Die Jungfernbrücke

Gegenüber der Spree­gasse, der jetzigen Sperlingsgasse, in der einst der junge Wilhelm Raabe seine bekannte „Chronik der Sperlingsgasse“ geschrieben hat, liegt die Jungfernbrücke. Sie wurde im 17. Jahrhundert von Holländern erbaut und ist die einzige hölzerne Zugbrücke, die sich im Stadtbilde Berlins erhalten hat. Die Jungen, die anno dazumal auf dem Schulweg über diese Brücke gehen mussten, konnten ruhig einmal zu spät kommen. Denn gegen die Ausrede: „Die Brücke war jrade uffjezogen!“ konnte kein Lehrer etwas einwenden.
Heute ist die Jungfernbrücke fast zu einem Museumsstück geworden, ein letztes Stück des alten Berlin, das auch die kriegerischen Ereignisse überstanden hat.

Warum sie, die ursprünglich und sinngemäß Spreegassenbrücke hieß, nur noch die Jungfernbrücke genannt wird? Der Volksmund hat manche Sage um diesen Namen gewoben. Manche führen ihren Namen auf eine Flussbadeanstalt zurück, deren Zutritt Männern vorbehalten war, während die Jungfern an der Brücke bleiben mussten. Andere wiederum wissen von einem Hochzeitsbrauch zu berichten: „Vor der Heirat müsse die Braut über die Brücke gehen. Sollten die Bohlen dabei knarren, wäre es mit der Jungfräulichkeit der Braut nicht weit her“.

Da wird aber auch von einem blinden Mann erzählt, der in der Nähe der Brücke gewohnt haben soll. Er war schon alt und brauchte wenig Schlaf, und so saß er denn manchmal des Nachts am offenen Fenster und lauschte auf die stille Gracht hinaus. Dabei geschah es manchmal, dass er streitende Stimmen hörte. Ein Mann mit einer rauhen Stimme bedrängte ein Mädchen, das sich weinend wehrte:
„Ich kann nicht eure Frau werden! Habt doch ein Einsehen! Ihr wisst, dass meine Eltern mich einem anderen versprochen haben.“
„Dann gebt diesem anderen Euer Wort zurück, Jungfer!“ forderte die Stimme des Mannes, in heftigem Ton.
„Aber ich liebe ihn doch“, kam es verzweifelt zurück.
„So fahr‘ denn zur Hölle!“
Der stille Mann am Fenster hörte ein keuchendes Ringen, einen unterdrückten Aufschrei, dann ein Aufschlagen im Wasser und gleich darauf sich eilends entfernende Schritte.
Am anderen Tage zog man an der Brücke die Ertrunkene aus der Spree, und bald darauf verhaftete man auch den Mörder. Wenigstens den, den man für den Mörder halten musste. Denn der wahre Täter hatte den Verlobten der Toten als ihren Mörder angezeigt.
Als der Blinde davon hörte, ließ er sich vor das Gericht führen, und an der rauhen Stimme erkannte er den Mann wieder, der das Mädchen ins Wasser gestoßen hatte. Seither, so erzählt die Sage, nennt man die Brücke nur noch Jungfernbrücke.

Wahrscheinlicher als diese romantisch-rührselige Geschichte ist aber wohl die folgende Erklärung:
In der Friedrichsgracht, gleich gegenüber der Brücke, befand sich früher der Gasthof „Französischer Hof“. Hier wohnten viele ihres Glaubens wegen aus der Heimat vertriebene Franzosen, darunter auch eine Familie Blanchet. Die Blanchets mit ihren neun Töchtern, so berichtete seinerzeit die illustrierte Berliner Wochenschrift „Der Bär“, beschäftigten sich in einer Bude an der Brücke mit dem Nähen feiner Wäsche, mit dem Reparieren und Waschen von Kanten und Spitzen und seidenen Strümpfen. Sie hatten hierin den besten Ruf in ganz Berlin. Nur ihre spitze Zunge hatte einen noch größeren Ruf.
Wollten nun unsere Voreltern eine feine Arbeit machen lassen, die sie gewöhnlichen Wäscherinnen nicht anvertrauen mochten, dann hieß es: Wir wollen es zu den Jungfern an der Brücke schicken. Hatte aber der Stadtklatsch irgendeine Neuigkeit verbreitet und wollte man möglichst viel davon hören, dann hieß es wieder: Lass un zu den Jungfern an der Brücke gehen.
So kam es, dass zu einer Zeit, da Berlin noch eine kleine Stadt war, neun mund- und handfertige Mädel den offiziellen Namen einer Brücke umtaufen konnten.

Ernst Grau

Foto: Dieter Brügmann – CC BY-SA 3.0

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