Wenn es ans Leben geht

Konzert- und Ballhaus Clou, 1911

„Fabrik­aktion“ wird’s genannt. Berlin muss „judenrein“ werden!
Alle Städte, alle Dörfer. Hat’s euch der Führer nicht prophezeit? Er hat. Schlagartig wird zugepackt in sämtlichen Fabriken. „Das ist das Ende“, rufe ich Harry zu. Und wollte, sollte, müsste doch jetzt laut schreien: „Schreit, wenn sie euch holen kommen, ihr habt noch eine Stimme!“ Ich hab keine Stimme, keine, die all das Scharren und Kommandieren übertönen könnte, niemand, der’s hören würde, hören möchte, außer Harry, der neben mir läuft und keucht: „Ende? Das ist der Anfang, das geht erst los!“
Fahrt durchs morgendliche Berlin, durch noch fast leere Straßen. Wer sieht vom Bürgersteig aus die Hunderte Händepaare, die sich um die Oberdeckstangen der Lastwagen krampfen? Wer weiß, was da abgefahren wird? Braucht keiner zu sehen, keiner zu wissen. Die lange Wagenkolonne jagt dahin. Dächer fliegen vorüber, Bäume, Laternen.

Einfahrt in die Mauerstraße. Einfahrt durch ein Portal. Eingang zum „Ballhaus Clou“. Hineingeknüppelte Menschenmasse zu Menschenmassen, die im Tanzsaal bereits lagern, hocken, sich hin und her schieben unter Papiergirlanden, Ulkplakaten, zerfetzten Lampions, auf dreckigem, mit Strohballen, Koffern, Kleiderhaufen besätem Parkett; Frauen, Kinder, Männer, Greise, etliche noch in Pyjamas, etliche in Morgenröcken, die meisten in Arbeitskleidung, einige schrubben den Tanzboden blitzblank, blank wie die Langschäfter der SS-Männer, die dort wichtigmacherisch Aufsicht führen, bisweilen die Hacken zusammenknallen und den rechten Arm hochreißen vor einem Zivilisten, einem großen Tier, wie man hört, vor Adolf Eichmanns Abgesandtem, vor Herrn Brunner, dem legendären Aufräumer, Deportationsspezialisten aus Wien, der nun mal zeigen wird, wie er dorten die Baggasch, die dreckate z’sammgetrieben, wegg’schafft, Remasuri g’macht hat, aba fesch.

Die Nächte im Ballhaus: im Dunst der schwitzenden, kranken, wimmernden, untertänig jammernden, jäh in Irrsinn verfallenden Menschen, im Suchen nach der einen, der einzigen, im hektischen Fragen nach ihr: „Habt ihr sie gesehen, kennt ihr eine Lilo, eine Esther Lilo Sara Edel, wisst ihr vielleicht, wohin man die Mädchen aus Siemensstadt gebracht – ob jemand hier – man hat mir gesagt, dass sie…“
Die Nachrichten von draußen: Parolen, Latrinenparolen, Angstlügen. Die kaum glaubliche Kunde dann, dass arische Frauen jüdischer Männer, Söhne, Töchter sich vor einer der Sammelstellen in der Rosenstraße vereinigt hätten zu einem Protestmarsch, dass sie Stunde um Stunde dort auf und ab gingen, nach ihren Männern, Töchtern, Söhnen riefen, nicht zu vertreiben seien von der Gestapo noch von der Polizei; tapfere Frauen, zum Äußersten entschlossene Mütter. Auch meine Mutter? Es könnte sein. Es ist so. Aber ich weiß es noch nicht.

Da ist in diesen Nächten, diesen Tagen nur Harrys bleiches, verbissenes Gesicht, das sagt: „Mach jetzt nicht schlapp! “ Da schlafen wir für kurze Frist erschöpft nebeneinander ein. Da wachen wir auf und werden geschüttelt, mit Stiefelabsätzen getreten, auf den Tanzboden gejagt zusammen mit einigen anderen Abgeholten.
Werden voneinander getrennt. Werden – wir fassen es nicht – „als Abkömmlinge eines arischen Elternteils vorläufig entlassen“. Zur Arbeit, zu sofortiger Meldung für den Zwangsdienst. „Bis auf weiteres, bis wir uns wiedersehen, meine Damen und Herren, das wird bald sein, verstanden?“

Peter Edel (Aus: Wenn es ans Leben geht, 1979)

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