Das Scheunenviertel bei Hans Fallada

Das ganze Leben seiner Be­wohner schien sich auf der Straße abzu­spie­len, alles stand dort herum, in den unglaub­lichs­ten Aufzü­gen, schnat­terte, stritt mitein­an­der … Jüdi­sche Händ­ler im Kaftan mit langen, schmie­ri­gen, gedreh­ten Löck­chen, Klei­der über dem Arm, stri­chen durch die Menge und flüs­ter­ten bald hier, bald dort Anprei­sun­gen. Vor einem Keller­ein­gang saß ein dickes, schmie­ri­ges Weib, hatte den Kopf eines jaulen­den Pudels zwischen die Beine geklemmt und schor ihm mit einer Art Rasen­schere den Hinter­teil.

Und über­all gab es Händ­ler. Händ­ler mit heißen Würst­chen, mit “Bulet­ten” aus prima kern­fet­tem Ross­fleisch, das Stück ’nen Sech­ser, mit Schlip­sen (der janze Adel trägt meine Binder!), mit Seife und Parfüms. An einer Ecke prügel­ten sich ein paar Kerle, umringt von einem Kreis von Zuschau­ern, die, trotz­dem schon Blut floss, weiter höchst amüsiert blie­ben. Mir, dem Juris­ten­sohn, fiel zuerst das völlige Fehlen von “Blauen” auf, von Schutz­leu­ten also.

In diesen engen Gassen schien ein aller Ordnung und Gesetz­mä­ßig­keit entzo­ge­nes Leben zu herr­schen. Bisher hatte ich fest daran geglaubt, dass, was in der Luit­pold­straße galt, mit gerin­gen, durch die Stufen reich und arm beding­ten Abwei­chun­gen über­all galt. Hier sah ich nun, wie der eine Kerl sich über den zu Boden gestürz­ten Gegner warf, der kaum noch bei Besin­nung war, und ihm unter dem johlen­den Beifalls­ge­schrei der Zuschauer immer wieder den bluti­gen Kopf gegen das Pflas­ter schlug. Es wurde uns unheim­lich, wir mach­ten, dass wir davon­ka­men. Aber an der nächs­ten Stra­ßen­ecke hielt uns ein Kaftan­jude an, flüs­ternd, in einem kaum verständ­li­chen Deutsch schlug er uns vor, ihm unsere Winter­män­tel zu verkau­fen. “Zwei Mork das Stück! Und eurer Momme seggt ihr, ihr hebbt se verlo­ren…“
Dabei fing er schon an, mir meinen Mantel aufzu­knöp­fen.

Mit Mühe riss ich mich los, Fötsch und ich fingen an zu laufen. Aber das war nicht rich­tig. Denn nun fing die Jugend an, auf uns aufmerk­sam zu werden. Ein großer Junge, den ich ange­rannt hatte, rief: “Du bist woll von jestern übrig­je­blie­ben?!” und gab damit das Signal zu einer Jagd auf uns.

Wir rann­ten, was wir konn­ten, durch ein Gewirr von Gassen und Sträß­chen, ratlos, wann und wo dies einmal ein Ende nehmen würde. Eine ganze Horde stürzte schrei­end, lachend, hetzend hinter uns her. Ein großer Kerl, durch den Lärm aufmerk­sam gewor­den, schlug nach Hans Fötsch. Aber der lief weiter, nur seine Mütze fiel verlo­ren auf das Pflas­ter. Bei meinem Annä­hern zog eine Frau, die vor ihrer Tür an einem Strumpf strickte, sachte die Nadel aus der Stri­cke­rei und stach damit nach mir, mit der gleich­gül­tigs­ten Miene von der Welt. Nur ein Sprung rettete mich.

Hans Fallada: Damals bei uns daheim

Foto: Bundes­ar­chiv, Bild 183‑1987-0413–505 / P. Buch

Wiki­me­dia Commons, CC BY-SA 3.0
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4 Kommentare

  1. Seiten­zahl in Falla­das „Damals­bei­uns­da­heim (1955)
    Im 2. Kapi­tel „Prügel” (27–43) dort auf den Seiten 37–42

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