Echte Schwestern

Zwei Franziskanerinnen betreuen Aids-Kranke, schwules Leben gehört zu ihrem Alltag. Diese Nonnen machen ernst mit der Nächstenliebe. Eine Würdigung.

Der Mann war auf der Flucht, und er trat sie nach vorne an. „Ick habe eure Nummer von der Aids-Hilfe“, sagte er, „die haben gesagt: Sind zwar Nonnen, aber egal. Ick habe ein Problem: Ick braucht eure Hilfe. Aber ick bin schwul, trinke zehn Dosen Bier am Tag, bin Atheist und habe einen Hund.“ – „Wo ist das Problem?“, fragte Schwester Hannelore. Schwester Juvenalis, 68, lächelt liebevoll, während ihre Mitschwester Hannelore, 46, die Anekdote von damals zum Besten gibt. Dann erzählt Schwester Juvenalis stolz, wie die Geschichte weiterging: Einige Monate später verließ der Man diese Welt mit einem Versprechen: „Wenn es den da oben wirklich gibt, halt ich euch die erste Reihe frei.“

Höchstens der Papst könnte noch daran zweifeln, dass diese beiden Ordensschwestern einen Platz im Himmel sicher haben. Sie haben immer ernst gemacht mit der Nächstenliebe. Mitte der 90er Jahre verließen sie ihr Kloster in Münster und gingen nach Berlin. Damals wütete die Aids-Katastrophe in der schwulen Hauptstadt noch ungebremst. Deswegen kamen sie. Man kann das nicht richtig würdigen, wenn man nicht versteht, warum die beiden Nonnen wurden. Aber es hilft schon, ihnen in ihre wachen Augen zu schauen: In ihren Blicken liegt eine liebevolle Gewissheit.

Im Jahr 1960 war Schwester Juvenalis sich nicht sicher. Sie trug noch ihren bürgerlichen Namen: Engeline. Wirklich wahr. Engeline war damals 23 Jahre alt und verliebt in einen Jan. Sie hatte den Wunsch, eine Familie zu gründen, aber irgendwas stimmte nicht. Ihr Geliebter spürte das. Und fragte schließlich: „Ist da ein anderer?“ Ja, da war ein anderer, aber es war kein Nebenbuhler. Engeline wollte mit Gott leben – und ging noch im selben Jahr ins Kloster.
Schwester Hannelore vollzog diesen Schritt 27 Jahre später erstmal testweise, für zwei Wochen. in dieser Zeit verstand sie die franziskanische Überzeugung. „Es ging nicht darum, dass irgendwer oben denkt, und die anderen gehorchen“, sagt sie, „im Vordergrund steht immer die Frage: Was ist aus christlicher Sicht heute dran? Was sind die Zeichen der Zeit? Der heilige Franziskus ging zu den Lebrakranken vor den Toren der Stand. Und wir kümmern uns um Menschen mit Aids.“ Schwester Juvenalis und Schwester Hannelore leben heute in einer Nonnen-WG in Pankow. Sie teilen ihre schlichte Altbau-Wohnung mit Schwester Bernhildis, die als Köchin in einer Suppenküche für Obdachlose arbeitet. Im Erdgeschoss haben sie das Büro ihres Hospizdienstes Tauwerk eingerichtet. Von hier aus organisieren sie die Betreuung von Aids-Kranken in ihrer letzten Lebensphase – in den eigenen vier Wänden. 30 bis 40 Fälle übernimmt Tauwerk pro Jahr. Alle drei bis vier Wochen stirbt einer der Schützlinge. In An einem goldgelben Vorhang neben dem Schreibtisch hängen, mit Stecknadeln befestigt, unzählige Kärtchen mit Namen und Todesdaten; ein schwules Paar hat eine Doppelkarte bekommen. Vergessen wird niemand. Der Tod mag hier kräftig zulangen, doch zur Routine wird er nicht.

„Juvi!“ – Paul fällt der kleinen Nonne zur Begrüßung um den Hals. Der 58-Jährige ist seit 18 Jahren HIV positiv, und die Krankheit ist schon weit fortgeschritten. Das Fettgewebe in seinem Gesicht hat sich durch die HIV-Medikamente zurückgezogen, und es fällt ihm nicht leicht, artikuliert zu sprechen. Paul war vor zehn Jahren der erste Patient von Tauwerk. Jetzt kommt regelmäßig eine Ehrenamtlerin und kocht für ihn. Heute ist Schwester Juvenalis mit nach Wilmersdorf gefahren, um mit Paul und seinem Mann Mark, ebenfalls seit 18 Jahren infiziert, Kaffee zu trinken.

Als die beiden Nonnen das Paar kennen lernten, wollte Paul gerade aus der Kirche austreten. „Irgendwann“, erinnert sich Schwester Juvenalis, „hat er dann gesagt: Wenn es Leute wie euch in der Kirche gibt, brauche ich nicht mehr auszutreten.“ Schwester Juvenalis greift sich ans Herz und lächelt. Sie ist noch immer gerührt.
Am Anfang wurden die Schwestern von den Schwulen nicht immer mit offenen Armen empfangen. „Erst krieg ich Aids, und jetzt hab ich auch noch ’ne Nonne am Hals!“ – so was bekamen die beiden damals zu hören. Es war verletzend, Opfer von Vorurteilen zu sein, aber die beiden verstanden, dass diese schroffe Ablehnung ebenfalls aus Verletzung entstanden war: Katholiken hatten das böse Wort von Aids als der „gerechten Strafe Gottes“ ausgesprochen. Diese Wunde wollte sie heilen. Schwester Juvenalis und Schwester Hannelore ließen keinen Gauweiler von der CSU und keinen Papst für sich sprechen. Sie waren selbst nach Berlin gekommen. Gemeinsam mit jungen Schwulen gingen die gelernten Krankenschwestern zu speziellen Schulungen der Aids-Hilfe. Bei ihren Patienten fragten sie nie, wie einer sich infiziert hatte. Was spielte das für eine Rolle?

Aber Moment! Was ist denn nun mit Sex? „Wir finden nicht alles gut, was es da so gibt“, sagt Schwester Juvenalis. Sie meint die eher „lieblosen“ Formen von Sexualität, die ja gerade in der schwulen Welt vorkommen. Aber sie fügt von sich aus hinzu: „Das sehe ich dann aber bei Heterosexuellen genauso.“
Und sie betont, dass es sich um eine persönliche Meinung handelt. Die Lebensentwürfe ihrer Schützlinge haben die beiden immer respektiert. Das gilt bis zum letzten Atemzug. „Die Kranken führen bei uns eine Regie“, bekräftigt Schwester Hannelore.
Dazu gehört auch, dass die Nonnen meist nicht in ihrer Tracht ausrücken, sondern in entspannter Freizeitkleidung: „Ich muss dann nicht immer erst erklären, dass ich nicht mit dem erhobenen Zeigefinger komme.“ Bei Beerdigungen stellen die beiden eine Kerze auf, die von einem „Halleluja“-Schriftzug und der Regenbogenfahne geziert wird.
„Ich habe viel von ‚unseren Männern‘ gelernt“, sagt Schwester Juvenalis. In vielen schwulen Beziehungen erleben wir, wie liebevoll und feinfühlig die Partner miteinander umgehen.“
Sie klingt fast ein bisschen zu bescheiden, als sie das sagt. Aber so sind die Nonnen nun mal.

Holger Wicht

Mit freundlicher Genehmigung der Siegessäule

Tauwerk ist auf ehrenamtliche Helfer und Spenden angewiesen.
Spendenkonto: 1279331008
Berliner Volksbank
BLZ 100 900 00
Weitere Informationen:
www.hospiztauwerk.de

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