Hitlerputsch 1923: Wo lag die eigentliche Gefahr?

Vor 100 Jahren begann in München der missratene Prozess gegen den späteren Diktator. Ein Lehrstück für die Gegenwart

Es war eiskalt am Morgen dieses 26. Februars 1924 in München, als mitten im Herzen der bayerischen Landeshauptstadt im Speisesaal der Infanterieschule der Prozess begann, der ein Ziel hatte: den Putsch vom 8. und 9. November des Vorjahres aufzuarbeiten und die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Davon ging die Öffentlichkeit zumindest aus, als die zwölf Angeklagten, allen voran die Putschistenführer Adolf Hitler und Erich von Ludendorff, unter dem Applaus ihrer Anhänger, auf der Anklagebank Platz nahmen. Doch es sollte bald ganz anders kommen.
Dazu zählten der Chef der 7. (bayerischen) Reichswehrdivision, Otto von Lossow, der Chef der Landespolizei Hans von Seißer und vor allem der bayerische Generalstaatskommissar Gustav von Kahr. Er war wenige Wochen zuvor von der Staatsregierung unter dem konservativen Ministerpräsidenten Eugen von Knilling (BVP) auf seinen Posten gehoben worden und damit quasi eine Art Diktator auf Zeit. Anders glaubten die Politiker, das Land nicht durch die turbulente Zeit (Hyperinflation, Putschgerüchte, Ende des passiven Widerstandes gegen die französische Ruhrbesetzung) lenken zu können.

Marsch in die Niederlage

Doch nach einer anfänglich geäußerten Zustimmung im Bürgerbräukeller wandte sich das Triumvirat, nachdem es auf freien Fuß gesetzt worden war, im Laufe der Nacht zu Hitlers Überraschung gegen die Putschisten. Deren Schicksal war damit besiegelt. Da nützte auch der verzweifelte „Marsch auf die Feldherrenhalle“, den Hitler und Ludendorff anführten, nichts mehr. Am Ende blieben 18 Tote, darunter vier Polizisten, auf dem Platz vor der Feldherrenhalle zurück. Hitler gelang die Flucht, aber er wurde zwei Tage später ebenso verhaftet wie eine Reihe weiterer Putschistenführer.

In der Untersuchungshaft tüftelte Hitler einen geschickten Plan zu seiner Verteidigung vor Gericht aus – er plante, das Verhalten des Triumvirats in den Wochen vor dem Putsch öffentlich zu machen. Eigentlich war der für solche Fälle eingerichtete Reichsgerichtshof in Leipzig zuständig, aber die Reichsregierung gab schließlich der bayerischen Landesregierung nach, die ihn partout vor dem Volksgericht 1 in München ausgetragen sehen wollte. Ministerpräsident Knilling wusste genau, warum – denn der Prozess drohte, ein großer Skandal zu werden, wenn München ihn aus der Hand und damit aus der Kontrolle geben würde.

Der Grund dafür lag im Verhalten Kahrs in den Wochen vor dem Putsch und auch in den entscheidenden Stunden während des Putsches. Kahr – und mit ihm Seißer und Lossow – waren nämlich keineswegs die Verteidiger von Demokratie und Republik, die sie qua Amt hätten sein müssen. Im Gegenteil: Sie strebten selbst einen Putsch, oder besser gesagt: einen Staatsstreich, an. Während des Herbstes hatte es viele Kontakte zwischen ihnen und den Putschisten gegeben; und zugleich geradezu einen Wettlauf zwischen Hitler und seinen Anhängern, zu denen neben der NSDAP und der SA noch einige weitere strammrechte Verbände gehörten, einerseits, und Kahr andererseits. Beide Seiten hatten sich permanent beäugt – zwar hatten sie das gleiche Ziel, aber sie trauten sich gegenseitig nicht über den Weg.

Hitler wachte eifersüchtig über seine Vorreiterrolle unter den künftigen Putschisten. Er wusste aber, dass er ohne Kahr keinen Erfolg haben würde. Denn die tatsächliche Macht lag bei diesem; als Generalstaatskommissar verfügte er über die Machtmittel des Staates, wozu vor allem die Landespolizei gehörte, und wusste auch Seißer als Chef der 7. Reichswehr-Division, die in München stationiert war, hinter sich.

Kahr seinerseits hatte Kontakte zu rechtsextremen Kreisen in Berlin, vor allem zu hohen Generälen der Reichswehr. Er hoffte, mit diesen gemeinsam die Demokratie im Reich und in Bayern zu beseitigen und mindestens in München die Monarchie wieder einzuführen. Er strebte genauso wie Hitler einen Putsch an, gemahnte aber noch zur Geduld. Am 8. November war für ihn die Zeit schlicht noch nicht gekommen, wiewohl auch er nur in Tagen oder Wochen dachte.

Während der Phase der Prozessvorbereitung drohte Hitler nun offen, über Gespräche und Verhandlungen zwischen beiden Seiten zu berichten. Bei der bayerischen Staatsregierung schrillten alle Alarmglocken, ein großer Skandal drohte. Denn nichts anderes wäre die Folge gewesen, wenn im Prozess herausgekommen wäre, wie Kahr, Seißer und Lossow mit den Putschisten gekungelt und zugleich gewetteifert hatten. Diese saßen zwar auf der Zeugen- und nicht auf der Anklagebank, aber eine Anklage drohte auch ihnen und wäre bei einem Prozess, der diesen Namen verdient hätte, unvermeidlich gewesen.

Doch der ausgewählte Richter Georg Neithardt erfüllte die ihm zugedachte Aufgabe voll. Er verhinderte ein ums andere Mal, dass das Triumvirat wirklich in Bedrängnis geriet. Es waren just die Anwälte der Angeklagten, allesamt selbst aus dem rechtsextremen Milieu stammend, die sie überhaupt mal hart in die Mangel nahmen. So blieb die wahre Rolle von Kahrs, auch wenn viele Journalisten und Prozessbeobachter aus den demokratischen Kreisen mit entsprechenden Vermutungen durchaus richtig lagen, verborgen.

Wer sich heute die erhaltenen Unterlagen des Prozesses, allen voran die Wortlautprotokolle (zum Teil war damals die Öffentlichkeit vom Prozess ausgeschlossen), und die Aussagen von Zeugen vor der Polizei direkt nach dem Putsch durchliest, wird auf eine Tatsache stoßen: Die wirkliche Gefahr am 8. und 9. November 1923 ging nicht von Hitler aus – sondern von Kahr. Er war der starke Mann, der die staatlichen Machtmittel in der Hand hielt. Er war zum Putsch bereit – nur eben noch nicht jetzt.

Eine Rekonstruktion der (zeitlichen) Abläufe der Nacht vom 8. auf den 9. November macht deutlich, dass der Putsch erfolgreich gewesen wäre, wenn von Kahr ihn zu diesem Zeitpunkt gewollt hätte. Denn die ganz große Mehrheit der Mitglieder von Landespolizei und bayerischer Reichswehr orientierte sich, das geht klar aus Zeugenaussagen gegenüber der Polizei in den Tagen nach dem Putsch und während des Prozesses hervor, an von Kahr, nicht an Hitler. Und wer sich das Verhalten von Kahrs in den entscheidenden Stunden anschaut, muss zu der Erkenntnis kommen, dass der Generalstaatskommissar keineswegs, wie er selbst behauptete, von Anfang an gegen Hitlers Putsch gewesen war und zur anfänglichen Zustimmung lediglich mit Waffengewalt gezwungen worden sein. Zurück in seinem Büro zögerte von Kahr über mehrere Stunden, ob er auf den Zug aufspringen solle oder nicht.

Abgrund von Hochverrat

Erst als ihm klar wurde, dass die bayerische Reichswehr den Weg nicht mitgehen würde (das hatte der Münchner Stadtkommandant Jakob Ritter von Danner seinem Chef Seißer in der Nacht klargemacht) und Kahr darüber informiert worden war, entschied er sich gegen den Putsch. Somit tat sich in den Wochen vor dem Putsch und in der Putschnacht selbst ein Abgrund von Hochverrat durch die faktischen Inhaber der staatlichen Gewalt auf.

Die Hoffnung auf einen Putsch hatte von Kahr nach Hitlers Scheitern keineswegs verloren. Schon am Nachmittag des 9. November – Hitler war noch auf der Flucht – betonte er auf einer Pressekonferenz ganz offen, dass sich an seinen Zielen nichts geändert habe. Der spanisch-katalanische Journalist Eugeni Xammar, der zugegen war, schrieb anschließend: „Von Kahr ist einer dieser Männer, die sagen, was sie denken, und er ist zweifellos nicht so bedeutend wie Bismarck. Aber er ist gefährlicher als Hitler.“ Dass Kahr schließlich doch nicht mehr zum Zug kam, lag daran, dass sich die Verhältnisse im krisengeschüttelten Deutschland in den nächsten Wochen und Monaten stabilisierten und schließlich die normale, demokratische gewählte Regierung die Gewalt wieder übernahm. Nun war kein Platz mehr für einen Putsch.

Doch sein Agieren und die große Gefahr offenbart, wie gefährlich es wird, wenn eine nicht-demokratische Regierung die Macht hat – und sei es nur in einem Teil der Republik. Das gilt für den Putsch wie auch für den Prozess gegen Hitler mit seinen lächerlichen Strafen für die Angeklagten, der völlig zu Recht als „Skandal“ und „Katastrophe“ bezeichnet wurde. Somit sind beide Ereignisse auch ein Lehrstück, gerade für das Deutschland 100 Jahre später.

Armin Fuhrer, Journalist und Historiker.

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berliner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

print

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*