10 Jahre als Romeo

Heutzutage ist es unter Schwulen fast schon ungewöhnlich, wenn man jemanden auf „herkömmlichen“ Weg kennenlernt, also einfach so im Alltag oder in Clubs.
Anders läuft es in den Dating-Plattformen. Vor rund zehn Jahren habe ich mich in einer davon angemeldet. Ich suchte nach einem Menschen, der mich lieben würde, so richtig mit Herz und Seele. Sehr schnell habe ich jedoch gemerkt, dass das dort ziemlich aussichtslos ist. Es dreht sich – mehr oder weniger – alles um den Sex. Ich habe das akzeptiert, schließlich bin ich ein Mann und damit hat Sex für mich auch eine große Bedeutung. Was das aber alles heißt, erfuhr ich erst in den folgenden Monaten.

Tatsächlich kann man auf der Plattform alles finden, was das sexuelle Spektrum zu bieten hat. Vieles davon hat mich von Anfang an abgeschreckt und nicht umsonst steht in manchen Profilen: „Kein Interesse an dem, was ins Klo gehört.“ Besonders in Berlin ist es auch nicht schwer, hier Männer zu finden, die auf „harte“ Sachen stehen. Immer wieder ist von Folter die Rede, Sado-Maso extrem, Unterarme in nicht dafür vorgesehenen Öffnungen, Würgespiele, Sklavenhaltung und manches mehr. Dass sich auch junge „Männer“ anbieten, deren Fotos eher Zwölfjährige zeigen, ist sicher den mangelnden Kontrollen der Betreiber anzulasten.
All das interessiert mich nicht. Nachdem ich den Traum aufgegeben hatte, dort meinen Traumprinzen zu finden, ging es auch bei mir nur noch um Sex. Allerdings den „normalen“, auch wenn mir mehr als einmal vorgeworfen wurde, ich wäre doch spießig.

Grundsätzlich ist das mit den Dating-Plattformen zum Finden eines Sexpartners eine gute Sache: Man zeigt sich, beschreibt sich und seine Interessen und was man sucht. Theoretisch ist es einfach, einen Gleichgesinnten zu finden. In der Praxis aber sieht es anders aus. In vielen Texten wird gelogen, besonders in den Selbstbeschreibungen wird es mit der Wahrheit nicht sehr genau genommen. Dies betrifft nicht nur die Beschreibung des eigenen Körpers, die manchmal sehr weit von der Realität entfernt ist. Natürlich will man sich möglichst attraktiv darstellen und auch ich habe schon mal mein Alter eher dem gefühlten, als dem tatsächlichen angeglichen. Mich aber 10 Zentimeter größer oder 20 Kilo leichter zu machen, wäre mir nicht eingefallen, weil ich spätestens beim tatsächlichen Treffen entlarvt worden wäre. Bei vielen ist das jedoch anders und das verstehe ich nicht. Was nützen die falschen Angaben, wenn die Lüge spätestens beim direkten Date auffliegt?

Manche suchen nur schnellen Sex, andere eine längere Freundschaft und wieder andere die Liebe fürs Leben. Anstatt sich klar darzustellen, täuschen viele etwas vor, das sie gar nicht wollen. „Ich suche jemanden zum Quatschen, keine sexuellen Interessen“ – und wenn man an seiner Wohnungstür klingelt, öffnet er im String Tanga, die Poppers schon in der Hand. Oder man vereinbart, dass es nur safen Sex gibt, also mit Kondom. Trotzdem will der andere plötzlich nur Analsex ohne Gummi, weil alles andere doch Kinderkram sei. Ich werde nie verstehen, wieso sich einige so verhalten.

Auffallend viele schreiben in ihr Profil auch „Keine Spinner“. Anfangs habe ich mich darüber gewundert. Gemeint ist etwas, das ich dann auch erfahren musste: Viele Männer sind im Chat, der einem Treffen ja meist vorausgeht, sehr offen, schreiben viel, man denkt, dass man sie etwas kennenlernt. Das ist ja eine gute Voraussetzung, um ein minimales Maß an Vertrauen zu schaffen, immerhin will man sich verabreden und intim miteinander werden, den anderen sogar in die eigene Wohnung lassen. Stattdessen aber kommt es immer wieder vor, dass das Gespräch über eine Stunde oder länger geht, dass wirklich alles geklärt ist, es dann aber trotzdem nicht zu einem Treffen kommt. Plötzlich ist der Chat beendet, man selber wird vielleicht sogar noch vom anderen geblockt, um keinen Kontakt mehr aufnehmen zu können.
Entweder hat der Gesprächspartner parallel mit anderen gechattet und sich schließlich für einen anderen potenziellen Sexpartner entschieden. Oder aber, bei der gegenseitigen ausführlichen Beschreibung der sexuellen Vorstellungen hat er sich so erregt, dass ihn das bereits zum Höhepunkt gebracht hat. So oft wie ich das erlebt habe, glaube ich, dass es vor allem darum ging: Livechat zum Aufheizen, sich dabei einen runterholen und danach das eigene Profil wieder löschen. Deshalb schreiben viele User auch: „Keine neuen Profile“.

Ob der andere nur einen anregenden Chat zur eigenen Befriedigung gesucht hat oder sich aus Scheu wieder verabschiedete, kann man nur spekulieren. Denn natürlich sind oft auch Männer dabei, für die das alles neu ist und die sich erstmal herantasten. Sei es, dass es junge Schwule auf der Suche nach ihrer Identität und ersten Erfahrungen sind. Oder aber Männer, die manchmal sogar in Beziehungen mit Frauen stecken und trotzdem homoerotische Gefühle haben. Ich selber habe mehrmals, teilweise über Stunden, mit Männern gechattet, auf die genau dies zutrifft. Manche sind seit Jahren in Beziehungen mit Frauen und wollen das auch. Trotzdem haben sie sexuelle Fantasien, in denen sie z.B. Oralsex mit Männern praktizieren oder mal einen Penis im Hintern spüren wollen. Sie lieben ihre Frauen, wünschen sich aber Dinge, die diese ihnen nicht bieten können. Für sie sind schwule Dating-Apps natürlich eine gute Möglichkeit, sich Sex mit Männern zu suchen.

Etwas sehr Spezielles sind die Gruppen, die in den Plattformen angeboten werden. Jeder Registrierte kann eine eigene Gruppe gründen, die dann entweder allen offensteht oder für deren Mitgliedschaft man sich bewerben muss. Das Spektrum ist unüberschaubar: Manchmal geht es um regionale Kontakte, nicht sexuelle Interessen wie Hobbys, vor allem aber um alles rund um den Sex. Man kann sich darin austauschen über Bars, Cruising-Areas und natürlich auch für dort verabreden. Besonders aber gibt es Gruppen für spezielle Sexvorlieben wie Fetische, Jung-Alt, Füße, Gangbang usw. Die Gruppen machen es einfach, Gleichgesinnte zu finden.

Viele können sich heute nicht mehr vorstellen, Sex ohne solche Dating-Apps zu haben. Die meisten, die ich darüber kennengelernt habe, wären wohl ziemlich aufgeschmissen, wenn es das plötzlich nicht mehr gäbe. Je nach persönlichem Standpunkt ist das eine sehr traurige, vielleicht aber auch positive Tatsache. Diese Plattformen ermöglichen es vielen, Kontakte zu Menschen zu bekommen, die sie sonst niemals kennenlernen würden. Ein guter Freund hat schon öfter zu mir gesagt, dass wir Schwulen es in dieser Beziehung doch viel einfacher hätten, als die Heteros. Da ist sicher was dran.

Aber nicht nur das: Nach zehn Jahren als User auf der Plattform habe ich auch ich dort kürzlich jemanden kennengelernt, mit dem sich gerade viel mehr entwickelt. Auch mit ihm gab es beim ersten Date gemeinsamen Sex. Dann aber haben wir acht Stunden geredet und festgestellt, dass wir uns viel mehr miteinander vorstellen können und wollen. Es kann dort also doch klappen. Vielleicht melde ich mich ja bald bei der Dating-Plattform ab.

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berliner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

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