Was ist mit uns, die wir hier leben?

Anita Lasker-Wallfisch

Die Tochter der Auschwitz-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch zog nach Berlin, um die Arbeit der Mutter fortzuführen.

Es ist der 27. Januar 2024, der weltweite Holocaust-Gedenktag, und ich schreibe diesen Text aus Berlin. Sechs Jahre sind vergangen, seit meine Mutter Anita Lasker-Wallfisch an diesem Tag in Berlin vor dem Bundestag sprach. Über die Ermordung ihrer Familie, ihre eigene Deportation nach Auschwitz, ihre Zeit als Cellistin im Lagerorchester des Konzentrationslagers. Und den wieder aufblühenden Antisemitismus.

Dieser Tag schien mehr zu verkörpern als nur das, was verloren war. Ich las aus ihm auch die Möglichkeit, dass es für mich in Berlin, in Deutschland, etwas zu finden gab. Vielleicht war eine schöne neue Welt im Vaterland meiner Mutter eine Möglichkeit für mich. Ich würde eine Heimkehrerin sein. Die erste Lasker-Wallfisch, die versuchen würde, nach dem Holocaust hier eine Heimat zu finden. Was für ein Gedanke…

Der Gedanke wurde verwirklicht. Ich war wild entschlossen – ich bin schließlich die Tochter meiner Mutter. Mich trieb eine Intensität an, die mir sagte, dass dies mein Schicksal sein musste. So viel war uns gestohlen worden. Meine Mission schien mir klar zu sein.

Ich würde mich auf die Suche nach meinem ungelebten Leben machen – in der Hoffnung, dass ich es finden würde. Naivität ist sowohl ein Segen als auch ein Fluch. Ohne Naivität hätte ich diese Entscheidung wohl nicht getroffen. Ich bin mir der anderen, ungelebten Leben bewusst. Die meiner ermordeten Großeltern, die nicht einmal ein Grab haben. Sie sind es, die ich würdigen möchte. Um ihretwillen will ich zeigen: Wir waren hier, in Deutschland. Ich bin der Beweis dafür.

Ich weiß nicht, was ich in Berlin erwartet habe, aber es war auf jeden Fall unrealistisch. Ich hatte nicht mit einem solchen Kulturschock gerechnet – oder mit der intensiven Einsamkeit, der ich nicht entkommen konnte. Und mit etwas anderem, das zu erkennen ich einige Zeit brauchte. Die unbewussten Vorurteile, die mir begegneten, immer in Momenten, in denen ich eine Rüstung hätte gebrauchen können.

Ich war in dieser Stadt – und bin es immer noch – eine zurückkehrende Jüdin. Und obwohl Deutschland das Schlimmste gesehen hat, wozu der Mensch fähig ist, trotz der Verwüstung und des tödlichen Virus des Antisemitismus, ja, auch trotz der unbestreitbaren Anstrengungen, die hier in der Erinnerungskultur gemacht wurden, sind wir Juden nicht sonderlich beliebt. Ich bin nicht sicher, ob wir das jemals sein werden.

Das jüdische Volk wird seit Hunderten von Jahren gejagt und vertrieben. Es scheint unser Schicksal zu sein. Und das, sage ich mir selbst an einem schlechten Tag, ist der Grund, warum ich mich in Deutschland unsicher oder unwillkommen fühle. Vielleicht bin ich eine Erinnerung an das, was man lieber vergessen will.

Heute ist ein Tag, an dem es gewissermaßen Vorschrift ist, der Millionen von Toten zu gedenken. Wie könnten wir sie jemals vergessen? Aber erinnern ist nicht genug. Wir brauchen einen Aufruf zum Handeln, während wir all das betrauern, was verloren gegangen ist. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit und Energie in die Auseinandersetzung mit Rassenhass und Diskriminierung in all ihren Erscheinungsformen investieren.

Ich bin mit Schmerz und Entschlossenheit nach Deutschland zurückgekehrt, um ein Zeichen zu hinterlassen. Anstelle eines Flecks des Todes und des Verlustes. Ich möchte etwas zur deutschen Gesellschaft beitragen – und doch stehe ich nicht auf der Gästeliste des Bundestages zur Gedenkfeier am kommenden Mittwoch. Ich war noch nie eingeladen, und ich muss sagen, das schmerzt mich. Meine Mutter hat mir den „Staffelstab“ übergeben, sie hat mich gebeten, ihr Erbe am Leben zu erhalten. Und an das, was geschehen ist, zu erinnern, weil ihre Kräfte schwinden.

Es ist eine große Verantwortung, die ich gerne wahrnehmen möchte, aber ich kann es nicht allein. Erinnern, etwas tun, kommunizieren als Kollektiv – das ist die Art und Weise, wie wir unseren Toten am besten dienen und gedenken können.

Maya Lasker-Wallfisch
Geboren 1958 in London, ist psychoanalytische Psychotherapeutin, spezialisiert auf das Trauma der Kinder von Holocaust-Überlebenden. Sie hat über ihr Leben und ihre Arbeit zwei Bücher geschrieben, zuletzt erschien „Ich schreib euch Briefe aus Berlin. Rückkehr in ein neues Zuhause“.

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berliner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

Foto: Ilse Paul in Hannover / CC BY-SA 4.0

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