Von Hirschgarten nach Köpenick Bahnhof — II.

Bellevue-Park

Da es also den Weg nicht gibt, den ich hatte gehen wollen, ging ich in die Belle­vue­straße in Rich­tung aufs Wasser. Der Name verführte mich. Nicht der Name “Schöne Aussicht”; denn das ist vom Bran­den­burg­platz zu sehen, dass die Schön­heit der Aussicht hier nur eine Erin­ne­rung ist. Sondern der Name Salva­dor Allen­des, in dessen Straße die Belle­vue über­geht.
Die Gegend hat mit dem ermor­de­ten chile­ni­schen Präsi­den­ten rein gar nichts zu tun. Wenn ich den Namen höre, denke ich gleich an eine Anek­dote, in der ich lieber nicht vorkäme. Nach­dem Allende ermor­det worden war — ich lebte noch im tiefs­ten West­ber­lin — ging es in Zehlen­dorf darum, ob ein Studen­ten-Wohn­heim seinen Namen bekom­men sollte. Ich war dage­gen, ich betrau­erte den Tod des Präsi­den­ten nicht. Da sah der Kollege Rottka, der später den Ossietzky-Preis bekam, mich erstaunt an und sagte auch etwas, ich weiß nicht mehr was, aber wenn ich daran denke, weiß ich, dass mir die Geschichte besser gefiele, wenn ich für die chile­ni­sche Benen­nung gewe­sen wäre.
Heute bin ich wieder dage­gen. Ich möchte über­haupt keine Poli­ti­ker­na­men für Stra­ßen, Plätze, Brücken. Blumen- und Orts­na­men, sie orien­tie­ren besser und lenken unsere Alltäg­lich­keit nicht ab in Bewer­tun­gen, deren Maßstäbe nicht mit uns abge­stimmt werden.

Ich ging bis auf die Brücke, von der man Alt-Köpe­nick sehen kann hinter dem Wasser und die grauen Wohn­blocks, die unter dem chile­ni­schen Namen wie Mauern am Hori­zont stehen. 18 Kräne zähle ich. Die Pappeln am Ufer zähle ich nicht. Sie sind zahl­los. Ufer­vil­len mit Boots­ste­gen östlich, stille Werks­hal­len west­lich. “Hier stan­den doch alles noch Gebäude”, sagt die Frau eines gut geklei­de­ten Spazier­gän­ger-Duos, das mich über­holt.
Die Fried­richs­ha­ge­ner Straße, in die ich nun einbiege, macht den Eindruck von Unord­nung: Neu und Alt, Gewiss­heit und Unge­wiss­heit. Also auch eine Brücken­straße — das ist mein Wort für Stra­ßen, die nicht nur in der Gegen­wart verlau­fen, sondern auf der Grenze zwischen Gegen­wart und Zukunft. “Brücken über Ströme, die vergehn”.
Linker Hand das alte Kabel­werk, die Indus­trie­bau­ten im düster rot-brau­nen Back­stein, die in das Leben Tausen­der hinein­ra­gen, die hier gear­bei­tet haben. VEB IKA — verblas­sende Abkür­zun­gen am Giebel. “Halt für Fremd­fahr­zeuge. Meldung bei der Betriebs­schutz­wa­che”: Spra­che, als ob die Fabrik der Staat wäre, aber es ist eine tote Spra­che.

Gegen­über das Neue: Fertig­bau­hal­len, sie sehen vorüber­ge­hend aus; wer hier arbei­tet, hat mehr einen Job als eine Arbeit, er wird nicht umschlun­gen. KWO Kabel und noch vier weitere abkür­zende Buch­sta­ben. Der Union Jack am Fahnen­mast und Schwarz-Rot-Gold vor dem leuch­tend roten Pfört­ner­häus­chen. “Das Rauchen ist auf dem Betriebs­ge­lände verbo­ten”, ange­sprayt: “Laie”. Die bunten Kommerz­pla­kate links über­de­cken die dunkle Mauer, hinter der das Verges­sen lagert.
Tor 3/4 steht offen. Das Gelände wird planiert. Auf der ande­ren Seite; Stin­nes-Baumarkt in der rot-grünen Farbig­keit des Konsums. Der Eingang zu den Foto­me­cha­ni­schen Werken repä­sen­tiert noch Groß­in­dus­trie; dahin­ter: “Mittel und Wege” — eine “Gesell­schaft für soziale Kommu­ni­ka­tion”. Kommu­ni­ka­tion — das aktu­elle Wort. “DeTeWe — Kommu­ni­ka­ti­ons­sys­teme”: 21 Buch­sta­ben für ein einzi­ges Wort; viele aktu­elle Mitt­tel­stands­wör­ter sind solche langen Zusam­men­set­zun­gen, ihre Fremd­wort­haf­tig­keit soll Zauber verbrei­ten. Verfüh­rung, den Glau­ben: “Das ist’s!”.
Mittel­stand statt Groß­in­dus­trie, Konsum statt Fabri­ka­tion, Know-how statt Manu­fak­tur, Umwand­lung einer Indus­trie- in eine Dienst­leis­tungs-Gesell­schaft: Die Fried­richs­ha­ge­ner Straße ist ein sozio­lo­gi­scher Lehr­pfad.
Wer hier entlang geht, sieht, was los ist im Lande. Man müsste die Schü­ler hindurch führen. Aber sie würden sich lang­wei­len. Sie wollen nicht wissen, was heut ist, ihrer ist das Morgen, von dem sie unge­nau wissen, dass sie Geschichte nicht brau­chen, um es zu verste­hen. Auf der rech­ten Seite der Belle­vue-Park, gegen­über der “Wohn­park Halb­in­sel Köpe­nick”: Das Ensem­ble vervoll­stän­digt die Beispiel­haf­tig­keit der Straße. Eine mäch­tige Eiche steht an deut­li­chem Platz: “Ich weiß alles, ich sage es nicht, ihr müsst selbst dahin­ter­kom­men”.

Das wäre das Ziel des Jobs: Am Park, auf einer Halb­in­sel, am Wasser, auch Zugang haben zu den geho­be­nen Stim­mun­gen wie sie früher herrsch­ten in den Villen am Fluss weiter oben. Viele Hoff­nun­gen schei­tern. Neben der Neubau-Erwar­tun­gen am düste­ren Bezirks­bau­amt der Musik­schule Sozi­al­werke: “Netz­werk”, “Tausend­füß­ler e.V.”.
Eine Schu­mann-Stele, die hier stehen soll, entgeht mir. Was hätte Schu­mann hier zu suchen? Sein Wahn­sinn war nicht der Wahn­sinn der Zeiten. Die weiß leuch­ten­den Neubau­ten Nr. 6 A ff beschen­ken mich mit dem mir neuen Wort: “Büro­ein­heit”; den Wort-Erfin­der beglück­wün­sche ich: das Büro — die Einheit, der Ort, der uns auf uns selbst zurück führt: “Büro­ein­hei­ten zu vermie­ten”.
Ich bin in der Gegen­wart ange­kom­men. Das Frei­luft­mu­seum Fried­richs­ha­ge­ner Straße ist hier zu Ende oder beginnt hier, Nr. 2 ein Torhaus zur Welt dieser Straße. Den Neubau dane­ben errich­tet eine italie­ni­sche Firma, die volks­wirt­schaft­li­che Lehr­stunde ist noch nicht aus. An der Ecke am Gene­rals­hof tref­fen die Zeiten aufein­an­der: Über das Haus des Kondi­tors und seine Nach­barn zur Linken und Rech­ten ließe sich ein bauge­schicht­li­cher Vortrag halten. Die Post­mo­derne der Italie­ner (für eine Gesell­schaft aus Fürth) sieht hell, glän­zend, neu aus, die neue Sach­lich­keit von Otto Firles Gemein­de­haus dunkel, verstaubt, alt; unter den Farben könnte es genau anders herum lauten.
In der Bahn­hof­straße, durch die ich jetzt zum S‑Bahnhof Köpe­nick gehe, gibt es wohl nur einen einzi­gen Ort, an dem man sitzend einen Kaffee trin­ken kann. Ich bin an dem klei­nen Italie­ner vorüber, ehe ich mich erin­nere, dass er der einzige ist.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: A.-K. D., CC BY-SA 3.0

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