Im Leben hat man oft Brüche, weil es sich nicht an die eigenen Wünsche hält. Manchmal gibt es Katastrophen, die man nicht beeinflussen kann, höchstens darauf reagieren. Was aber, wenn das nicht nur einmal passiert, sondern immer wieder? Man muss sehr stark sein und viel Glück haben, um das zu überstehen.
Als Horst Selbiger 1928 geboren wurde, war noch nicht klar, dass sein Leben sehr schwer werden würde. Doch schon in den ersten Schuljahren lernte er, dass er „anders“ war. Die kleinen Pimpfe in ihren schmalen Uniformen übten den Hitlergruß, während er als „Halbjude“ ausgeschlossen war aus der „Volksgemeinschaft“. Früh begriff er, dass es keinen Sinn hat, hinterherzurennen. Er musste sich durchsetzen. Mit acht Jahren ging er zum jüdischen Sportverein Makkabi und lernte boxen, um sich auch gegen die handgreiflichen Mitschüler verteidigen zu können. „Da gab es dann auch mal was zurück auf die Nase.“
Sein Vater war Jude, seine Mutter nicht, aber sie erzogen ihn säkular jüdisch. Doch seinen Glauben sollte er bald darauf verlieren.
Immer mehr wurde seine Familie entrechtet, der Vater musste seine Zahnarztpraxis am Kottbusser Damm schließen, ehemalige Freunde wendeten sich ab. Der kleine Horst wechselte auf die Jüdische Schule in der Großen Hamburger Straße, doch bald verschwanden dort immer wieder Mitschüler. „Im Oktober 1938 fehlten plötzlich eine ganze Menge Kinder. Es waren vor allem diejenigen, deren Eltern ursprünglich mal aus Polen kamen.“
Auch Horst war klar, was ihm bevorstand: „Wir wussten das, die Kinder waren damals klüger als die Erwachsenen.“
Am 27. Februar 1943 fand die sogenannte Fabrikaktion statt. Die angeblich letzten 8.000 Berliner Jüdinnen und Juden wurden verhaftet, meistens in Fabriken, in denen sie zur Zwangsarbeit verpflichtet waren. Darunter war auch Horst Selbiger, er wurde aus einem Rüstungsbetrieb herausgeholt: „Wir wurden mit 1.500 bis 2.000 Juden in die ehemalige Synagoge Levetzowstraße eingeliefert. Als wir dort von der SS sehr unsanft von den LKWs ausgeladen wurden, standen Frauen auf der Straße und klatschten Beifall. Es war ein absoluter Zustand der Hilfs- und der Hoffnungslosigkeit. Die Menschen schrien sich an, schimpften, flehten, beteten. Kinder weinten voller Jammer. Jeder von uns ahnte oder wusste es bereits: Wir werden in den Tod geschickt.“
Dort traf Horst seine Freundin Esther wieder, für einen Tag. Es sollte die einzige bleiben in seinem ganzen Leben. Auch sie wurde deportiert, am 1. März 1943 und starb vermutlich schon zwei Tage später in Auschwitz. „Ich stand am Abgrund der Menschheitsgeschichte und das Trauma machte mich stumm. Eine Stummheit, die noch Jahrzehnte in die Zeit nach der Befreiung hineinreichen sollte.“
Horst Selbiger wurde als Kind einer „gemischtrassigen“ Ehe von der Levetzowstraße in das Sammellager Rosenstraße 2-4 in Mitte gebracht. Hier fasste die Gestapo rund 2.000 jüdische Männer und Frauen von nichtjüdischen Ehepartner/innen zusammen, außerdem deren Kinder. Doch die Nazis hatten nicht mit der Entschlossenheit der Eheleute gerechnet, fast alles Frauen: Schon am Abend der Fabrikaktion standen sie vor dem Gebäude und protestierten. In den Tagen danach wuchsen die Proteste lautstark an, die ganze Zeit lang riefen Hunderte von ihnen: „Lasst unsere Männer frei!“
Es war die größte spontane Demonstration gegen die Nazis während des Faschismus‘. Natürlich fuhr die SS und Polizei ihre Mannschaften auf, sogar mit aufgepflanzten Maschinengewehren wurden die Frauen bedroht. Viele wurden geschlagen und festgenommen, doch der Protest wuchs dadurch noch an.
Die festgehaltenen Juden in der Rosenstraße wurden unterdessen mit 50 Personen in Räume mit 20 Quadratmetern gepfercht. Für 2.000 Menschen gab es nur acht Toiletten, mit den entsprechenden katastrophalen Konsequenzen. Doch Horst und die anderen dachten daran, wie es wohl denjenigen ergehen würde, die deportiert worden sind.
Die Proteste in der Rosenstraße hörten nicht auf und ab dem 6. März entließ die Gestapo die Gefangenen wieder. Horst Selbiger bekam einen Entlassungsschein und wenige Tage später durften auch sein Vater und sein Bruder gehen. Doch der große Rest seiner Familie hatte dieses Glück nicht. 61 seiner Angehörigen wurden deportiert und ermordet. Und auch rund 6.000 der etwa 8.000 bei der Fabrikaktion verhafteten Juden wurden gleich nach ihrer Ankunft in Auschwitz umgebracht.
Horst Selbiger hatte seine geliebte Freundin verloren und war der geplanten Deportation und Ermordung entkommen. Was sollte dem 17-Jährigen nun noch passieren? In den letzten Monaten der Naziherrschaft lief er nun ohne den gelben Davidstern mit der Aufschrift „Jude“ an der Jacke als vermeintlich „arischer“ Junge durch Berlin. Er hatte sich sogar noch ein Abzeichen der Hitlerjugend besorgt und besuchte jetzt zum ersten Mal im Leben Kinos, Theatervorstellungen und ging in den Wintergarten – alles Dinge, die den Juden seit über zehn Jahren verboten waren. Genau wie die „Rassenschande“, die er mit Mädchen betrieb, die er nun kennenlernte.
Die Nachkriegszeit bot Horst Selbiger ein neues Leben. 1949 zog er in die neu gegründete DDR, studierte, wurde Journalist, trat der FDJ und der SED bei. Aber er war nicht angepasst genug, flog 1953 aus der Partei raus und erhielt Berufsverbot. 1956 durfte er wieder eintreten, veröffentlichte Hörspiele und Bücher, arbeitete beim Fernsehen. Als er 1964 aus Frankfurt am Main vom Auschwitzprozess berichten sollte, blieb er in der Bundesrepublik. Zu sehr hatten ihn die Schauprozesse belastet, als dass er der DDR-Führung noch vertraut hätte.
Aber auch in der Bundesrepublik wurde er abgelehnt und seiner Rechte beraubt. Da er nach dem Krieg für ostdeutsche Medien gearbeitet hatte, versagte man ihm jahrelang die Anerkennung als „rassisch Verfolgter“. Als er diese endlich bekam, wurde ihm die entsprechende Entschädigung verweigert. 15 Jahre dauerten die Prozesse, in denen der Satz eines Gutachters zitiert wurde: „Dem Kläger steht ein Entschädigungsanspruch nicht zu. … Die jüdische Rasse scheint zu Gicht, Diabetis mellitus und familiärer Hypocolesterinämie zu neigen.“ Dass der zitierte Gutachter Gotthard Schettler NSDAP-Mitglied und Gaustudentenführer war, störte damals niemanden. Und heute offenbar auch nicht: Im Jahr 2017 wurde im sächsischen Falkenstein eine Turnhalle nach ihm benannt. Erst nach Protesten wurde sein Name im Winter wieder von dem Gebäude entfernt. Marco Siegemund, CDU-Bürgermeister des Ortes, sieht in der Ehrung Schettlers jedoch kein Problem: „Er hat ja niemanden umgebracht.“
Und so steht Horst Selbiger mehr als 70 Jahre nach seiner gerade noch verhinderten Deportation wieder mal der Ignoranz in der Bevölkerung gegenüber.
Darüber hat er auch in seinem neuen Buch geschrieben: „Verfemt – Verfolgt – Verraten“ ist im März 2018 erschienen.
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