Merkpfähle I — Von Schönholz zu Francke

Die S1 ist mir gut vertraut. Als ich in Schlach­ten­see wohnte, fuhr ich oft mit dieser Bahn; Tuchol­sky hat sie apostro­phiert, als noch die Bank­di­rek­to­ren mit ihr reis­ten von den Sommer­vil­len an der Rehwiese zu den Banken und Börsen der Innen­stadt.
Hier, im Norden, zwischen Wedding, Reini­cken­dorf und Pankow benutze ich sie selte­ner. Eine Freun­din von mir, tatsäch­lich eine Baro­nin, erin­nert sich an den Weg, der auf der West­seite der Bahn entlang führte; mit dem Fahr­rad fuhr sie ins Märki­sche Vier­tel, manch­mal konnte man die S‑Bahn über die Mauer fahren sehen, manch­mal versteckte sie sich hinter ihr. “Heute weiß ich kaum noch, wo die Mauer war”, sagt die Baro­nin, “muss mal gucken, ob ich noch Fotos habe.”
Ich gehe den ehema­li­gen östli­chen Mauer­weg entlang, der ausdrück­lich als Geh- und Fahr­rad­weg ausge­wie­sen ist. So hätte man diesen Bauwerk aus der Teilungs­zeit über­all erhal­ten sollen. Die Mauer­bra­che ich in eine gepflegte Wiese verwan­delt. Man erkennt kaum noch tren­nen­des Gelände. Dort öffnet sich auch der Fried­hof. Städ­ti­scher Fried­hof Pankow. Das Wirt­schafts­ge­bäude neben der Kapelle erinn­ret an eine länd­li­che Ausflugs­gast­stätte.

Ich studiere die Anschläge in der Schau­ta­fel. Der Inspek­tor dieses Fried­hofs scheint ein beson­ders stren­ger Mann zu sein. Nur Verbote und Drohun­gen: Das auf den Wegen zwischen den Grab­an­la­gen wach­sende Gras entfer­nen, Begräb­nis­stät­ten in einem würdi­gen Zustand erhal­ten, “es entspricht nicht der Würde der Ruhe­stätte unse­rer Verstor­be­nen, wenn Sie…” a bis f: “Verstöße gegen die Anstands­pflich­ten dieser heili­gen Stätte gegen­über müssen gebüh­rend geahn­det werden. Für den Scha­dens­er­satz müssen Fried­hofs­schän­der im Inter­esse der Allge­mein­heit haften… Befin­det sich an Ihrem Grab­stein ein grüner Aufkle­ber, sind Sie verpflich­tet, den Stein umge­hend durch ein zuge­las­se­nes Fach­un­ter­neh­men befes­ti­gen zu lassen”. Mit wem spricht der Verwal­ter da?
Über seine Texte ließe sich ein juris­ti­sches Semi­nar abhal­ten; ich erwäge das ernst­haft. Und ich über­lege auch, warum die Fried­höfe nicht priva­ti­siert werden; in Holland gibt es private Fried­höfe, es klappt alles bestens, keine Heilig­keit wird verletzt, was geht den Staat über­haupt das Heilige an? “Wenn der Staat heilig ist”, sagte mein Groß­va­ter, “dann will er meis­tens das Leben.”
Der Pankower Fried­hofs­in­spek­tor hat mir aber auch ein schö­nes Wort vermit­telt: “Merk­pfähle für die einzel­nen Grab­stät­ten können erwor­ben werden.” Merk­pfähle kann man immer gebrau­chen: Zeichen, die man aufrich­tet an Orten, Dingen, Gedan­ken, Gefüh­len, von denen man befürch­tet, dass man sie verges­sen wird.

Den ersten Merk­pfahl wollte ich am Grab von Hans Litten aufstel­len; er ist im KZ Dachau umge­kom­men, ein junger Rechts­an­walt; in einer Zeit, als so viele seiner Kolle­gen die Ehre seines Berufs­stan­des gekränkt haben, hat er ein Zeichen aufge­rich­tet, an das man sich halten kann, wenn man sich fragt, ob man in Deutsch­land mit gutem Gewis­sen Jurist sein kann.
Ich finde das Grab nicht. Auch das Grab von Ernst Busch finde ich nicht. Ich muss seine Grab­stätte nicht sehen, auch sein Haus in der Leon­hard-Frank-Straße nicht, der Mann steht mir vor Augen, seine Stimme klingt mir in den Ohren. Als ich begeis­te­rungs­fä­hig war, begeis­terte er mich.
Hinten, wo Grab­steine stehen wie die Solda­ten, ange­tre­ten zum letz­ten Gefecht, sehe ich manchen Grab­stein, bei dem ich mir was denken könnte. Dr. h c. Paul Wandel, 1905 bis 1995, “strenge Partei­rüge” 1957, ich lese in dem stren­gen Buch von Schir­de­wan “Aufstand gegen Ulbricht”, 1994: Woll­we­ber, Selb­mann, Oelß­ner, Schir­de­wan, Wandel, Ziller. Ziller nahm sich 1957 das Leben, “mit Vati ist was passiert”, Wandel, den ich hier ruhen sehe, wurde noch stell­ver­tre­ten­der Außen­mi­nis­ter, schließ­lich — bis auf den Grab­stein hinab — ehren­hal­ber promo­viert von der Humboldt-Univer­si­tät.
Ich bin auf dem Weg zum Maja­kowski­ring, in dem 1957 die Freunde von eben die Stra­ßen­seite wech­sel­ten und die Grüße nicht erwi­der­ten. Lang, lang ist es her.

Das Grab von Inge Müller finde ich dicht am Ausgang zur Leon­hard-Frank-Straße. Die Stele am Grab von Heiner Müller selbst, auf dem Doro­theen­städ­ti­schen Fried­hof, sieht ganz ähnlich aus. Der Name in stili­sier­ter Schreib­ma­schi­nen­schrift, Inge Müller war ja auch Schrift­stel­le­rin, Hein­rich-Mann-Preis zusam­men mit Heiner Müller. Später fand er es einen großen Fehler, dass er sie als Mitau­torin beim Lohn­drü­cker genannt hatte, “so kam ein Riss in unsere Bezie­hun­gen”.
In der Clara-Zetkin-Straße hatte diese Bezie­hung begon­nen. Inge hatte eine grün­ge­streifte Bluse an, der oberste Knopf stand offen. “Sie war sehr preu­ßisch erzo­gen. Manch­mal erzählte sie und ohne Hass, dass ihre Mutter sie geschla­gen hatte, “mit allem was greif­bar war”. 1966 hat sie sich selbst umge­bracht, Heiner Müller stand kurz unter Mord­ver­dacht. Bei ihrer Beer­di­gung, hier, wo ich jetzt stehe und dem Kopf­thea­ter zuhöre, hat Heiner Müller sich endgül­tig Peter Hacks zum Feind gemacht. Alle muss­ten ihm kondo­lie­ren, Hacks stol­perte und fiel vor Müller auf die Knie. Niemand durfte lachen.
Während ich auf den Hein­rich-Mann-Platz zugehe, auf diesem weiten Villen­platz unter klei­nen Eichen auf der Bank sitze, an den großen Lübe­cker Lands­mann denke und den Wolken zuschaue, habe ich das Gefühl, mitten­drin zu sein in der deut­schen Lite­ra­tur­ge­schichte. Ich weiß, dass ich weiter oben in der Homey­er­straße an dem Haus vorüber­kom­men werde, in dem Arnold Zweig gewohnt und frucht­bar weiter Lite­ra­tur diktiert hat.
Am Abend werde in in seinem klaren Buch “Bilanz der deut­schen Juden­heit” lesen. In Heiner Müllers Gesprächs-Memoi­ren “Krieg ohne Schlacht” werde ich lesen, dass auch Arnold Zweig, ebenso wie die ande­ren Lite­ra­tur-Berühmt­hei­ten, für Müllers Ausschluss aus dem Schrift­stel­ler­ver­band stimmte, weil er gesagt hatte, was der Partei nicht gefiel … die Partei … die Partei … Dass jemals eine Partei so wich­tig war, dass es jemals auf die Mitglied­schaft in einem Verein so sehr ankam…

Ich denke an dem stil­len Ort, der eigent­lich ein Denk­mal inmit­ten gebrau­chen könnte statt eines Gullis, nicht vorwurfs­voll: weiß ich, wie ich mich verhal­ten hätte? “Mir war mein Schrei­ben wich­ti­ger als meine Moral”, sagte Müller. In die Schul­bü­cher würde ich diesen Satz nicht setzen, er enthält mehr als die Wahr­heit. “Es gibt ein Menschen­recht auf Feig­heit”, gibt es; ich nehme es auch oft in Anspruch. Feig­heit ist mir weni­ger unheim­lich als Mut.
Wir wissen nicht mehr, wo die Mauer verlief. Ich Alter sehe hinüber zu dem Alten­heim, das an der Ecke Hein­rich-Mann-/Cot­ta­straße Paul Mebes und Paul Emme­rich gebaut haben. Archi­tek­to­ni­sche Vorläu­fer der Moderne, viel­mehr: selbst modern, sie halten auch jetzt noch stand.
Ihre vorbild­hafte Sied­lung in der Paul-Fran­cke-Straße wird gerade restau­riert. Eine lebhafte Baustelle. Es ist Mittag. Die Arbei­ter sitzen auf den Lade­flä­chen ihrer Lkws und bauen kleine Wälder aus Flaschen. “Der Dreck ist unsag­bar”, sagt ein Alter zum ande­ren. “Ich kriege die Fens­ter gar nicht mehr auf”, sagt der andere. Das wird sich ändern. Es wird wieder Luft herein­kom­men.
Ich biege in den Maja­kowski­ring ein. In dieser Ring­straße durch die deut­sche Geschichte stelle ich einen Merk­pfahl auf für meinen nächs­ten Bericht.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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