­wärts — entlang der Brun­nen­straße (Rosen­tha­ler Vorstadt) — lebten und arbei­te­ten viele Juden. Spuren hier­von lassen sich trotz Terror und Vernich­tung im Natio­nal­so­zia­lis­mus auch heute noch entde­cken.

Die Privatsynagoge Brunnenstraße 33

Eines der markan­tes­ten Zeichen des jüdi­schen Lebens in der Brun­nen­straße war die Privat­syn­agoge des Synago­gen­ver­eins Beth Zion. Das Gebäude steht noch heute und ist damit das einzig erhal­tene und zugleich öffent­lich zugäng­li­che Gebäude einer ehema­li­gen Privat­syn­agoge in Berlin. Leider scheint es zur Zeit dem Verfall preis­ge­ge­ben zu sein, denn seit 1992 steht es leer, aber dazu später.
Die Synagoge auf dem Hof der Brun­nen­straße 33 war typisch für ihre Zeit. 1910 einge­weiht, entstand sie ebenso wie die ande­ren priva­ten jüdi­schen Betstät­ten in Berlin, um den star­ken Zuzug von Juden aufzu­fan­gen. 1870 gab es in Berlin nur drei Gemeinde-Synago­gen (alle in Berlin-Mitte), bis 1912 kamen fünf weitere dazu. Sie allein konn­ten die reli­giö­sen Bedürf­nisse der inzwi­schen mehr als 100.000 Juden nicht befrie­di­gen. Da es nach jüdi­schem Brauch zuläs­sig ist, einen Gottes­dienst abzu­hal­ten, wenn mehr als zehn Fami­lien (d.h. zehn Männer) zusam­men­kom­men, schlos­sen sich insbe­son­dere die aus dem Osten zuge­reis­ten Juden zusam­men und rich­te­ten eigene Bethäu­ser oder Betstu­ben ein. Dort konn­ten sie nicht nur ihren reli­giö­sen Pflich­ten nach­kom­men, sondern den Gottes­dienst auch in tradi­tio­nel­ler, alt gewohn­ter Weise durch­füh­ren. Ihre Zusam­men­schlüsse dien­ten aber nicht nur der Abhal­tung von Gottes­diens­ten, sondern auch der Wohl­tä­tig­keit, das heißt der gegen­sei­ti­gen Unter­stüt­zung und der Einrich­tung eige­ner Reli­gi­ons­schu­len.

Der Synago­gen­ver­ein Beth Zion entsprach genau diesem Muster. 1879 von zuge­wan­der­ten Juden aus Osteu­ropa (insbe­son­dere aus dem Raum um Posen) gegrün­det, diente er laut Vereins­sat­zung dem Zweck, den tägli­chen Gottes­dienst im tradi­tio­nel­len Sinne abzu­hal­ten, eine Reli­gi­ons­schule zu unter­hal­ten, das Andenken verstor­be­ner Mitglie­der durch Leichen­folge und Abhal­tung des Gottes­diens­tes im Trau­er­haus während der ersten sieben Trau­er­tage zu ehren, Wohl­tä­tig­keit zu üben und den Jugend­bund »Beth Zion« zu fördern. Seinen offi­zi­el­len Sitz hatte der Verein in der Brun­nen­straße 12.

Wo die Vereins­mit­glie­der des Beth Zion zunächst ihre Gottes­dienste abhiel­ten, ist nicht bekannt, mögli­cher­weise in der Wohnung eines Mitglie­des oder in einem ange­mie­te­ten Raum (manche Quel­len spre­chen von der Brun­nen­straße 10). Es soll auch vor 1898 bereits eine Synagoge gege­ben haben. Im Jahre 1910 dann — inzwi­schen hatte der Verein mehrere hundert Mitglie­der — mietete oder kaufte er das Gebäude auf dem Hof der Brun­nen­straße 33 und weihte es als Synagoge. Es ist nicht sicher, ob der Verein das Gebäude direkt als Synagoge hat errich­ten lassen, oder ob es älter ist und nur als solche umge­baut wurde. Die Synagoge hatte Platz für 520 Perso­nen, für die Frauen gab es eine eigene Empore. Neben der Synagoge befin­det sich ein Anbau, in dem es eine Quelle gibt. Es lässt sich vermu­ten, dass er als Mikwe, als heili­ges Quell­bad für ritu­elle Waschun­gen genutzt wurde. Rabbi­ner der Synagoge war bis 1926 Dr. Lewi Höxter, der zugleich die Reli­gi­ons­schule Beth Zion leitete. Er war aufgrund der von ihm heraus­ge­ge­be­nen Broschüre: »Leit­fa­den zur Vorbe­rei­tung für die Barmiz­wah« in Berlin gut bekannt. Rabbi­ner Höxter starb 1927. Sein Nach­fol­ger, Dr. Jeche­s­kel Landau — Nach­komme des berühm­ten Prager Ober-Rabbi­ners im 18. Jahr­hun­dert und Schwie­ger­sohn des Führers der Ostju­den Berlins (Rabbi­ner Abra­ham Mord­e­chai Gryn­berg) — leitete die Gemeinde bis zu ihrer gewalt­sa­men Auflö­sung.

Die Mitglie­der des Vorstan­des und die Reprä­sen­tan­ten des Vereins wohn­ten laut Jüdi­schem Adress­buch von 1929/30 fast alle in der Brun­nen­straße und Umge­bung (Elsäs­ser, Veteranen‑, Ankla­mer und Bernauer Straße). Es war also ein vor allem lokal agie­ren­der Verein. In der Ankla­mer Straße 20 zum Beispiel, in unmit­tel­ba­rer Nähe der Synagoge, befand sich seit 1927 das Heim des Jugend­bun­des Beth Zion. Für den Reli­gi­ons­un­ter­richt wurden die Räume der Volks­schule in der Lini­en­straße genutzt (heute steht dort die Volks­hoch­schule Mitte). Trotz dieser star­ken loka­len Präsenz erin­nert sich heute niemand an die Synagoge in der Brun­nen­straße 33 oder an den Verein Beth Zion. Jüdi­sche Geschäfte — ja, die sind noch im Gedächt­nis der alten Anwoh­ner. Aber an eine Synagoge, zu der teil­weise bis zu 400 Menschen zu den Gottes­diens­ten gingen, erin­nert sich niemand. Verges­sen! Verdrängt! Sicher aber auch Ausdruck jener Zurück­ge­zo­gen­heit und Abge­schlos­sen­heit, in der die jüdi­schen Reli­gi­ons­ver­eine in Berlin lebten. Es war eine eigene Welt in der Stadt.

In der Progrom­nacht vom 9. zum 10. Novem­ber 1938 wurde das Innere der Synagoge in der Brun­nen­straße 33 völlig zerstört. Bis zu diesem Zeit­punkt hatten regel­mä­ßig Gottes­dienste in ihr statt­ge­fun­den. Nun musste sie geschlos­sen werden. Das Gebäude, das aufgrund seiner Nähe zu den umlie­gen­den Wohn­häu­sern nicht wie so viele andere ange­zün­det worden war, über­nahm die benach­barte phar­ma­zeu­ti­sche Fabrik Dr. Hugo Remm­ler. Diese nutzte sie als Lager­raum.

Über das Schick­sal der Mitglie­der des Vereins Beth Zion wissen wir wenig. Rabbi­ner Dr. Landau verließ mit seiner Fami­lie 1939 Berlin. Er lebte bis zu seinem Tod 1965 in New York, wo er nicht nur als Rabbi­ner und Predi­ger in verschie­de­nen Gemein­den tätig war, sondern auch aktiv im Emigran­ten-Hilfs­ver­ein »Hebrew Immi­grant Aid Society« und im Vorstand der »Jewish Friends Society« mitar­bei­tete. Und dann finden wir noch nach länge­rer Suche den Namen Max Kauf­stein. Er war einer der elf Reprä­sen­tan­ten des Vereins. Wir entde­cken seinen Namen in einer der Depor­ta­ti­ons­lis­ten. Er wurde zusam­men mit seiner Frau Rachel am 15.8.1942 abtrans­por­tiert — nach Riga. Unter der Rubrik Todes­ort ist zu lesen: “Riga verschol­len.”

Geblie­ben ist nur das Gebäude der Synagoge. Nach der Enteig­nung der phar­ma­zeu­ti­schen Fabrik Dr. Hugo Remm­ler 1949 wird es zunächst vom VEB Phar­ma­zeu­ti­sche Werke, später vom VEB Berlin-Kosme­tik als Pappel­ager genutzt. 1982 erhält der VEB die Erlaub­nis, das ehema­lige Synago­gen­in­nere umzu­bauen, das heißt eine Zwischen­de­cke einzie­hen und Büro­räume einrich­ten. Zugleich wird das Äußere rekon­stru­iert. Am 1. Januar 1992 gibt die Kosme­tik­firma den Stand­ort in der Ankla­mer Straße auf. Seit­dem steht das denk­mal­ge­schützte Gebäude leer, und sein weite­res Schick­sal ist unge­wiss.
Seit August 1994 weist eine Gedenk­ta­fel am Vorder­haus auf die ehema­lige Synagoge im Hof hin. Ebenso erin­nert der noch lesbare hebräi­sche Schrift­zug über dem ehema­li­gen Eingang der Synagoge selbst an das Vergan­gene. Dort steht geschrie­ben: Dies ist das Tor, durch das die Gerech­ten eintre­ten.

Handel und Gewerbe

Auf der Suche nach weite­ren Spuren jüdi­schen Lebens stößt man auch auf Hinweise, welche die unzäh­li­gen großen und klei­nen jüdi­schen Geschäfte und Unter­neh­men betref­fen, die ihren Sitz in der Brun­nen­straße hatten. Vom Groß­un­ter­neh­mer über den jüdi­schen Arzt bis hin zum klei­nen Händ­ler an der Ecke und Hand­wer­ker im Wohn­zim­mer war hier alles vertre­ten. Zum Beispiel in der Brun­nen­straße 185, wo die Gebrü­der Wein­ber­ger, die größ­ten Butter­händ­ler Deutsch­lands, ihren Stamm­sitz hatten. Von hier aus koor­di­nier­ten sie ihr Impe­rium, zu dem 2.000 Ange­stellte und 125 Geschäfte im ganzen Land gehör­ten. Mehr als 10.000 Händ­ler muss­ten belie­fert werden. Eine Gedenk­ta­fel auf dem Hof des sich heute im Eigen­tum des Landes Berlin befin­den­den Hauses erin­nert an die Fami­lie Wein­ber­ger.

Meist aber erin­nern keine Gedenk­ta­feln an das Gewe­sene. Auf dem Hof der Brun­nen­straße 25 entdeckt man eine »Gedenk­ta­fel« ande­rer Form. Eine Fassa­den­wer­bung, wie sie ähnli­cher Art früher über­all an Häuser­wän­den zu finden war. Sie hat alle Witte­rungs­ein­flüsse, Schuss­wech­sel der letz­ten Kriegs­tage sowie Reno­vie­run­gen über­lebt und wirbt nach wie vor für die Schnei­de­rei Mandel­kern. Über Moritz Mandel­kern wissen wir nichts, auch nicht über die Größe seines Geschäf­tes oder die Anzahl seiner Mitar­bei­ter. Bekannt ist hinge­gen, dass es in der Brun­nen­straße viele Konfek­ti­ons­be­triebe und Schnei­de­reien gab — häufig in jüdi­schem Besitz. Nicht weit entfernt vom Zentrum der Berli­ner Mode — dem Spit­tel­markt — wurde hier das produ­ziert, was man dort präsen­tierte und verkaufte (vgl. hierzu auch die Geschichte der Brun­nen­straße 24).

Die Brun­nen­straße 143 ist zunächst ein wenig auffäl­li­ges Haus. Erst wenn wir auf Spuren­su­che uns das Eingangs­tor genauer betrach­ten, erken­nen wir den Buch­sta­ben B, der in einem ovalen Kreis steht. Das ist das Logo von Oswald Berli­ner, denn der ovale Kreis ist ein O und steht für Oswald wie das B für Berli­ner. Oswald Berli­ner war nicht nur Eigen­tü­mer der Häuser Brun­nen­straße 141–143, sondern auch Besit­zer einer Braue­rei. Sicher ist nicht, ob sich die Braue­rei auf dem Hof befand. Es lässt sich aber vermu­ten, weil es ein histo­ri­sches Foto gibt, auf dem die »Gift­bude«, der Braue­rei­aus­schank in der Brun­nen­straße 143 zu sehen ist.
Eine letzte Spur wollen wir in der Brun­nen­straße 41 verfol­gen.

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