Über Weinert von Taut zu Taut

Carmen Sylva war eine Köni­gin. Mein Vater ist als ganz junger Mann von alten Männern in den Krieg geschickt worden. Als er aus diesem ersten Welt­mor­den nach Hause kam, war seine Mutter tot.
Manch­mal erzählte er von seiner Mutter, die eine Bäckers­toch­ter aus Kemberg war. Am liebs­ten las sie Bücher von Carmen Sylva. Geflüs­terte Worte, vier Bände. Briefe einer einsa­men Köni­gin. Mit offi­zi­el­lem Namen hieß sie Elisa­beth von Rumä­nien, gebo­rene Prin­zes­sin zu Wied. Dass das nicht die rich­tige Person war, einer Straße in einer klas­si­schen Arbei­ter­ge­gend den Namen zu geben, kann man also nicht sagen. Das Beispiel meiner Groß­mutter belegt es.

Heute liest hier in Prenz­l­Berg wohl niemand mehr die senti­men­ta­len Gedichte und Romane von Carmen Sylva. Lesen aber viele noch Erich Weinert, nach dem die lange, bedeu­tende Straße seit 1954 heißt? Gesam­melte Gedicht, sieben Bände, kommen davon viele vor in den Lehr­plä­nen — sagen wir — der Paul-Grasse-Ober­schule am Ende der Weinert­straße (oder ist die Schule gar schon umbe­nannt?).
Ach, die öffent­li­chen Namen. Während ich auf dem Humann­platz in der Sonne sitze, denke ich darüber nach, warum es sich bestimmte Leute heraus­neh­men dürfen, die Stadt, in der wir doch alle leben, nach ihrem eige­nen priva­ten Geschichts­ver­ständ­nis zu benen­nen.
Carl Humann z.B., das war der Mann, der in Klein­asien den Perga­mon­al­tar wieder­ge­fun­den hat, den die Deut­schen dann raub­ten und in ihrer Haupt­stadt aufstell­ten, als ob er hier­her gehörte. Niemand kennt Humann noch.
Der Platz ist schön. Die DeGeWo reno­viert die Häuser. Die ihr hier eine Zeit hinter­las­sen hat, die noch nicht die Post­mo­derne, sondern gerade erst die Moderne war. Die Weinert­straße führt mich zu Baudenk­mä­lern aus dieser Zeit, in der die Stadt begrif­fen hatte, was der Kapi­ta­lis­mus mit ihr ange­stellt hatte und mit vielen ihrer Bewoh­ner.

Zu den Bauher­ren dieser Zeit des sozia­len Baus in der ersten deut­schen Repu­blik gehört neben der DeGeWo die gewerk­schaft­li­che Gehag mit ihrem Chef Richard Linne­cke. “Wir arbei­ten mit konse­quen­ten moder­nen Archi­tek­ten”, sagte er 1926, “weil wir eine Bewe­gung von morgen, eine fort­wärts­stre­bende Bewe­gung sind und deshalb nicht eine Archi­tek­tur von gestern bauen können”: Genos­sen­schaft­li­che Soli­da­ri­tät, keine Eigen­brö­de­lei, große Anla­gen aus einem Guss.
Zu einer solchen Anlage komme ich nun: Nach­dem die Weinert­straße die Prenz­lauer Allee über­quert hat, liegt zwischen Sült‑, Blank‑, Gubitz- und Küsel­straße die Wohn­an­lage, die nach dem 1920 verstor­be­nen Gewerk­schafts­vor­sit­zen­den “Karl-Legien-Stadt” hieß.
Auch hier gäbe es eine Stra­ßen­na­men-Geschichte zu erzäh­len. Ursprüng­lich hießen in dieser Gewerk­schafts­stadt die Stra­ßen nach Gewerk­schaf­tern, dann nach Schlacht­or­ten des ersten Welt­krie­ges, wo die gestor­ben waren, die hier noch gar nicht wohnen konn­ten, sondern hinten in den Miets­häu­sern des Ausbeu­tungs­ka­pi­ta­lis­mus ihr Leben hinge­bracht hatten.

Die DDR strich die Schlacht­orte, holte die Gewerk­schaf­ter aber nicht zurück, sondern ersetzte sie durch Wider­stands­kämp­fer: So war aus Massini Flan­dern und dann Sült gewor­den, aus Jäckel Kemmel und nun Sodtke, aus Elm Ypern und Trach­ten­brodt; oben am Linden­hoe­k­weg, wo jetzt die Gehag am Ende einer schön reno­vier­ten Front ein Büro unter­hält, erlahmte der Umbe­nen­nungs­wille und so blieb dieser belgi­sche Schlacht­ort der Name für eine schöne, ruhige Straße in diesem mensch­li­chen Quar­tier.
Der Archi­tekt der beispiel­haf­ten Bauten war Bruno Taut. Mit seinem Gehag-Kolle­gen Frank Hillin­ger hat er hier das Problem gelöst, trotz hoher Wohn­dich­ten den einzel­nen Wohnun­gen und der Anlage insge­samt genug Licht und Luft zu verschaf­fen. In der Trach­ten­brodt- und in der Sodt­ke­straße erschei­nen auch die Farben wieder, für die Taut schon als sozia­lis­ti­scher Baustadt­rat von Magde­burg berühmt gewor­den war.
Fast 1.200 Wohnun­gen, fertig 1930: Da hatte die soziale, gar die sozia­lis­ti­sche Moderne schon nicht mehr viel Zeit in Deutsch­land. Taut verließ Deutsch­land schon 1932, über Moskau nach Japan und in die Türkei, in Ankara ist er 1938 gestor­ben, da war er erst 58 Jahre alt.

Dann führt die Weinert­straße vorüber an einem Zentral­bau­werk der Welt­stadt­wer­dung Berlins, nämlich an dem Pump­werk von 1909/10, das die Berli­ner Wasser-Betriebe heute noch benut­zen. Über die schräg durch das Quar­tier führende Naugar­der Straße errei­che ich zwischen Rietze- und Grell­straße ein ande­res demons­tra­ti­ves Wohnungs­bau­werk Tauts.
Die strenge Front zur Riet­ze­straße hat schon die DDR farb­ge­recht reno­viert. Wer diese Front abschrei­tet und beginnt, sie trotz aller Farbig­keit für etwas herme­tisch zu halten, der wird dann an der Hofseite entlang­ge­hen, wo Taut die Außen­straße als einen Innen­weg wieder­holt hat. Taut hat niemals sehen können, dass die Bäum­chen gewach­sen sind, die er hier hatte pflan­zen lassen und dass seine Fassa­den nun einen grünen Innen­hof umschlie­ßen.
Wer hier wohnt, hörte ich, denkt nicht so leicht ans Umzie­hen. Diesen Satz rufe ich Taut nach in das ewige Verges­sen.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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