Aus der Asche geborgen

Am 18. Mai 1968 (oder auch später) ging ein alter Mann, man kann sagen: ein Herr, durch den Wald spazie­ren in Rich­tung auf ein Dorf, das er Schön­holz nannte, das aber wohl Schön­blick war. Der Hund lief ihm voraus und kehrte zurück, hin und her, bis er ausblieb. Der Herr, der in Gedan­ken versun­ken war, bemerkte es erst nach eini­ger Zeit. Einen Grund zur Beun­ru­hi­gung sah er zuerst nicht. So etwas war ihm schon früher vorge­kom­men. Nach Hause zurück­ge­kehrt lässt er Tor und Tür offen: Schläft unru­hig. Der Morgen kommt hoch, schon scheint die Sonne, der Hund ist nicht da, er kommt nicht zurück. “Außer mit ihm habe ich niemals mit jemand wirk­lich zusam­men­ge­lebt”, schreibt der Herr in einem Text über diese Maitage.
Dieser Text ist ein merk­wür­di­ges Stück Lite­ra­tur; teils berich­tend, teils erfin­dend, Reales mit Fiktio­na­lem mischend, so dass diese Unter­schei­dung wieder einmal — wie bei dem großen E.T.A. Hoff­mann — ganz zwei­fel­haft; das Wort Sozia­lis­mus kommt nur ein einzi­ges undeut­li­ches Mal vor; 1968? DDR? Nur Ankänge an die Welt drau­ßen. Der Text heißt: Wald­straße im Hessen­win­kel. Ich hatte das Bedürf­nis, die Gegend zu sehen, in der der Hund verschwun­den ist und der Herr gelebt hat.

Am Bahn­hof Warschauer Straße steht ange­schrie­ben: Nach Wilhelms­ha­gen “ca.” 29 Minu­ten, stimmt genau. Frische Waldes­luft, ein grau­haa­ri­ger Herr auf dem Bahn­steig, wie ein Muster­ex­em­plar solcher, die ich hier suche. Der Bahn­hofs­vor­platz ist in seiner vorstäd­ti­schen, unber­li­ni­schen Gepflegt­heit eine Sehens­wür­dig­keit. Der “3. Wilhelms­ha­ge­ner Früh­jahrs­putz” ist gerade gewe­sen. Der einhei­mi­sche Bild­hauer Drake hat ein paar bron­ze­ner Fohlen hinter­las­sen, davor violette Stief­müt­ter­chen und ein paar gelbe, ein klei­nes Wasser­be­cken für die Vögel, die hier beson­ders hell singen. Was wäre das Land ohne die Lieder der Vögel?

Die GEWO moder­ni­siert das Eckhaus zur Schön­bli­cker Straße, das wie ein Förs­t­erhaus aussieht; hier sehen viele Häuser wie Förs­t­erhäu­ser aus. Die Straße führt über einen weiten runden Platz, in dessen Mitte die Tabor­kir­che steht, am Anfang des [vori­gen] Jahr­hun­derts gebaut, vor WK I, Tabor: Berg der Verklä­rung, Berg der Erschei­nung. Passt das hier? An der Kirch­tür drei dicke Engel­chen, der linke trägt ein Kreuz, der rechte einen Anker, der mitt­lere, der einzige mit eindeu­ti­gem Geschlecht, ein Herz. Die Klein­gar­ten­sied­lung, durch die ich jenseits der Fürs­ten­wal­der Allee gehe, führt den selte­nen Namen Neu Vene­dig, unten in Köpe­nick gibt es noch Klein-Vene­dig. Mit dem Namen der Köni­gin der Meere verbin­den viele Menschen nichts als Häuser am Wasser und gar nicht, was die Stadt so einma­lig macht unter den Städ­ten der Erde: Nämlich, dass sie als Stadt und eben nicht als Garten und gärt­ne­ri­schen Ensem­ble aus dem Wasser wächst und dass sie stei­nern ist in allen Farben des südli­chen Steins.
Von der Mari­an­nen­brü­cke blicke ich auf ein Wichelm­ann-Ensem­ble, Warnung vor dem Hunde, ein klei­ner Pinscher bellt pflicht­schul­dig zwei­mal und findet dann selbst, dass er seine Schul­dig­keit getan hat. Die Biber­pelz­straße hat schon den Charak­ter von Villen­ko­lo­nien. Berlin ist über­haupt eine Stadt von Villen­ko­lo­nien, die meis­ten im Westen, deshalb sind die östli­chen, so diese, sehens­wert.
Von der Trig­law-Brücke beta­chte ich den Austritt der Müggel­spree aus dem Däme­ritz­see, halb gehört er zu Fürs­ten­walde, halb zu Berlin, hinten erkenne ich Neusee­land; die Däme­ritz­straße, an deren Ende im Hessen­win­kel eine Aussichts­bank steht, setzt sich auf der ande­ren Seite in Erkner fort. Dahin hat also der Herr geblickt, dessen Ambi­ente ich hier suche.
Das Haus neben der Bank heißt “Burg­frie­den”. Es sieht auch aus wie eine Burg. Das Schönste ist, dass der Juden­stern, den an der Back­stein­seite der Erbauer hat anbrin­gen lassen, sich nicht tilgen ließ. Die Steine über­dau­ern die Menschen, denke ich, während ich den Namen lese, der jetzt am Haus Nr. 35 ausge­wie­sen ist. Das ist das Haus, in der der Herr wohnte, der den Hund hatte, der im Mai fort­lief und nicht wieder­kam. “Hier können Sie ermes­sen, wie man als Duozes­fürst in einer sozia­lis­ti­schen Gesell­schaft lebt”, hatte Werner Krauss — so hieß der Herr — gespot­tet über das schöne Haus, das ocker­gelb auch heute noch dasteht mit seinen vier Supra­por­ten, die Girlan­den zeigen oder Bänder von Früh­lings­blu­men wie von Ludwig Rich­ter. 15.000 Bücher, heißt es, hatte Krauss in diesem Haus.

Ein großer Roma­nist, sagt man, ich kann es nicht beur­tei­len, ein Kron­zeuge dieses [des vergan­ge­nen] Jahr­hun­derts, sagt ein Buch über ihn. Das könnte wohl sein. Ein Mann aus bildungs­bür­ger­li­chem Hause, in WK I hat er schon mitmar­schie­ren müssen, in WK II wieder, in der Roten Kapelle ist er ein Wider­ständ­ler gewor­den, zum Tode verur­teilt, in verschie­de­nen Gefäng­nis­sen, als es weit ehren­vol­ler war, sich in deut­schen Gefäng­nis­sen aufzu­hal­ten, als in deut­schen Univer­si­tä­ten, Profes­sor in Marburg, in Leip­zig, in Berlin, Akade­mie der Wissen­schaf­ten; die Akade­mie bewahrt den Text auf, dessent­we­gen ich jetzt hier stehe, das Haus betrachte und den Schwä­nen zusehe, die über den Däme­ritz­see ziehen. Bei der Taverna Limani, neben Dr. Lehmann’s Bäcke­rei, die aufge­ge­ben ist, nehme ich den Bus zurück nach Wilhelms­ha­gen, S‑Bahn.
Werner Krauss hatte nach­ein­an­der viele Hunde. Alle hießen Knax. Auch der, der nicht wieder­kam. Jetzt kommt er als Erin­ne­rung zurück in diesen Text. Die Vorstel­lung rührt mich. Ich habe das Gefühl, an diesem Vormit­tag etwas Nütz­li­ches getan zu haben. “Ich wollte nicht”, sagt aber Krauss, “dass irgend etwas noch aufge­grif­fen werden könnte, wie die Frag­mente meiner Gedichte, die meine Schwes­ter vor vielen Jahren aus der Asche geholt hat.”

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Andreas Stein­hoff

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