Eine Straße, die es nicht gibt

Die Neue Friedrich­­straße soll ein Beispiel sein. Diese Straße gibt es nicht mehr. Kein Name der Stadt­ge­gen­wart erin­nert an sie. Es gibt Remi­nis­zen­zen.
Man kann die Straße in der Vorstel­lung rekon­stru­ie­ren. Man kann sie hervor holen aus ihrer Verges­sen­heit und in eine Wirk­lich­keit verset­zen, die zwar imagi­när ist, aber vergli­chen werden kann mit der Wirk­lich­keit, die gerne denkt, dass sie die einzige sei. Die Stadt besteht aus mehre­ren Schich­ten. Gepress­tes Gestein. Ein Baum, dessen Ringe man zählen kann. Die Stadt — das sind Städte. Die Geogra­phie ist Illu­sion.

Es sagt nichts zu sagen: Die Neue Fried­rich­straße, diese einst­mals berühmte Berli­ner Straße, die Adresse so vieler, die in den Lexika begra­ben liegen, begann an der Fried­richs­brü­cke. Heißt nach irgend einem Fried­rich wie die Wilhelm­straße nach irgend einem Wilhelm. Die Gegen­wart hält die Dynas­ten nicht ausein­an­der und denkt nicht an die Fürs­ten. Wer weiß denn, sagen wir in der 8. Grund­schule von Berlin-Mitte, was ein Kurfürst war und dächte nicht an Omas warme Bäder?
Wo die Neue Fried­rich­straße begann, heute: das Rot eines Lieb­herr-Baggers, das Blau der Dixi-Toilet­ten (die sich “Sani­tär­sys­teme” nennen), dasWeiß-Rot der Absperr­bän­der, rechts das Gold­glit­zern des Palas­tes der Repu­blik, in der linken Mitte das Gold­glit­zern vom Radis­son Plaza, früher Palast-Hotel, noch früher — fast stimmt es — der “König von Portu­gal”.
Der Gast­hof kommt bei Lessing vor, in “Minna von Barn­helm” hat er ihn zum “König von Spanien” verfrem­det, es geschieht aber nur Preu­ßi­sches darin. Berühmt­hei­ten stie­gen hier ab, Besu­cher der Könige, Könige der Feder, Grill­par­zer zum Beispiel, aber wer will wissen, wo Grill­par­zer in Berlin geschla­fen hat, da er doch vom ganzen Grill­par­zer nicht einmal einen halben Vers kennt? Grill­par­zer war nicht zufrie­den mit Berlin; kein Vergleich mit Wien, das wirk­li­che Metro­pole der alten Welt war. Berlin wurde erst noch Welt­stadt und ist es bis jetzt nicht lange gewe­sen. Nun versucht es, eine zweite Welt­stadt-Karriere zu star­ten. Wir sind die Zeugen.

Gegen­über der Baustelle, der ich hier auf den Grund sehe, wohnt die Theo­lo­gi­sche Fakul­tät der Humboldt-Univer­si­tät. Hat es hier Versu­che gege­ben, die Pasto­ren inner­lich umzu­stül­pen, ehe man sie Worte verkün­den ließ, die zwar von Gott kamen, aber den Umweg über die Norman­nen­straße genom­men hatten? Traten hier Leute in das Licht der Sonne, die Orden erhal­ten hatten in verschwie­ge­nen Gäste­häu­sern? In die Neue Fried­rich­straße können diese Räte nicht gekom­men sein, wenn sie auch später Sinn entwi­ckel­ten fürs Imagi­näre. Die Straße heißt hier jetzt Burg­straße [heute Anna-Louise-Karsch-Straße, B.S.]. “Eine feste Burg”: der theo­lo­gi­sche Beginn der Neuen Fried­rich­straße. Garni­son­kir­che; das Predi­ger­haus ist noch da; des Hofpre­di­gers und “Volks-Schrift­stel­lers” Emil From­mel wird auf einer Tafel gedacht: der Hof ist fort, auch das Volk, das die Bücher dieses “Volks-Schrift­stel­lers” gele­sen hat; bei Fontane ist er eine Anek­dote. Im “Stech­lin” traut er den jungen Stech­lin in der Garni­son­kir­che mit Armgard von Barby und erzählt dem alten Stech­lin eine Anek­dote über Wilhelm 1. und nennt den Monar­chen, der in seiner prinz­li­chen Jugend die Demo­kra­ten hatte nieder schie­ßen lassen, tatsäch­lich “den letz­ten Menschen, der noch ein wirk­li­cher Mensch war”: Thron und Altar, Theo­lo­gen aus der Neuen Fried­rich­straße haben für verschie­dene deut­sche Staa­ten gut gesagt, über die es nicht viel Gutes zu sagen gab.
Der berühmte Roman, in dem Fontane das Preu­ßen beschreibt, das von der Neuen Fried­rich­straße ausging (und von der Klos­ter­straße, die später kommt), führt den Sturm im Titel. Jetzt sieht jeder, daß es ein Orkan war, ein Wirbel­wind, der manche Nach­fol­ger hatte. Im Hof des Predi­ger­hau­ses hat der bisher letzte welt­ge­schicht­li­che Hurri­kan Verfall hinter­las­sen.
Unterm Lauben­dach steht ein Trabbi wie ein Denk­mal, ein Envi­ro­ne­ment, ein Happe­ning der jüngs­ten Vergan­gen­heit. An der Wand: Spray­ers Hoff­nung: “Kein 3. Welt­krieg!” und: “Ihr Auto trinkt Blut”; da hat er recht: Die Vampire der ersten Welt trin­ken das Blut der drit­ten, ob Trabbi oder Merce­des S.
Nebenan hat ein klei­ner Wander­zir­kus sein Zelt­chen aufge­schla­gen. Dort könnte ich mich ein Stünd­chen verste­cken vor der Welt­ge­schichte und der Welt­ge­gen­wart und viel­leicht Kindern zuse­hen, die sich freuen, weil sie die Vergan­gen­heit nicht kennen und an die Zukunft noch nicht zu denken brau­chen.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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Reise in die Vergangenheit

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