Der Fall Hemberger

Leichtenteile des Anselm Hemberger

Vor rund 100 Jahren erschüt­tert ein bestia­li­scher Mord Berlin. Das Opfer: ein Ober-Real­schul­leh­rer. Schnell scheint fest­zu­ste­hen, wer die Leiche des Mannes zerstü­ckelt hat. Was aber ist wirk­lich gesche­hen?

Die Lehrer­toch­ter Elisa­beth Hember­ger hatte ihren Gelieb­ten Walter Protze – den Sohn ihrer Stief­schwes­ter – im Jahr 1918 dazu ange­stif­tet, ihren Ehemann zu ermor­den. Der auch durch Nach­wir­kun­gen einer Kriegs­ver­let­zung psychisch nicht gesunde Protze tat wie gehei­ßen und hatte am 11. Dezem­ber 1918 den Ober-Real­schul­leh­rer Dr. Anselm Hember­ger erschos­sen, der als Torso im Land­wehr­ka­nal endete.

Die Aufschreie der Empö­rung waren ohren­be­täu­bend laut, als die nähe­ren Einzel­hei­ten dieser bestia­li­schen Tat ans Tages­licht kamen. Die Haupt­schul­dige, so wuss­ten die meis­ten sofort, das war ganz bestimmt die Ehefrau. Diese unan­sehn­li­che Ehebre­che­rin, die ihren Haus­halt vernach­läs­sigt hatte und zudem nicht mit Geld umge­hen konnte. Und die dann auch noch die Frech­heit beses­sen hatte, ihren Mann zu betrü­gen. Es dauerte aus verschie­de­nen Grün­den sehr lange, bis es endlich zum Prozess kam, doch danach war nichts mehr so, wie es den Menschen zunächst erschie­nen war. Aus der diabo­li­schen Mord­an­stif­te­rin war – nicht zuletzt dank ihres Vertei­di­gers Max Alsberg – ein Opfer gewor­den, und aus dem zerstü­ckel­ten Opfer ein sadis­ti­scher Täter.

Dunkle Vergan­gen­heit

Es ist Liebe auf den ersten Blick, als die junge Elisa­beth Grassme aus der Provinz, die bei der AEG in Berlin als Korre­spon­den­tin arbei­tet, in der Tanz­schule ihren neuen Tanz­part­ner erblickt. Sie hat ein Faible für ältere Herren, und dieser ist ein ganz beson­ders höfli­ches und gebil­de­tes Exem­plar. Es dauert auch nicht lange und Dr. Anselm Hember­ger, ein promo­vier­ter Lehrer aus – laut Eintrag im Trau­re­gis­ter – „Hettin­gen in Baden“, und die 25 Jahre jüngere Elisa­beth werden ein Paar, das bald eine Liebes­hei­rat einge­hen will.

Elisa­beths Verwandt­schaft ist jedoch instink­tiv nicht begeis­tert von ihrer Wahl und zieht Erkun­di­gun­gen ein. So kommt irgend­wann die dunkle Vergan­gen­heit des Mannes ans grelle Tages­licht, die er seiner Verlob­ten nicht voll­stän­dig gebeich­tet hat. Sie weiß, dass er schon einmal in England verhei­ra­tet war und dafür sogar aus der katho­li­schen Kirche ausge­tre­ten ist.

Aus Liebe zu seiner ersten Ehefrau will er sein Pries­ter­amt aufge­ge­ben haben, um danach ein Studium zu absol­vie­ren, so die offi­zi­elle roman­ti­sche Version. Die inof­fi­zi­elle wirft ein völlig ande­res Licht auf den Mann: „Pfar­rer Dr. Hember­ger von Machen­ried wird am 30. Dezem­ber 1896 wegen fort­ge­setz­ter Verge­hen wider die Sitt­lich­keit zu 10 Mona­ten Gefäng­nis verur­teilt“, hieß es in einer sehr langen Namens­liste, die unter ande­rem die Zeitung Arbei­ter­wille veröf­fent­lichte.

Die erschre­ckend lange Liste, eine kleri­kale Skan­dal­chro­nik des Grau­ens, pran­gerte etli­che Straf­ta­ten von Geist­li­chen aus dem ganzen Land an, die sich wegen Mord, Erpres­sung, „wider­na­tür­li­cher Unzucht“, Plün­de­rung von Opfer­stö­cken und vielem mehr hatten verant­wor­ten müssen. Die Wahr­heit war also, dass der ehema­lige Pries­ter und Sexu­al­straf­tä­ter Hember­ger nach England geflo­hen war, um Gras über die Sache wach­sen zu lassen, bevor er sich dann in Berlin nieder­ließ.

Elisa­beth verzeiht ihrem Anselm: Am 27. April 1909 schlie­ßen sie den stan­des­amt­li­chen Bund der Ehe, sie gibt darauf­hin ihren Beruf auf, während ihr Ehemann weiter als Real­schul­leh­rer arbei­tet. Das gemein­same Leben entwi­ckelt sich ab einem unbe­stimm­ten Zeit­punkt für Elisa­beth zu einer Art Hölle auf Erden, als Hember­ger, eine – laut seiner Arbeits­kol­le­gen – „über­aus sinn­li­che Natur“, sich nicht mehr zügeln kann und so manches Mal auch seine Schü­le­rin­nen beläs­tigt.

Eines der Mädchen schweigt nicht und meldet den Vorfall dem Schul­di­rek­tor, sodass Hember­ger mal wieder an eine andere Berli­ner Real­schule versetzt wird. Wieso die Schul­be­hörde diesen Mann mit seiner Vergan­gen­heit als Sexu­al­straf­tä­ter über­haupt erst einge­stellt hat und ihn dann sogar junge Mädchen unter­rich­ten ließ, ist wiederum eine andere Frage, die an dieser Stelle nicht geklärt werden kann.

Der Absturz des Paares, das 1913 und 1916 zwei Kinder bekommt, ist vor allem bedingt durch die kompli­zierte Persön­lich­keit des auch unglück­li­chen Mannes vorpro­gram­miert, der von seinen Eltern gegen seinen Willen zum Pries­ter­amt gedrängt worden war. Immer wieder beläs­tigt er zu Hause die öfters wech­seln­den Dienst­mäd­chen, vergnügt sich mit ihnen, während Elisa­beth im Wohn­zim­mer warten muss. Begehrt sie auf, droht er mit Prügel. Noch hat Elisa­beth nicht die Kraft, zu gehen und ihren Mann, der auch dem Alko­hol sehr zuge­tan ist, zu verlas­sen.

An den Kindern, so wird vor Gericht bezeugt werden, habe er sehr gehan­gen. Elisa­beth ahnt, dass sie sie verlie­ren würde, würde sie Anselm verlas­sen. Und es sind sowieso schwie­rige Zeiten, in Europa tobt der Erste Welt­krieg, da liegt bei so manch einem in Berlin die Psyche ermat­tet am Boden. Doch dann kommt der Tag, an dem es beim besten Willen nicht mehr geht, sie ihren ganzen Mut zusam­men­nimmt und den „ehren­wer­ten“ Dr. Hember­ger verlässt, um in eine Laden­woh­nung in der Urban­straße zu ziehen. Zuvor hat sie die Kinder noch in ein Heim gebracht.

Als eines Tages mal wieder ihr Neffe vor der Tür steht, ist das der Anfang vom Ende. Es entsteht eine unheil­volle Alli­anz, denn auch Protze ist psychisch ange­schla­gen, neigt zu Krampf­an­fäl­len, ist unbe­stän­dig und zu keiner dauer­haf­ten Arbeit fähig. Zudem ist er durch eine Kriegs­ver­let­zung morphi­um­ab­hän­gig gewor­den. Es entwi­ckelt sich nicht nur ein Liebes­ver­hält­nis zwischen den beiden, sondern der über­mä­ßige Hass auf Hember­ger über­trägt sich auf ihn und beherrscht fortan auch sein Leben. Er stili­siert sich, so wird der Krimi­no­loge Dr. Erich Wulffen 1923 in der Fall­stu­die in seinem Buch „Das Weib als Sexu­al­ver­bre­che­rin“ schrei­ben, „zum Beschüt­zer der Tante“, wird aber in Wirk­lich­keit ihr „Werk­zeug“.

Das blutige Proze­dere

An jenem 11. Dezem­ber ist es still gewor­den in der Laden­woh­nung. Auf dem Boden liegt der unter einem Vorwand dort hin gelockte Dr. Hember­ger tot in einer Blut­la­che. Hinge­rich­tet mit drei Schüs­sen aus einer Pistole, die Elisa­beth Walter Protze vorher über­ge­ben hat, um sich dann auf den Weg zu Verwand­ten zu machen. Doch es reicht den beiden nicht, dass sie einem Menschen das Leben genom­men haben, sie müssen ihn dann auch noch zerstü­ckeln. Dieses blutige Proze­dere gehört für den normal denken­den und fühlen­den Menschen zu den brutals­ten Taten über­haupt, die er sich beim besten Willen nicht vorstel­len kann und will.

Elisa­beth hat die Uten­si­lien dafür schon bereit­ge­legt. Protze zögert zunächst, greift dann aber wie in Trance zur Säge, bis er Hember­ger bis zur Unkennt­lich­keit verstüm­melt hat, während das Blut in eine Zink­wanne läuft. Elisa­beth habe ihm dabei gehol­fen, so wird er vor Gericht behaup­ten, doch die strei­tet das vehe­ment ab. Dabei hat sie reich­lich krimi­nelle Ener­gie, das beweist sie noch einmal Wochen später, als in Grünau ein Selbst­mör­der erhängt aufge­fun­den wird, sie schnur­stracks zur Poli­zei marschiert und ihn als ihren Ehemann iden­ti­fi­ziert. Beinahe wäre das mörde­ri­sche Paar seiner gerech­ten Strafe entgan­gen. Doch es kam anders. Seit jenem Mord­tag plagt Protze das schlechte Gewis­sen, und um das zu beru­hi­gen, legt er schon bald für den Fall seines Able­bens ein schrift­li­ches Geständ­nis ab, nichts ahnend, dass seine Ehefrau das Schrei­ben der Krimi­nal­po­li­zei vorzei­tig über­ge­ben würde. Das Spiel ist aus, und die Türen schlie­ßen sich hinter den Zellen des Unter­su­chungs­ge­fäng­nis­ses.

Am 6. Okto­ber 1921 beginnt der Hember­ger-Prozess – die Anklage lautet auf „gemein­schaft­li­chen Mord“ – und es kommt im Gerichts­saal zu tumult­ar­ti­gen Szenen, als Menschen sich fast darum prügeln, möglichst in der ersten Reihe sitzen zu dürfen. An diesen sechs Prozess­ta­gen wendet sich das Blatt zunächst lang­sam, dann aber mit voller Wucht, als Alsberg Elisa­beth Hember­ger schließ­lich drin­gend dazu rät, „alles, wirk­lich alles“ vor Gericht preis­zu­ge­ben, was ihr während ihrer Ehe wider­fah­ren ist. Der Tag der Urteils­ver­kün­dung am 11. Okto­ber 1921 gerät zum fulmi­nan­ten Finale, zum über­ra­schen­den Ende eines Gerichts­pro­zes­ses, der die Menschen gespal­tet hat und das vor allem geschlechts­spe­zi­fisch.

Das empörte Geschrei seitens der Herren im Publi­kum ist groß, als Elisa­beth Hember­ger zu einer Haft­strafe von „nur“ zwei­ein­halb Jahren verur­teilt wird, wovon mehrere Monate der Unter­su­chungs­haft ange­rech­net werden. Walter Protze muss für fünf Jahre hinter Gittern, damit ist der Groß­teil der weib­li­chen Zuhö­rer zufrie­den. Alsberg hat ganze Arbeit geleis­tet und der Ange­klag­ten eine lange Haft­strafe erspart.

Was ist aus der rätsel­haf­ten Frau Hember­ger nach ihrer Haft­ent­las­sung gewor­den? Das ist eine Frage, die zu diesem Zeit­punkt nicht beant­wor­tet werden kann. Der Kauf­mann Walter Protze starb am 28. Januar 1929 in Berlin an einer Lungen­ent­zün­dung, nur vier Monate nach­dem er in Schö­ne­berg noch einmal gehei­ra­tet hatte. Er war 30 Jahre alt und hatte sein Leben schon verwirkt.

Bettina Müller

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

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