Disneyland in Mitte: Das Nikolaiviertel

Span­dau hat sein Altstadt-Vier­tel, auch die Keim­zelle Köpe­nicks sieht heute wieder schick alt aus. Nur Berlin als Groß­stadt hat keine wirk­li­che Altstadt vorzu­wei­sen. Das liegt zum einen natür­lich an der Geschichte der Stadt, die sich ja nicht nur aus einem einzi­gen Ort entwi­ckelt hat, der immer größer wurde — Berlin hat seine Größe statt­des­sen den über hundert Einge­mein­dun­gen zu verdan­ken.
Aber auch der zweite Welt­krieg ist dafür verant­wort­lich, dass sich Berlin in den 80er Jahre eine neue Altstadt bauen musste. Aber der Reihe nach:

Als die Gemein­den Cölln (1237) und Berlin (1244) erst­mals urkund­lich erwähnt wurde, stand die Kirche Sankt Niko­lai schon einige Jahr­zehnte; der Feld­stein­bau wurde nach jetzi­gen Erkennt­nis­sen im Jahre 1180 fertig­ge­stellt. Die Schwes­ter­städte waren nur durch die Spree getrennt, bald wurden sie zusam­men­ge­legt, später wieder getrennt und dann wieder verei­nigt. Aber immer spielte sich alles rund um die Niko­lai­kir­che ab, sie war schon im Mittel­al­ter das Zentrum der Stadt. Von hier aus entwi­ckelte sich Berlin zur Handels- und Hand­werks­stadt, die nahe Spree war über Jahr­hun­derte der wich­tigste Verkehrs­weg nach außer­halb.
Viele Jahr­hun­derte änderte sich das Erschei­nungs­bild rum um die Niko­lai­kir­che kaum, während die umlie­gende Stadt expan­dierte. In der Nähe entstan­den wich­tige Handels­plätze (Molken­markt, Spit­tel­markt), Zentren der Kultur (Alex­an­der­platz), später Wohn­get­tos (Krögel, Juden­vier­tel im Nord­os­ten). Auf der gegen­über liegen­den Spree­seite wuchs das Hohen­zol­lern­schloss, reiche Kauf­leute bauten auch am Rande des Niko­lai­vier­tels, doch im Kern blieb alles beim Alten, bis die Bomber zwischen 1943 und 1945 einen großen Teil in Trüm­mer verwan­delte.
Während der Neuge­stal­tung des Ostber­li­ner Zentrums kam die Zukunft des Niko­lai­vier­tels meist nur am Rande vor. Als histo­ri­sche Stätte war es aus dem Bewusst­sein des Magis­trats lange Zeit verschwun­den, es war zur städ­te­bau­li­chen Verfü­gungs­masse gewor­den. Degra­diert zum Beiwerk, was beson­ders deut­lich wurde in einem Archi­tek­tur­bei­trag von 1959: An Stelle des Vier­tels sollte die Spree ein Hafen­be­cken für Ausflugs­damp­fer bekom­men, das sich bis zum Roten Rathaus erstre­cken sollte!
Erst Anfang der 80er Jahre besann man sich seiner Wurzeln, ange­sichts des nahen­den 750. Jubi­läum der Stadt. Plötz­lich sollte das Niko­lai­vier­tel als histo­ri­sche Wiege Berlins heraus­ge­stellt werden, der Magis­trat entschied sich für einen Wieder­auf­bau. Da nun aber die meis­ten Gebäude zerstört waren, andere wurden in den Nach­kriegs­jah­ren abge­ris­sen, fiel die Entschei­dung sich am histo­ri­schen Vorbild zu orien­tie­ren. Das hat aller­dings nur teil­weise geklappt, wenn man sich manche Fassa­den ansieht, die — auf “histo­risch” gemacht — durch die sicht­ba­ren Spal­ten zwischen den Beton­plat­ten in der Fassade die Wahr­heit offen­ba­ren. Auch die Gebäude die nach altem Vorbild neu errich­tet wurden, sind geschicht­lich betrach­tet nur schlechte Kopien. Oft stehen sie zudem noch am falschen Platz oder sehen anders aus, als ihre Origi­nale.
So wurde den Berli­ner im Jubi­lä­ums­jahr 1987 eine neue Altstadt präsen­tiert, die bis heute den Ruf einer Art Disney­land nicht losge­wor­den ist. Und tatsäch­lich sind es weni­ger die Haupt­stadt­be­woh­ner, die die Gastro­no­mie und Geschäfte im Niko­lai­vier­tel besu­chen, als Touris­ten und andere Berlin-Besu­cher. Und diese finden hier mitt­ler­weile tatsäch­lich eine Form der Gemüt­lich­keit, die sonst histo­risch gewach­se­nen Altstäd­ten eigen ist: Stille Lokale, nette Restau­rants, kleine Stra­ßen zum Spazie­ren, mitten­drin der alte Kirchen­bau, der dem ganzen eine Aura von Authen­ti­zi­tät verleiht. Würden statt der weni­gen Autos noch ein paar Kutschen in den Stra­ßen stehen, die Illu­sion wäre perfekt.

Sicher: Dem Besu­cher unse­rer Stadt ist es wahr­schein­lich egal, dass das Lokal “Zum Nuss­baum” einst in der Sper­lings­gasse stand, mehrere hundert Meter südwest­lich auf der ande­ren Seite der Spree; dass das Gast­haus “Zur Rippe” über 270 Jahre ganz anders aussah; dass das Ephraim-Palais fünf­zig Jahre lang ausein­an­der­ge­baut in einem West-Berli­ner Spei­cher­haus lagerte, bis es in den 80er Jahren wieder aufge­baut wurde — aller­dings nicht am origi­na­len Stand­ort. Genau wie die “Gerichts­laube”.
Aber egal, immer­hin hat Berlin auf diese Art eine Attrak­tion mehr, auch wenn sie unter falscher Flagge segelt. Und die Berli­ner wissen offen­bar schon, warum sie lieber Span­dau oder Köpe­nick besu­chen, wenn sie eine echte Altstadt sehen wollen.

Foto: Gerd Eich­mann, CC BY-SA 4.0

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3 Kommentare

  1. Wenige Minu­ten nach der offi­zi­el­len Einwei­hung durch “Honi” bin ich damals zufäl­lig vorbei­ge­kom­men (die bekann­ten auffäl­lig unauf­fäl­li­gen Herren in Einheits­blou­sons waren noch da). Da sah es noch unna­tür­lich neu aus. Aber bei meinem letz­ten Besuch dort vor einem Jahr war ich ange­nehm über­rascht. Die Ecke hat wirk­lich was, auch wenn man weiss, dass es “Disney” ist.
    Für Köpe­nick spricht aber auch die Mini­braue­rei in dem Kiosk auf dem Marktplatz/Rathausplatz(?).

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