An einem Freitag nach vier

Auf dem Bahn­hof Trep­tower Park steige ich aus. Ein junger Mann, der mit mir ankommt, wird von seiner Liebs­ten abge­holt. Ich folge dem rühren­den Paar. Am Orient vorüber. Das ist eine Döner-Bude, die nur gedämpfte Sehn­sucht nach ande­ren Welten erweckt. Ich blicke die Pusch­kin­al­lee hinun­ter in den Plata­nen-Dom. Plata­nen sind schöne Bäume, aber sie haben auch etwas sehr Trau­ri­ges. Sie sehen aus wie in der Fremde. Baustelle Park-Center. Oft habe ich in der Hoch­schule ein Projekt ange­kün­digt, das heißen sollte: “Verein zur Tilgung des Wortes Center aus der deut­schen Spra­che”. Der Verein ist unge­grün­det. Die Centers wach­sen. Die bunten Alumi­nium-Fähn­chen des Auto­mark­tes Elsen­straße klir­ren im Winde, als ob wir uns hier nieder­las­sen und die Saaten fres­sen woll­ten.
Der Regen treibt mich durch die Karl-Kunger zurück auf der Suche nach einem Schirm, den ich in einer freund­li­chen Droge­rie in der Elsen­straße mit freund­li­chen Worten über das unfreund­li­che Wetter bekomme. Ich biege in die Kief­holz­straße ein. Das sind Spazier­gänge, die niemand macht. Ich wandere durch eine Alt-&Neu-Auto-Irgendwo, “Sonder­schau bei Suzuki”, an Siemens vorüber.

Der Weg führt an der Grenze zwischen Trep­tow und Neukölln entlang. Dass das eine Grenze zwischen den Deutsch­lands, eine Grenze der Welt­sys­teme gewe­sen sein soll, will man kaum noch glau­ben. Keine Unter­schiede zwischen rechts und links. Hat es sie jemals gege­ben? Wir haben uns was einre­den lassen. Wir haben geglaubt, was wir besser hätten wissen können. In der Trep­tower Straße bin ich in Neukölln. Puhl & Co., eine Fabrik feiner Seifen, geschlos­sen, es ist Frei­tag nach 4, sonst träte ich ein, verführt von dem feinen Duft nach Sauber­keit und Bade­zim­mer­ge­nüs­sen. Nach rechts in die Heidel­ber­ger Straße. Eine Mutter sagt zu ihrem Kind­chen, das sie Huck­pack trägt: “Es fängt an, meinen Rücken zu über­for­dern, dass ich dich tragen muss”. Von einem bestimm­ten Zeit­punkt an müssen wir auf unse­ren eige­nen Füßen gehen.
Vor Siemens stehen italie­ni­sche Bäume, gegen­über — schon in Neukölln — leuch­tet aus dem Hinter­hof ein blau­gel­ber Neubau, als ob die FDP hier ihr Haupt­quar­tier aufschla­gen wollte. Da wäre sie viel­leicht doch nicht so rich­tig ange­sie­delt. Trotz der engen Nach­bar­schaft zu Siemens.

Ich bin hier­herraus gewan­dert, um die Straße aufzu­su­chen, die nach Anton Menger benannt ist. Menger­zeile. Diese kleine Straße mündet auf den Schmol­ler­platz. Ich gehe um den Platz herum. Das grüne Drei­eck, das ein Rasen­stück als “geschützte Grün­an­lage nach dem Gesetz vom 3.11.1962” ausweist, verwun­dert hier durch seine komi­sche Unge­schicht­lich­keit. Die Wiese inmit­ten des Schmol­ler­plat­zes ist schon länger da als dieses Gesetz. Aber geschützt sieht sie nicht aus. Auch nach Oncken, dem libe­ra­len Histo­ri­ker, heißt hier eine Straße. Bei dieser Namens­ver­samm­lung haben sich die Namens­ge­ber etwas gedacht: alles “Kathe­der­so­zia­lis­ten”, also keine rich­ti­gen Sozia­lis­ten, aber Männer, die — solange sie auf den Kathe­dern der Hoch­schu­len stan­den — Sinn entwi­ckel­ten für die Lebens­pro­bleme derer, die jetzt hier z.B. am Schmol­ler­platz viel besser wohnen und leben als — sagen wir — 1896. Damals war gerade das BGB fertig, das Bürger­li­che Gesetz­buch, das immer noch und im Osten gerade wieder gilt, ein Jahr­hun­dert lang, Kaiser­reich, Weima­rer Repu­blik, Nazi­reich, BRD und DDR: Das BGB hat die Staats­for­men über­stan­den mit seinen hölzer­nen, unver­ständ­li­chen, aber hoch wirk­sa­men Regeln. Anton Menger, unter dessen Adresse man an der Grenze nach Neukölln gut wohnt, hat die berühm­teste Kritik am BGB geschrie­ben, noch bevor das Gesetz in Kraft getre­ten war, 1896: “Das Bürger­li­che Recht und die besitz­lo­sen Volks­klas­sen”. Lesens­wert bis heute. Aber wer liest es? Auch in den Rechts­schu­len der künf­ti­gen Profis des BGB kommt Menger kaum noch vor. Mit sozia­lis­ti­schen Rechts­auf­fas­sun­gen und mit sozia­len lässt sich schlech­ter Geld machen als mit kapi­ta­len. Das ist nun so. Da hilft kein Stra­ßen­name.

Ich gehe durch die Menger­zeile. In Wirk­lich­keit ist sie wohl nicht nach Anton Menger benannt, sondern nach seinem Bruder Carl Menger, einem Volks­wis­sen­schaft­ler, wissen­schaft­li­chen Gegner von Schmol­ler, über ihn könn­ten wir auch nach­den­ken. Jetzt bleibe ich bei Anton, ich mache mir aus Berlin meine eigene Geschichte. Ein gifti­ger Hund bellt mich an. Der Regen nimmt zu. Mein Notiz­buch ist nass.
Die Linien verwi­schen, die Buch­sta­ben verflie­ßen. Wenn es schö­ner wäre, sähe ich ein halbes Stünd­chen den Schwä­nen am Kieh­l­ufer zu. Und versuchte, an der Lohmüh­len­brü­cke die Stelle zu fiunden, an der hier drei Bezirke aufein­an­der tref­fen. Der genaue Punkt liegt wahr­schein­lich im Wasser.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Bundesarchiv_Bild_183-1985–0711-034: Senft, Gabriele deri­va­tive work: Parzi, CC BY-SA 3.0 DE, via Wiki­me­dia Commons

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