Chinesische Ansichten

Es kommt öfter vor, dass ich im Taxi nach bestimm­ten Ereig­nis­sen die Meinun­gen meiner Fahr­gäste dazu höre. Beson­ders an den Wahl­aben­den werden deren Ergeb­nisse oft unter­schied­lich bewer­tet. Und nicht selten unter­schei­den sie sich von meiner eige­nen Meinung, das ist ja normal.

Dies­mal aber ging es nicht um ein spezi­el­les Ereig­nis, es hatte sich einfach so in den Gesprä­chen erge­ben. Meine sehr junge Fahr­gäs­tin stieg mir in Zehlen­dorf ins Auto und auf der langen Fahrt nach Hohen­schön­hau­sen erzählte sie mir von ihrer Heimat Hong­kong. Als der einst souve­räne Staat 1997 wieder an China fiel, befürch­te­ten viele Bewoh­ner Hong­kongs, das das bis dahin kapi­ta­lis­ti­sche Land als neue Sonder­ver­wal­tungs­zone Chinas poli­tisch gleich­ge­schal­tet wird. Tatsäch­lich versucht die Zentral­re­gie­rung in Peking die Verhält­nisse dort immer weiter anzu­glei­chen, die Geheim­po­li­zei bespit­zelt die Bevöl­ke­rung, behin­dert Parteien und unab­hän­gige Initia­ti­ven. Meine Kundin erzählte, dass ihre Mutter als Dozen­tin an der Univer­si­tät seit zwan­zig Jahren drang­sa­liert wird, immer wieder wird sie zu Gesprä­chen mit Behör­den­mit­ar­bei­tern vorge­la­den und dort zu ihren poli­ti­schen Ansich­ten verhört. Der Bruder meiner Fahr­gäs­tin, der schwul ist, sieht in Hong­kong keine Zukunft. Zwar ist Homo­se­xua­li­tät dort nicht verbo­ten, aber der gesell­schaft­li­che Druck ist enorm. Das hat er bei der Jobsu­che erfah­ren, bei der er von den poten­zi­el­len Chefs auf seine Sexua­li­tät ange­spro­chen wurde – obwohl er sich ihnen gegen­über gar nicht geoutet hat. Woher sie es wuss­ten, sagten sie nicht. Und einen Job erhielt er trotz Quali­fi­ka­tion auch nicht.

Meine Kundin würde gerne Jour­na­lis­tik studie­ren und arbei­tet für ein Jahr in Deutsch­land. Aber sie hat Angst, dass sie ihren Beruf in Hong­kong später gar nicht ausüben kann, weil sie keine Lust auf Hofbe­richt­erstat­tung hat. Und eine kriti­sche Presse gibt es auch in Hong­kong immer weni­ger. „Es ist eigent­lich hoff­nungs­los“, been­dete sie ihre Erzäh­lung.

Ganz anders der etwa gleich­alt­rige Mann, den ich einige Stun­den später mitten in der Nacht vom Wedding nach Char­lot­ten­burg brachte. Er studiert an der TU irgend­was mit Inge­nieur und klagte, dass er seit 18 Stun­den unun­ter­bro­chen lernt und in sechs Stun­den eine Klau­sur schrei­ben müsste. 12 bis 16 Stun­den lernen wären normal, sagte er mir, aber er mache das ja für eine gute Sache. Nach dem Studium will er zurück nach China, das ihm eine große Karriere biete.

Deutsch­land habe ja eigent­lich einen guten Ruf, was tech­ni­sche Entwick­lun­gen angeht, aber warum die Deut­schen den neuen Flug­ha­fen nicht fertig krie­gen, kann er sich nicht erklä­ren. In China hätten sie das inner­halb von zwei Jahren orga­ni­siert.
Ich erzählte ihm von der jungen Studen­tin und er wurde sehr böse. Es gäbe eben viele Menschen, die die Leis­tun­gen des Staa­tes nicht aner­ken­nen oder deka­dent als selbst­ver­ständ­lich betrach­ten würden. Noch vor einer Gene­ra­tion war China ein Agrar­land, jetzt hat es eine der größ­ten Indus­trien der Welt und bietet seinen Bürgern alle Möglich­kei­ten. Wenn ein Flug­ha­fen oder eine Groß­sied­lung gebaut würde, müss­ten zwar manch­mal Dörfer verschwin­den, aber die Bewoh­ner würden groß­zü­gig entschä­digt, trotz­dem gäbe es immer wieder welche, die sich weigern würden. Er bezeich­nete sie als Ewig­gest­rige, einen Begriff, den er in Deutsch­land gelernt hat.
Ich erklärte ihm, dass damit nach dem Faschis­mus dieje­ni­gen bezeich­net wurden und bis heute werden, die sich nach dem alten Nazi-Reich zurück­seh­nen. Für ihn war das kein Unter­schied, er bezeich­nete die Chine­sen als reak­tio­när, die sich nicht dem Gemein­wohl unter­ord­nen wollen, wenn es ihnen Nach­teile bringe.

Als Beweis führte er an, dass seine Eltern, beides ehema­lige Bauern und jetzt Hand­wer­ker, das Geld für seinen Aufent­halt in Deutsch­land nicht hätten aufbrin­gen können. Sie haben in ihrer Klein­stadt herum­ge­fragt und viele Menschen hätten Geld gege­ben, damit er in Berlin studie­ren kann. Und das, obwohl sie selber keinen Nutzen davon haben. Das war eine schöne Geschichte, und manche Dinge sehe ich ähnlich, die er erzählte. Zum Beispiel die Tatsa­che, dass die Demo­kra­tie im „Westen“ oft versagt und vieles hier nicht funk­tio­niere, auch dass das Leben hier sehr ober­fläch­lich ist. Eine Einheits­par­tei, die er als beson­ders wich­tig bezeich­nete, würde ich jedoch nicht wollen.

Es war ein inter­es­san­tes Gespräch und schade, dass es am Fahr­tende abge­bro­chen wurde. Es sind diese Art von Erleb­nis­sen und Gesprä­chen, die für mich das Taxi­fah­rer inter­es­sant machen.

print

Zufallstreffer

Medien

rbb wird RTL

Offi­zi­ell ist die Fusion des öffen­t­­lich-rech­t­­li­chen Senders Rund­funk Berlin-Bran­­den­­burg noch nicht, aber die Anzei­chen sind offen­sicht­lich: Immer mehr wird das Niveau der rbb-Sendun­­gen abge­senkt, so dass es bald dem von RTL oder ähnli­chen Fern­seh­sen­dern entspricht. […]

Weblog

Weniger Miete

Seit Jahren stei­gen die Mieten in Berlin, längst können sich viele ihren Stadt­teil nicht mehr leis­ten, werden vertrie­ben in die Ghet­tos an den Rändern der Stadt. Dage­gen regt sich viel­fäl­ti­ger Wider­stand, auf der Straße, auch […]

Weblog

Resolution der Kommunarden

In Erwä­gung unsrer Schwä­che mach­tetIhr Gesetze, die uns knech­ten soll’n.Die Gesetze seien künf­tig nicht beach­tetIn Erwä­gung, dass wir nicht mehr Knecht sein woll’n. In Erwä­gung, dass ihr uns dann eben­Mit Geweh­ren und Kano­nen drohtHa­ben wir […]

1 Kommentar

  1. Nun haben wir hier einen der durch die Umstände in seinem Land etwas gewon­nen hat und das Land darum vertei­digt und jeman­den der durch andere Umstände des Landes etwas genom­men wird. Und in beiden Fällen ist es das selbe.

    Dem jungen Mann wurde eine Perspek­tive gege­ben, das zu tun was er gerne möchte. Der jungen Dame wurde genau diese Perspek­tive genom­men. Dass der Mann das System dann vertei­digt und die Frau es verteu­felt ist ziem­lich logisch.

    Was wohl passie­ren würde, wenn sein Dorf für ein Groß­pro­jekt platt gemacht werden soll und die, die ihn unter­stützt haben dort weg müssen aber viel­leicht zu alt sind oder einfach nicht mehr wollen?

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*