Hamsterfahrt in den Osten

Wer heute von der Luft­brü­cke hört, hat den Eindruck, als wäre West-Berlin während der Blockade 1948/49 total von der Außen­welt abge­schnit­ten gewe­sen. Viele glau­ben, die Menschen hätten nur über­lebt, weil die West­al­li­ier­ten sie über die Luft­brü­cke mit Lebens­mit­teln versorgt haben. Zwar waren die Zufahrts­stra­ßen und Schie­nen von West­deutsch­land nach West-Berlin tatsäch­lich gesperrt und auch über das Wasser durfte nichts rein. Die Versor­gung war abge­schnit­ten und die Luft­brü­cke hat sie zu eine Groß­teil gesi­chert. Trotz­dem gab es noch eine andere Möglich­keit, sich mit Lebens­mit­teln zu versor­gen, und hundert­tau­sende West-Berli­ner haben sie genutzt. Sie versorg­ten sich im Osten.
Zu dieser Zeit gab es um West-Berlin herum ja noch keine Mauer. Über­haupt war Berlin im Bewusst­sein der hier leben­den Bewoh­ner auch längst nicht aufge­teilt. Ossis, Wessies, das gab es noch nicht, Wedding und Prenz­lauer Berg waren nicht nur geogra­phisch, sondern auch in der Wahr­neh­mung der Berli­ner ein gemein­sa­mer Kiez, ob man in Schö­ne­berg oder Lich­ten­berg wohnte war Zufall. Die meis­ten Menschen waren froh, wenn sie über­haupt eine Wohnung hatten, da spielte der Stadt­teil keine Rolle.

Lebens­mit­tel gab es in beiden Teilen der Stadt nicht frei zu kaufen, sondern nur gegen entspre­chende Bezugs­scheine. Doch wenn die Läden leer waren, nutz­ten auch die schöns­ten Lebens­mit­tel­kar­ten wenig. Deshalb wurde getauscht. In Berlin jedoch lebten zu viele Menschen, da kam man mit Tauschen nicht sehr weit. Und so fuhren die Berli­ner erst ins Umland, und lang­sam immer weiter weg, um den Bran­den­bur­ger Bauern Wert­sa­chen anzu­bie­ten und davon Kartof­feln, Getreide oder wenigs­tens Rüben zu bekom­men. Das gute Fami­li­en­sil­ber das den Krieg über­lebt hatte, Foto­ap­pa­rate, die Fuchs­stola, die Eheringe: Alles landete bei den Bauern, aber dafür hatte man selber was zu essen. Wer eines hatte, fuhr mit dem Fahr­rad, die meis­ten aber setz­ten sich in die Vorort­züge oder häng­ten sich außen dran, wenn sie wieder zu voll waren. Es war nicht ille­gal in des sowje­tisch besetz­ten Gebiet zu fahren, aber die Probleme kamen auf der Rück­reise. Oft warte­ten an den Bahn­hö­fen die DDR-Volks­po­li­zis­ten und kontrol­lier­ten Taschen und Ruck­sä­cke. Das teuer erwor­bene Brot, der Schin­ken, der Weizen, alles wurde beschlag­nahmt, denn wer Lebens­mit­tel von Ost nach West schmug­geln wollte, beging “Schä­di­gung der Volks­wirt­schaft”. Im Herbst 1948 listete die Berli­ner Zeitung auf, was auf diese Weise inner­halb von zwei Wochen konfis­ziert worden war: 37.000 Tonnen Gemüse, 3.000 Tonnen Mehl, 500 Tonnen Fett, 3.000 Tonnen Fleisch.

Im Osten der Stadt war die Versor­gungs­lage besser, wenn auch nicht wirk­lich gut. Wer konnte, versorgte Verwandte aus den West­sek­to­ren mit, doch auch das ging nur in gerin­gem Umfang. Statt­des­sen bot die SED den West-Berli­nern an, sich im sowje­ti­schen Sektor regis­trie­ren zu lassen, dann würden sie dort auch Lebens­mit­tel kaufen können. Es wurden sogar extra Läden nur für West-Berli­ner einge­rich­tet. Schät­zun­gen zufolge nahm aber nicht mal ein Prozent der Bevöl­ke­rung dieses Ange­bot an, der Hass auf die Russen war zu groß. Immer­hin hatte die Sowjet­ar­mee nur wenige Jahre zuvor Berlin einge­nom­men und damit den Nazi­staat endgül­tig zerschla­gen. Die meis­ten Deut­schen haben das nicht als Befrei­ung erlebt, sondern als Nieder­lage, dem “denen” wollte man also möglichst nichts zu tun haben.
Mit den Lebens­mit­tel-Ange­bo­ten woll­ten die Sowjets das glei­che errei­chen, wie die Amis mit der Luft­brü­cke: Sie soll­ten die West-Berli­ner für die eigene Seite gewin­nen und zeigen: “Seht her. Wir kümmern uns um euch, wir lassen euch nicht verhun­gern.” Diese Schlacht im Kalten Krieg haben eindeu­tig die Ameri­ka­ner gewon­nen.

Foto: Bundes­ar­chiv, Bild 183-M1205-318 / Donath, Otto / CC-BY-SA 3.0

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2 Kommentare

  1. Hams­ter­fahr­ten waren schon vor 1948, denn ich weiß, dass wir einen teil mit dem zug fuhren. wenn die gleise es erlaub­ten, dann so weit wie es ging und dann wurde stun­den­lang gelau­fen — ich im boller­wa­gen.
    1948 war es ja so, dass wir kinder bis zu einem gewis­sen alter in den osten durf­ten. also fuhren wir kinder zu den gärten sowie ich immer nach rangsdorf und holten das reife obst oder/und was immer reif war.
    zum pots­da­mer platz musste ich immer brot holen. meine mutter wusste an welchen tagen das oder dieses gelie­fert wird. so stand ich mit vielen leuten, wie in der späte­ren DDR, in der schlange und wartete sehr lange. dafür durfte ich mir zur beloh­nung einmal in der woche eine bock­wurst für 50 ost-pfen­nige kaufen.
    ich bin immer gelau­fen, denn die stra­ßen­bahn war mit 10 pfen­nig zu teuer…

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