Besonnte Erinnerungen im Herzen der Stadt

In einem frühe­ren Leben war ich Amts­rich­ter. Ich war 1961 nach Berlin gekom­men. Ein ande­res Berlin als ein zuge­mau­er­tes kannte ich nicht. Am liebs­ten erin­nere ich mich an die Zeit als Zivil­rich­ter im Wedding. Das war, als andern­orts jede Bundes­tags­sit­zung in Berlin als unzu­läs­sig ange­se­hen wurde und zur Strafe die Sowjet­jä­ger so dicht über die Dächer donner­ten, dass die Schei­ben spran­gen.

Ich durch­wan­derte Tage und Nächte lang den Gerichts­be­zirk. Dass viele Stra­ßen an einer Mauer ende­ten, die geliebte Acker­straße z.B. (weil dort eine Frau wohnte, die ich damals liebte), nahm ich für eine Tatsa­che außer­halb meiner Zustän­dig­keit. Wie das Berlin hinter der Mauer aussah, wusste ich nur aus Büchern.
Am Morgen nach dem Tag, an dem die Mauer aufge­hört hatte, undurch­läs­sig zu sein, ging ich die Acker­straße von der ande­ren Seite her. Der Fried­hof der Sophien-Kirch­ge­meinde an der Pappel­straße [am Pappel­platz, B.S.] gehört seit­dem zu meinen liebs­ten Berli­ner Plät­zen. Vorges­tern, am ersten Sommer­tag dieses Jahres, war ich wieder da. Der Fried­hof sieht jetzt viel west­li­cher aus, verwal­te­ter. An vielen Grab­stei­nen heißt es drohend: “Nutzungs­zeit abge­lau­fen!”. “Hier wird klar Schiff gemacht!”, sagte die Gärt­ne­rin, der mein zwei­feln­der Blick aufge­fal­len war.
Gegen­über im Altdeut­schen Ball­haus habe ich vier Tage nach Mauer­öff­nung mit einer schö­nen jungen Frau Polkas und Rhein­län­der getanzt. Jetzt ist sie leider berühmt gewor­den, wohnt am atlan­ti­schen Meer, wir müss­ten Termin­ka­len­der bemü­hen, wenn wir gegen­über der Markt­halle Nr. VI Polkas tanzen woll­ten (und ich dürfte nicht gerade einen einen Gicht­an­fall haben).
Die Inva­li­den­straße ist nun für mich eine Straße der Sehn­sucht. Ich beob­achte ihre Verän­de­run­gen, während ich die Brun­nen­straße über­quere und am alten Wein­berg entlang die Vete­ra­nen­straße aufwärts schlei­che. Dieser Stra­ßen­zug führt in das Herz Berlins. Ich glaube, das Herz Berlins liegt in der Gegend der Zions­kir­che. Der Platz um die Zions­kir­che ist bestimmt nicht Berlins schöns­ter Platz (das ist der Gendar­men­markt; nach Georg Fors­ter: der schönste Platz der Welt), aber einer seiner eigent­lichs­ten.

Eigent­lich ist es gar kein Platz, nur Straße um die Kirche herum. An der Ecke zur Swine­mün­der Straße ist zwar ein langes Substan­tiv ange­sprayt, in dem der Kanz­ler vorkommt. Aber hier­her kommt der Kanz­ler nicht (viel­leicht mal zu einer Zions­kirch-Erin­ne­rungs­ver­an­stal­tung, aber diesen Besuch brau­chen wir nicht zu regis­trie­ren): Hier ist Berlin regie­rungs­frei. Die Zions­kir­che hat ihre welt­ge­schicht­li­che Rolle hinter sich. Es heißt, sie sei der Dank der Berli­ner an Gott, weil er den Preu­ßen­kö­nig Wilhelm 1861 vor einem Atten­tat rettete; was Gott sich dabei gedacht hat, fragen wir lieber nicht, nach­dem der König doch seiner­seits schon so viele Leute totge­schos­sen hat und noch so viele totsche­ßien würde, um Kaiser und gütig zu werden. Als die DDR zu Ende ging, wurden hier einige Leute mutig. Davon weiß ich aber auch nichts mehr, als ich in dem Bistro capella Platz nehme und zum fran­zö­si­schen Früh­stück ein frei­lau­fen­des Extra-Ei bestelle. Ich hatte vor, nach­her noch zur Schön­hau­ser Allee hinun­ter zu laufen, viel­leicht den alten jüdi­schen Fried­hof zu besu­chen, um Joseph Mendels­sohn Refe­renz zu erwei­sen, der anders als andere Kinder des großen Moses wusste, dass es unter Chris­ten keinen Zweck hat, ins Chris­ten­tum zu flüch­ten. Dann habe ich mir’s doch anders über­legt, bin den Weg zurück gegan­gen, um mir von Friseur Michael Rosinke, Inva­li­den- Ecke Chaus­see­straße, die Haare schnei­den zu lassen im Rahmen seiner “Vernünf­tig­preis-Aktion”.

Indem ich in der Station Zinno­wit­zer Straße wieder in die Unter­welt der U‑Bahn abge­taucht bin, dachte ich an Lilli Marleen, die nicht weit von hier (am Stadion der Welt­ju­gend, als es das noch nicht gab) wartete: Ihr Kompo­nist heißt Schultze, wie die Leute, die auf dem Sophien­fried­hof ein Erbbe­gräb­nis haben, gleich den Fürs­ten. Dieser Schultze ist schon über­all hinge­fah­ren: Früher gegen Enge­land, später zum Klabau­ter­mann, jetzt wohnt er an einer spani­schen Küste und hat wenig begrif­fen. Als ich jünger war, wunderte ich mich darüber, dass viele Alte so wenig begrei­fen. Nach­dem ich selbst alt bin, bin ich gnädi­ger mit den ande­ren Inva­li­den der Seele, die auch ihre Erin­ne­run­gen beson­nen.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Pappel­platz

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