Grenzgänge I
Ich stehe fast auf dem Punkt, an dem die Bezirke Kreuzberg, Tiergarten und Mitte an der Kreuzung von Köthener und Stresemannstraße zusammentreffen. Es ist ein schöner, blauer Januar-Sonntag. Er zieht die Menschen an die Baugruben. Ich höre einem Paar mit Freund zu, die diskutierend von der Info-Box kommen: “Ich versteh das nich. Nee, ich auch nich.” “Irgendwelche Häuser, schließlich werden es irgendwelche Häuser.”
Die Berliner wissen noch nicht, ob sie ihre Stadt wiedererkennen werden. Sie sind skeptisch. Immer waren sie nicht skeptisch. Die Bezirksgrenze, die einst eine Weltengrenze war, läuft weiter unten über die Stresemannstraße; jetzt ist die Grenze etwas Imaginäres wie alle Grenzen, wenn sie nicht zu Mauern ausarten.
An dem Straßenmast, der die Stresemannstraße, die Niederkirchnerstraße, Überholverbot, Halteverbot, Vorfahrts-Regelung, Abstände von Gullis und Leitungen und das Abgeordnetenhaus anzeigt, weist die “2. Ersatztafel des aktiven Museums Faschismus und Widerstand” auf Käthe Niederkirchner hin; deutsche Landsleute haben sie ermordet, die Mehrheitsfraktion des Abgeordnetenhauses wollte sie von dem Straßenschild und wohl überhaupt aus der deutschen Geschichte streichen. Eine Schneiderin aus der Pappelallee, ihr Namensvorgänger war ein Prinz von Unter den Linden. Ich bin auf Seiten der Schneiderin. Hinter mir ein rostiger Kubus, nicht auszumachen, ob Kunst- oder Alltagswerk: “Ihr Mediensäue” ist aufgesprayt. Gegenüber wächst ein Bewag-Gebäude aus der Baustelle: “Energiezentrale zur Versorgung des Areals Potsdamer/Leipziger Platz mit Wärme, Kälte und Strom”. Zu sehen sind zwei groß werdende Häuser, die ein bisschen abweisend wirken, aber gar nicht wie eine Zentrale von Energie. Auch der nebenliegende “Preußische Landtag” sieht nicht aus wie eine Zentrale von Energie.
Zwischen Parlament und Parlaments-Parkplatz eine hohe Wand, die nach Interpretationen ruft, ein steinernes Stück “Bannkreis”. Die Fassade des Gebäudes passt nicht zu einem demokratischen Länderparlament. Es ist eine preußische Fassade für das Staatshaus einer Möchte-Gern-Großmacht. Zwei Polizisten gehen in zivilem Schlenderschritt über die rutschigen Steinplatten, die vor dem “hohen Haus” einen kleinen Straßen-Platz bilden. Ein “Club-Bus” fährt vor. Wer die Ausstrahlung jener Schülergruppen vergessen hat, die in Westberliner Zeiten so charakteristisch waren für die unjugendliche Wiedervereinigungs-Pädagogik, mit der unsere Kollegen ein schnelles Zubrot verdienten, der kann sich hier erinnern. Die Fahnen vor dem Parlament hängen träge am Mast, die Fahnen auf den Bewag-Neubauten flattern im nasskalten Winde.
Hinter Abgeordnetenhaus und Gropius-Bau ist die Niederkirchnerstraße selbst ein Denkmal. Sie verläuft hier als ein Fußgängerweg zwischen Mauern. Die Mauer links gehört zu dem ersten Nazi-Hochbau in Deutschland. Die Mauer rechts ist ein Rückstand der historischen Mauer; sie ist durch Drahtzäune vor den Menschen geschützt. Am Drahtgitter eine merkwürdige Schrift: “Menschenrechtler in aller Welt kämpfen für … Erhaltung und für den teilweisen Austausch durch vollständig bemalte, originale Segmente sowie fabrikneue, nicht bemalte…” Die Fabriken gibt’s also noch, bei denen wir jederzeit eine neue Mauer bestellen können. Da soll es ein Menschenrechtswerk sein, die verfallenden Betonplatten zu erhalten und immer wieder zu restaurieren? Dahinter der “Gedenk- und Lernort” Topographie des Terrors, ebenfalls verfallende Ruinen, Ruinen-Restauration als Erinnerung?
Wo das Erinnern keine Gegenwart hat, muss Geschichte inszeniert werden. Aber was sich als Geschichte inszenieren lässt, ist nicht die wirkliche Geschichte. Hinter der Nazi-Mauer entsteht schon die Baustelle des Bundes-Finanzministeriums. Sie werden die Mauer brauchen können. Die überraschende Maueröffnung in der Straßenmitte wird bald wieder geschlossen sein. Nach der Wilhelmstraße heißt die lang gestreckte Grenzstraße, durch die mich mein heutiger Spaziergang führt, Zimmerstraße. Sie heißt schon seit mehr als 2 1/2 Jahrhunderten so; sie hat niemals anders als nach den Zimmerleuten geheißen, die ihre Hölzer hier stapelten, als die Friedrichsstadt entstand; da hat es “im Prinzip” — wie man hierzulande gerne sagt — vielleicht ähnlich ausgesehen wie heute.
Die Zimmerstraße ist eine Straßen der Lücken und Baustellen. Wo die Mauer stand, erkennt man kaum noch. Es wird nicht lange dauern, dass man nur noch an der Häufung von Postmoderne sieht, was die Moderne sich hier geleistet hatte. An der Zimmerstraße hat das Berliner Zeitungswesen seine kurze internationale Geschichte erlebt. Gleich hinter der Wilhelmstraße links ein umzäuntes Brachfeld; man müsste die Gräser studieren, um sie hinter dem Stacheldraht wenigstens benennen zu können.
“Gestern habe ich nun in der That und wirklich einen großen Kauf gethan, nämlich eine Zeitung nebst Buch-Druckerei”, so Leopold Ullstein am 15. Juli 1877 an seine Tochter Käthe. Das war hier, Zimmerstraße 94.
Das größte Zeitungs-Unternehmen der Welt nahm hier einen schnellen Anfang, es dauerte zwei Generationen: Ullstein. In dem Häuserblock Zimmerstraße / Jerusalemer Straße / Schützenstraße: das zweite Berliner Welt-Zeitungs-Unternehmen: Rudolf Mosse, wenige Häuser weiter Zimmerstraße 40: der dritte Berliner Groß-Zeitungs-Konzern: Scherl, aus dem später Hugenberg und der deutschnationale Untergang der deutschen Zeitungs-Internationalität erwuchs. Weiter unten führt die Zimmerstraße an der Druckhalle des Springer-Verlages vorbei, der sich von der Kochstraße hierher erstreckt, wo er früher militant an die Mauer reichte; jetzt wirkt die dunkelbraune fensterlose Springerwand selbst wie eine Mauer. Wo die Zimmerstraße auf die Lindenstraße stößt, heißt die alte Straße jetzt nach dem Verleger der Bild-Zeitung. Dort — auf Kreuzberger Gebiet — die alte Feuerwache, in der die Pfadfinder ein angenehmes Cafe betreiben. Selbst von der Geschichte der Anti-Springer-Demonstrationen der 60er Jahre weiß hier niernand mehr etwas.
Es ist keine Zeit für Erinnerung. Die Geschichte ist das, was wir vergessen wollen. Santayana hat gesagt: Wer die Geschichte nicht zur Kenntnis nehmen will, ist verurteilt, sie zu wiederholen.
In Deutschland ist die Geschichte noch nie so erzählt worden, dass man etwas daraus lernen konnte.
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
Foto: Pierre-Selim Huard, CC BY 4.0
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