Wohnen im Schatten der Fabrik

Zechen­sied­lun­gen wie im Ruhr­pott oder geschlos­sene Arbei­ter­ko­lo­nien wie im süddeut­schen Raum gibt es in Berlin zwar nicht. Aber auch hier hat der Werks­woh­nungs­bau seine Spuren hinter­las­sen. Die bekann­tes­ten Beispiele sind Siemens­stadt und Borsig­walde — beide Stadt­teile tragen bis heute den Namen der Firma, die dort vor über 100 Jahren Werks­woh­nun­gen baute. Reine Selbst­lo­sig­keit war es nicht, was die Unter­neh­men dazu brachte, sich um die Wohn­raum­ver­sor­gung ihrer Mitar­bei­ter zu kümmern.

Die ersten Werks­woh­nun­gen in Berlin wurden bereits 1819 errich­tet. Mit der einset­zen­den Indus­tria­li­sie­rung war der Bedarf an Arbeits­kräf­ten rasant ange­stie­gen. Aus allen Teilen Deutsch­lands wurden Menschen ange­wor­ben. Das Problem war nur: wohin mit ihnen? 1815 stellte die stark expan­die­rende “König­li­che Eisen­gie­ße­rei an der Panke” Über­le­gun­gen an, für ihre Beschäf­tig­ten so genannte “Fami­li­en­häu­ser” zu bauen. In einem Schrift­wech­sel heißt es zur Begrün­dung: Einer­seits sei es unmög­lich, Miet­woh­nun­gen in der Nähe der Fabrik zu beschaf­fen, ande­rer­seits “weil es zur ordnungs­ge­mä­ßen Betriebs­füh­rung wie auch zur Sicher­heit des Etablis­se­ments wich­tig ist, wenigs­tens einen Teil der Arbei­ter immer zur Hand zu haben.” Die Gieße­rei erwarb Land und ließ vier in einer Reihe liegende Häuser für jeweils vier Fami­lien errich­ten. Für die Vorrats­hal­tung waren Keller­räume geplant, damit sich die Leute nicht “wie gewöhn­lich Löcher in die Wohnun­gen eingra­ben” und für jeden Mieter sollte es einen Garten geben, “wodurch zugleich das Ganze ein freund­li­ches Ansehn gewin­nen wird.”

In dem Brief werden bereits Haupt­prin­zi­pien des späte­ren Werks­woh­nungs­baus deut­lich. Zum einen ging es den Firmen darum, eine Stamm­ar­bei­ter­schaft in der Nähe der Produk­ti­ons­stät­ten zu haben, die bei Repa­ra­tu­ren oder ande­ren beson­de­ren Ereig­nis­sen sofort verfüg­bar war. Zum ande­ren soll­ten insbe­son­dere quali­fi­zierte Arbeits­kräfte lang­fris­tig an das Werk gebun­den werden.
Ein weite­res frühes Beispiel ist die Spind­ler­sche Werks­sied­lung in Köpe­nick. Sie gehörte zur Textil­fa­brik Spind­ler und ist heute noch weit­ge­hend erhal­ten. Die zwei­ge­schos­si­gen Back­stein­häu­ser stam­men aus dem Jahre 1873 und stehen mitt­ler­weile unter Denk­mal­schutz.

Licht, Luft und ein Stück Natur

In der Grün­der­zeit sahen viele Fabrik­be­sit­zer nicht nur wegen der drama­ti­schen Wohnungs­knapp­heit Hand­lungs­be­darf, sich im Wohnungs­bau zu enga­gie­ren. Auch die kata­stro­pha­len, unhy­gie­ni­schen Wohn­ver­hält­nisse in den tradi­tio­nel­len Arbei­ter­quar­tie­ren waren ein Problem. Bestes Beispiel: Borsig­walde. Heute eine idyl­li­sche Sied­lung mit klei­nen Häusern und gepfleg­ten Vorgär­ten. Hier drau­ßen in Tegel hatte die Maschi­nen­fa­brik Borsig 1894 eine große Fabrik gebaut. Auf einem Gelände ganz in der Nähe des Werks wurde in den Folge­jah­ren eine ganze Reihe von Miets­häu­sern errich­tet — durch die Firma Borsig selbst, aber auch durch Bauge­nos­sen­schaf­ten, an denen Borsig maßgeb­lich betei­ligt war. Die neue Sied­lung erhielt den Namen Borsig­walde. Auch hier waren die Wohn­ver­hält­nisse zwar recht beengt und keines­wegs luxu­riös. Jede dritte Fami­lie hatte einen Schlaf­bur­schen, um die Miet­last zu drücken. Die Toilette für alle Haus­be­woh­ner befand sich im Keller oder im Trep­pen­haus. Immer­hin gab es aber nicht die dichte Bebau­ung mit Seiten­flü­gel und Quer­ge­bäude wie sonst in den tradi­tio­nel­len Arbei­ter­quar­tie­ren. Ein beson­de­rer Komfort waren jedoch die Mieter­gär­ten, die zu jeder Wohnung gehör­ten. Sie waren von Borsig zur Erho­lung und zum Anbau von Kartof­feln, Gemüse und Obst vorge­se­hen. Den Bewoh­nern boten sie Licht, Luft und ein Stück Natur.

Arbeits- und Miet­ver­trag gekop­pelt

Um 1914 waren in Deutsch­land gerade einmal 1,4 Prozent des Wohnungs­be­stan­des werks­ei­gene Miet­woh­nun­gen. In eini­gen Regio­nen war der Anteil jedoch wesent­lich höher. So wohn­ten über 20 Prozent der Beschäf­tig­ten in der ober­schle­si­schen Montan­in­dus­trie und im Ruhr­berg­bau in Werks­sied­lun­gen. Die hier häufig ange­wandte Kopp­lung von Arbeits- und Miet­ver­trä­gen war Wohn­re­for­mern und Gewerk­schaf­tern ein Dorn im Auge. Kein Wunder. Bedeu­tete das doch für viele Mieter: Wer seine Arbeit verlor — sei es, weil er selbst ging oder weil ihm gekün­digt wurde — verlor auch seine Unter­kunft. Die Unter­neh­men verspra­chen sich davon, dass ihre Arbei­ter dadurch weni­ger mobil und streik­be­reit wären.

In Berlin traten die meis­ten Firmen nicht selber als Bauher­ren auf, sondern fungier­ten als Darle­hens­ge­ber für Bauge­sell­schaf­ten. Auch die bekannte Werks­sied­lung der Firma Siemens entstand größ­ten­teils auf diese Art. 1899 hatte sich Siemens mit seiner Produk­ti­ons­stätte im Osten Span­daus ange­sie­delt. Von Anfang an waren werks­ei­gene Wohnun­gen geplant. Die Beschäf­tig­ten­zah­len verdeut­li­chen den Bedarf: 1899 hatte man 1200 Mitar­bei­ter, 1910 waren es schon 61000. Im Jahre 1904 wurde mit dem Bau begon­nen. Über Terrain­spe­ku­lan­ten hatte Siemens Grund­stü­cke für 63 Mehr­fa­mi­lien-Wohn­häu­ser von den ansäs­si­gen Bauern erwor­ben. Bauherr war die Märki­sche Boden­ge­sell­schaft. Schon ein Jahr später konn­ten die ersten Wohnun­gen in der Ohmstraße bezo­gen werden. Auch diese Häuser boten einen rela­tiv hohen Komfort. Statt der düste­ren Hinter­häu­ser gab es Mieter­gär­ten und Grün­an­la­gen im Hof. Bis 1914 wuchs die Sied­lung auf insge­samt 845 Wohnun­gen an. Ab 1910 wurden weitere 1500 Wohnun­gen errich­tet.

Auch andere große Berli­ner Firmen stell­ten ihren Mitar­bei­tern firmen­ei­gene Wohnun­gen zur Verfü­gung. So ließ die BVG Anfang der 30er Jahre in der Köni­gin-Elisa­beth-Straße und in Nieder­schön­hau­sen rund um den Betriebs­hof Wohnun­gen für seine Schaff­ner bauen.

Den klas­si­schen Werks­woh­nungs­bau gibt es heute nicht mehr. Bei einem rela­tiv entspann­ten Wohnungs­markt und hoher Arbeits­lo­sig­keit müssen die Firmen nieman­den mehr mit Werks­woh­nun­gen locken. Und außer­dem: Wer will schon nach Feier­abend stän­dig seinen Kolle­gen über den Weg laufen?

Werks­woh­nun­gen vor dem Aus: Zurück zum Kern­ge­schäft

Firmen­ei­gene Wohnungs­be­stände machen heute prak­tisch nur noch durch Diskus­sio­nen um ihre Priva­ti­sie­rung Schlag­zei­len. Ob BVG, Post oder Bahn — fast alle haben in den vergan­ge­nen Jahren ihre Wohnun­gen verscher­belt. Man wolle sich auf sein Kern­ge­schäft konzen­trie­ren, heißt es in den Erklä­run­gen. Neben­bei sollen die Verkaufs­er­löse die leeren Kassen füllen. Kürz­lich wurde beispiels­weise bekannt, dass die BVG ihre rund 5500 Wohnun­gen in der Haupt­stadt verkau­fen will. Ende der 90er Jahre waren in einem jahre­lan­gen Poker die insge­samt 113.000 bundes­ei­ge­nen Eisen­bah­ner­woh­nun­gen verkauft worden. Die Priva­ti­sie­rung war heftig umstrit­ten, weil die Inves­to­ren satte Gewinne einfah­ren konn­ten.

Auch die Siemens-Wohnun­gen wurden nach und nach an Immo­bi­li­en­un­ter­neh­men veräu­ßert — jeden­falls in Berlin. In München dage­gen soll der Bestand an firmen­ei­ge­nen Wohnun­gen sogar ausge­wei­tet werden. “Wir waren in Berlin soweit, dass wir auf dem Wohnungs­markt aktiv Mieter suchen muss­ten”, erklärt der Geschäfts­füh­rer der Siemens-Wohnungs­ge­sell­schaft, Jürgen Schmie­der. “Unser Kern­ge­biet ist aber die Vermie­tung an Mitar­bei­ter des Hauses Siemens und nicht die gene­relle Mieter-Akqui­si­tion.” Am Produk­ti­ons­stand­ort München sieht die Lage dage­gen ganz anders aus. Hier deckt die Nach­frage an Werks­woh­nun­gen nach wie vor nicht das Ange­bot.

Der Münch­ner Ballungs­raum ist auch das einzige Gebiet, in dem heute noch darüber disku­tiert wird, wie sich Firmen Bele­gungs­rechte sichern und den Bau von Wohnun­gen mitfi­nan­zie­ren können.

Birgit Leiß
Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des
Mieter­Ma­ga­zins

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