Verändert sich Europas Landkarte?

Lukaschenko und Putin

Mit Putins Angriff auf die Ukraine nimmt die Idee eines bela­rus­sisch-russi­schen Unions­staa­tes Gestalt an

Es ist Krieg im östli­chen Europa. Neben dem mili­tä­ri­schen Angriff russi­scher Trup­pen auf das ukrai­ni­sche Terri­to­rium fand offi­zi­ell bis zum 20. Februar die gemein­same mili­tä­ri­sche Übung der bela­rus­si­schen und russi­schen Armeen statt. Unter dem Namen der “Entschlos­sen­heit des Unions­staa­tes” erprob­ten die beiden Streit­mächte im Westen und Süden von Bela­rus ihre Gefechts­fä­hig­keit.

Die Übun­gen hatten darauf hinge­deu­tet, dass es sich nur um das Vorspiel des größ­ten mili­tä­ri­schen Konflikts in Europa seit 1945 handeln würde. Das poli­ti­sche Minsk und Moskau hatten gegen­über der Welt einen “defen­si­ven Charak­ter” der Übun­gen behaup­tet, die angren­zen­den Nato-Mitglie­der und die Ukraine waren besorgt über das Mili­tär­ma­nö­ver. Seit dem Beginn des Angriffs­kriegs der russi­schen Armee auf die Ukraine am 24. Februar ist nun bekannt, dass Trup­pen­be­we­gun­gen aus dem Terri­to­rium von Bela­rus für die russi­sche Führung eminent wich­tig waren, um die Haupt­stadt der Ukraine, Kiew, zu bela­gern.

Unter­künfte gemie­tet

Die ursprüng­li­chen Befürch­tun­gen der Regie­run­gen Polens, Litau­ens und der Ukraine ziel­ten vor allem darauf ab, dass russi­sche Kampf­ver­bände auch nach Ablauf der Übung in Bela­rus blei­ben und die Region desta­bi­li­sie­ren würden. Diese Annah­men haben sich schon am Tag nach dem offi­zi­el­len Ende der Übun­gen bewahr­hei­tet.

So vermel­dete der bela­rus­si­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­ter am Montag, nur Tage vor Beginn des Angriffs­kriegs, dass aufgrund der Eska­la­tion im Donbass und vermehr­ten mili­tä­ri­schen Akti­vi­tä­ten im Osten Euro­pas die Kampf­be­reit­schaft der “Unions­streit­kräfte” verlän­gert werde. Ein Datum, bis wann die russi­sche Armee in Bela­rus statio­niert blei­ben würde, wurde nicht genannt.

Meldun­gen aus bela­rus­si­schen Ortschaf­ten in der Nähe zur Ukraine berich­ten von russi­schen Mili­tärs, die sich für drei bis vier Monate Unter­künfte gemie­tet haben. Schwe­res Mili­tär­ge­rät wurde auch in den letz­ten Tagen weiter­hin in den Süden von Bela­rus verlegt, was durch Videos und Fotos in sozia­len Medien veri­fi­ziert werden kann. Durch die starke Konzen­tra­tion bela­rus­si­scher und russi­scher Einhei­ten entlang der west­li­chen Grenze des “Unions­staa­tes” ist die Ukraine aus geogra­fisch nörd­li­cher, östli­cher und südli­cher Perspek­tive einge­kes­selt.

In Deutsch­land und im Rest West­eu­ro­pas ist der Begriff “Unions­staat” bisher fast nur Exper­ten bekannt. Die sprach­li­che Ähnlich­keit zur Euro­päi­schen Union sorgt zusätz­lich für Verwir­rung. Der 1999 ins Leben geru­fene Russisch-Bela­rus­si­sche Unions­staat war ein Bünd­nis, das zunächst die wirt­schaft­li­che Inte­gra­tion der beiden Staa­ten anstrebte. Eine vertiefte poli­ti­sche Inte­gra­tion oder gar ein Zusam­men­schluss von Bela­rus und Russ­land stan­den zur Jahr­tau­send­wende nicht auf der Agenda.

Es gab Speku­la­tio­nen, dass Alex­an­der Lukaschenko, schon damals auto­ri­tä­rer Macht­ha­ber in Bela­rus, die Schwä­che des dama­li­gen russi­schen Präsi­den­ten Boris Jelzin ausnut­zen und Herr­scher eines verein­ten Bela­rus­sisch-Russi­schen Staa­tes werden wollte. Jedoch bekam Russ­land wenige Monate nach der Unter­zeich­nung des Unions­ver­tra­ges einen neuen Präsi­den­ten: Wladi­mir Putin.

In den Folge­jah­ren wurde das Projekt sowohl in Bela­rus als auch in Russ­land eher stief­müt­ter­lich behan­delt. Die außen­po­li­ti­sche Ausrich­tung beider Regie­run­gen konzen­trierte sich in den 2000er-Jahren auf andere Themen­fel­der. Erst mit der Maidan-Revo­lu­tion in der Ukraine und dem Krieg im Donbass inten­si­vier­ten sich Versu­che der russi­schen Seite, den Unions­staat wieder­zu­be­le­ben. Die Vorstöße kamen zunächst aus dem Kreml, der nach dem Einfluss­ver­lust in der Ukraine nicht noch einen weite­ren “Bruder­staat” verlie­ren wollte.

Die Sicht­weise Lukaschen­kos auf die Bela­rus­sisch-Russi­sche Union verän­derte sich grund­le­gend zu seinen Ambi­tio­nen Ende der 1990er-Jahre. So sitzt ihm nun mit Putin eine gänz­lich konträre Persön­lich­keit als Jelzin gegen­über. Auch die geostra­te­gi­sche Ausrich­tung Russ­lands ist mit der des Landes aus den 1990er-Jahren nicht mehr zu verglei­chen. Somit lavierte Lukaschenko in den letz­ten zehn Jahren zwischen stra­te­gi­scher Zusam­men­ar­beit mit Russ­land und einer stufen­wei­sen Annä­he­rung an die EU.

Den gewis­sen Grad an geopo­li­ti­scher Auto­no­mie, wenn auch das Wirt­schafts­sys­tem von Bela­rus größ­ten­teils aus Russ­land subven­tio­niert wurde, verlor Lukaschenko mit den gefälsch­ten Präsi­dent­schafts­wah­len 2020. Die mate­ri­elle wie auch imma­te­ri­elle Unter­stüt­zung Moskaus bei der Repres­si­ons­po­li­tik der bela­rus­si­schen Behör­den gegen die eigene Bevöl­ke­rung hatte einen hohen Preis. So wurden im vergan­ge­nen Septem­ber 28 Road­maps, also Programm­punkte, zur vertief­ten ökono­mi­schen Inte­gra­tion ausge­ar­bei­tet. Bela­rus­si­sche Oppo­si­tio­nelle vermu­te­ten damit den Beginn des Verlus­tes der staat­li­chen Unab­hän­gig­keit oder eine fakti­sche Einglie­de­rung in die Russi­sche Föde­ra­tion.

Folgen und Auswir­kun­gen eines solchen Szena­rios sind viel­fäl­tig und wurden in der russi­schen und bela­rus­si­schen Öffent­lich­keit in den letz­ten Jahren schon häufig disku­tiert. Neben den schon vorhan­de­nen poli­ti­schen Orga­nen des Obers­ten Staats­ra­tes oder des über­ge­ord­ne­ten Parla­ments wären etwa die Einfüh­rung einer gemein­sa­men Währung, einer kollek­ti­ven Armee oder eines gemein­sa­men Geheim­diens­tes möglich. Die Sicher­heits­ar­chi­tek­tur in Europa würde sich verän­dern, da zum Beispiel die balti­schen Staa­ten nur noch über den Suwalki-Korri­dor mit dem Rest der EU und der Nato verbun­den wären. Heute liegt auch Bela­rus noch zwischen ihnen und Russ­land.

Im russi­schen Staats­fern­se­hen über­bo­ten sich schon Talk­show­gäste bei der Diskus­sion der Frage, wie viele Stun­den eine mili­tä­ri­sche Verbin­dung zwischen der Exklave Kali­nin­grad und Bela­rus benö­ti­gen würde, nach der das Balti­kum von Polen abge­kop­pelt wäre. Dementspre­chend verständ­lich wirken die beun­ru­hi­gen­den State­ments der Regie­run­gen in Vilnius, Riga und Tallinn, obwohl der Angriff auf die Ukraine zu diesem Zeit­punkt noch gar nicht begon­nen hatte. Aus der Gemenge­lage ergibt sich das Para­dox, dass aus balti­scher Perspek­tive die Beibe­hal­tung der bela­rus­si­schen Staat­lich­keit von höchs­ter sicher­heits­po­li­ti­scher Bedeu­tung wäre. Das aktu­elle Regime in Minsk muss dafür jedoch über­wun­den werden, weshalb die EU seit den gefälsch­ten Wahlen 2020 fünf Sank­ti­ons­pa­kete beschlos­sen hat.

Alex­an­der Lukaschenko sagte derweil in einem Inter­view mit einem der führen­den Kreml­pro­pa­gan­dis­ten, Wladi­mir Solo­wjow, dass auch die Ukraine in 15 Jahren Teil des Unions­staa­tes sei. Falls er und Putin keine Fehler begin­gen. Die poli­ti­schen Reali­tä­ten in der Ukraine, in der eine große Mehr­heit die Anbin­dung an den Westen verfolgt, scheint Lukaschenko kaum zu verste­hen. Darüber hinaus sieht sogar die ukrai­ni­sche Verfas­sung die stra­te­gi­sche Orien­tie­rung zum Beitritt zur EU und Nato vor, was die Vorstel­lung der Ukraine als Teil eines russisch geführ­ten Unions­staa­tes bisher noch grotes­ker erschei­nen ließ. Die Entwick­lun­gen der letz­ten Tage lassen jedoch Schlim­mes befürch­ten. Etwa das Szena­rio einer kreml­na­hen Mario­net­ten­re­gie­rung in Kiew, die sich vom Westen abwen­den würde.

Wie schnell sich die poli­ti­sche Land­karte ändern kann, wissen viele Menschen aus dem Norden und Westen Euro­pas nicht mehr. So sind die De-facto-Staa­ten wie Trans­nis­trien, Abcha­sien oder die selbst ernann­ten “Volks­re­pu­bli­ken” Donezk und Lugansk nur ein paar Beispiele dafür, wie sehr sich die poli­ti­sche Geogra­fie in Europa in den letz­ten 30 Jahren verscho­ben hat. Während die formale Einglie­de­rung von Bela­rus in die Russi­sche Föde­ra­tion in den nächs­ten Mona­ten eher unwahr­schein­lich erscheint, ist die sicher­heits­po­li­ti­sche Inte­gra­tion der beiden Länder ein poli­ti­sches Faktum. Der minu­tiös geplante Angriff Russ­lands auch vom Terri­to­rium von Bela­rus belegt dies. Das Aufge­ben der knapp über 30 Jahre währen­den Unab­hän­gig­keit hat jedoch auch in weiten Teilen der bela­rus­si­schen Bevöl­ke­rung keine Mehr­heit.

Kasach­stan poten­zi­el­les Mitglied

Die in Russ­land und Bela­rus im Zuge des Mili­tär­ma­nö­vers disku­tierte Zukunft des Unions­staa­tes wird viel mehr in Moskau als in Minsk entschie­den. Dabei erwähnte Lukaschenko, dass sich solch eine Union nicht nur auf die beiden Staa­ten beschrän­ken müsse. Neben der Ukraine wäre wohl auch Kasach­stan ein poten­zi­el­les Unions­mit­glied für den Kreml. Beson­ders die kasa­chi­schen Proteste vom Januar 2022 verdeut­li­chen für Lukaschenko und Putin, dass Beispiele des sukzes­si­ven Regie­rungs­rück­tritts kein Erfolgs­mo­dell in der post­so­wje­ti­schen Region sind.

Nico­las Buty­lin
Berli­ner Zeitung
Der Autor ist Berli­ner mit deutsch-bela­rus­si­schem Fami­li­en­hin­ter­grund. Er studiert Russ­land­stu­dien an den Univer­si­tä­ten Pots­dam und Moskau sowie Osteu­ro­pa­stu­dien an der FU Berlin und der Univer­si­tät Vilnius.

Foto: kremlin.ru, CC BY-SA 2.0

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